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OSZE – stille Kraft im Hintergrund | bpb.de

OSZE – stille Kraft im Hintergrund

Sven Bernhard Gareis Sven Gareis

/ 6 Minuten zu lesen

Im Ukraine-Konflikt bietet die OSZE ein wichtiges Verhandlungsforum und eine der wichtigsten Quellen unabhängiger Informationen. Ob die größte Regionalorganisation der Welt dauerhaft eine bedeutendere Rolle im internationalen Krisenmanagement spielen kann, bleibt angesichts ihrer zahlreichen strukturellen Schwächen offen.

OSZE-Beobachter untersuchen am 19. Mai 2015 im Osten der Ukraine ein Wohngebäude, dass in der Nacht zuvor bei Gefechten zwischen ukrainischer Armee und Separatisten zerstört wurde. (© picture alliance / AA / Alexander Ermochenko )

Sie ist mit derzeit 57 Teilnehmerstaaten (Stand Anfang 2015) die größte Regionalorganisation der Welt, der (mit Ausnahme des Kosovo) alle Staaten Europas, Eurasiens und Nordamerikas sowie elf Staaten aus Asien und Afrika angehören, und verfügt über ein ebenso breites wie erprobtes Instrumentarium für Konfliktprävention und Krisenmanagement. Dennoch steht die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE; Organization for Security and Cooperation in Europe, OSCE) eher am Rande der internationalen Friedensbemühungen.

Mit der Ukraine-Russland-Krise rückte sie im Jahr 2014 jedoch unversehens wieder ins Zentrum des weltpolitischen Geschehens. Ihre Special Monitoring Mission (SMM; Spezialbeobachtungsmission), ihr Einsatz an ausgewählten Grenzübergängen zu Russland (Gukowo und Donezk) sowie die Trilateral Contact Group (TCG, bestehend aus Vertretern Russlands, der Ukraine und der OSZE) bilden trotz vieler Einschränkungen die wichtigste internationale Präsenz im ostukrainischen Konfliktgebiet. Sie sind die zuverlässigsten unabhängigen Informationsquellen in einer unübersichtlichen Situation, in welcher alle Konfliktparteien durch Propaganda und Fehlinformationen die internationale Wahrnehmung dieses Krieges in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchen.

KSZE und Helsinki-Prozess


Die OSZE ist nicht zu verstehen ohne einen kurzen Rückblick auf ihre Anfänge in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren, als auf Initiative der Sowjetunion und im Zuge der weltweiten Entspannungspolitik zwischen Ost und West nach neuen Wegen zu einer kooperativen Sicherheitsordnung in Europa gesucht wurde. Ab dem 3. Juli 1973 trafen sich in Helsinki und Genf die Vertreter von 35 Staaten aus Europa und Nordamerika zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE), um über grundlegende Prinzipien und Verfahren zur Bedrohungsreduzierung und Konfliktvermeidung sowie zur Zusammenarbeit über die Blockgrenzen hinweg zu verhandeln. In der am 1. August 1975 unterzeichneten Schlussakte von Helsinki vereinbarten sie neben einem Katalog von zehn Prinzipien (Dekalog) vielfältige Maßnahmen in drei große Feldern ("Körben") ihrer Zusammenarbeit, die bis heute die Arbeit der OSZE in ihren drei "Dimensionen" prägen: der politisch-militärischen, der Wirtschafts- und Umwelt- sowie der menschlichen Dimension.

Quellentext"Dekalog" der leitenden Prinzipien in den Beziehungen der KSZE-Teilnehmerstaaten

I. Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte
II. Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt
III. Unverletzlichkeit der Grenzen
IV. Territoriale Integrität der Staaten
V. Friedliche Regelung von Streitfällen
VI. Nichteinmischung in innere Angelegenheiten
VII. Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, ein schließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit
VIII. Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker
IX. Zusammenarbeit zwischen den Staaten
X. Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben

Die KSZE-Schlussakte stellte dabei kein bindendes völkerrechtliches Vertragswerk dar, sondern ein Kompromisspapier, in welchem die Gegenspieler des Ost-West-Konflikts wichtige Forderungen und Sichtweisen der jeweils anderen Seite akzeptierten: Dem Lager um die Sowjetunion ging es vor allem um die Anerkennung der durch den Zweiten Weltkrieg hervorgebrachten Staatenordnung, den westlichen Staaten um grundlegende humanitäre und menschenrechtliche Standards. Doch durch das politische Bekenntnis aller Teilnehmerstaaten zu allen drei Dimensionen wurde die Schlussakte zum zentralen Referenzdokument für die Bürgerrechtsbewegungen in den Staaten des Warschauer Paktes und markiert in der Rückschau den Beginn des Zerfallsprozesses der osteuropäischen Diktaturen.

Mit der KSZE-Schlussakte und verschiedenen Folgekonferenzen (Helsinki-Prozess) wurde schrittweise ein Klima wachsenden Vertrauens zwischen den Machtblöcken geschaffen. Diese Annäherung schuf nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Lagers 1989/90 beste Voraussetzungen für die Gestaltung einer neuen kooperativen Friedensordnung in Europa.

Übergang zur OSZE


Auf die Umwälzungen in Osteuropa und der Sowjetunion reagierten die KSZE-Teilnehmerstaaten mit der am 21. November 1990 verabschiedeten "Charta von Paris für eine neues Europa". Auf dem Treffen von Helsinki 1992 erklärte sich die KSZE zu einer regionalen Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der UN-Charta und rief eine Reihe von Institutionen ins Leben, darunter das Forum für Sicherheitskooperation (FSK) oder das Konfliktverhütungszentrum (KVZ) in Wien. Am 5. und 6. Dezember 1994 beschlossen die Staats- und Regierungschefs während ihres Gipfeltreffens in Budapest die Namensänderung in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die zum 1. Januar 1995 in Kraft trat.

Wichtigstes Ziel der OSZE ist die Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität in Europa. Hierzu hat sie im Rahmen der drei oben genannten Dimensionen ein breites Instrumentarium in den Bereichen Frühwarnung, Konfliktprävention, Krisenmanagement und Konfliktnachsorge/Wiederaufbau entwickelt. Sie übernimmt vielfältige Aufgaben in Feldern wie der Abrüstung und deren Überwachung, vertrauensbildenden Maßnahmen, Aufbau demokratischer Institutionen, Wahlbeobachtungen, Polizeiausbildung, Schutz von Menschenrechten und nationalen Minderheiten, Terrorabwehr oder Umweltschutz.

Institutionelle Struktur


Auch wenn sich die OSZE als Organisation versteht, ist sie dennoch eher eine Art verstetigter Staatenkonferenz mit einem vergleichsweise kleinen institutionellen Apparat. Der wichtigste Unterschied zu klassischen internationalen Organisationen wie UNO, EU, AU oder NATO besteht darin, dass ihr kein völkerrechtlicher Vertrag zugrunde liegt, der die grundlegenden Rechte und Pflichten der Teilnehmerstaaten und deren Beziehungen zur Organisation regelt. Gleichwohl ist es den Teilnehmerstaaten gelungen, der OSZE ein institutionelles Gefüge zu geben, das ihre Arbeitsfähigkeit gewährleistet.

Wichtigstes Gremium zur Verabschiedung grundlegender politischer Richtungsentscheidungen sind die OSZE-Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Sie treten in unregelmäßigen Abständen und vergleichsweise selten zusammen. Nach dem Gipfel in Budapest 1994 gab es nur zwei weitere Treffen, in Istanbul 1999 und Astana 2010.

Einmal pro Jahr trifft sich dagegen der Ministerrat, bestehend aus den Außenministern der Teilnehmerstaaten. Entscheidungen des Rates werden einstimmig getroffen, sie sind jedoch nicht rechtlich bindend. Die Tagesarbeit der OSZE wird durch den Ständigen Rat geleistet, in dem einmal pro Woche die in Wien ansässigen OSZE-Botschafter der Teilnehmerstaaten zusammenkommen. Formal geleitet wird die Arbeit der OSZE durch den jährlich unter den Teilnehmerstaaten wechselnden Amtierenden Vorsitz (Chairperson in Office, CiO), der in seiner Arbeit durch den vorangegangenen sowie den nachfolgenden Vorsitz unterstützt wird ("Troika"). Vertreter der CiO und oberster Verwaltungsbeamter der OSZE ist ihr Generalsekretär, dem das Sekretariat in Wien sowie dessen Außenstelle in Prag unterstehen. Der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, deren Sekretariat seinen Sitz in Kopenhagen hat, gehören 323 Parlamentarier aus allen 57 Teilnehmerstaaten an.

Eine Institution mit eigenem Entscheidungsrecht in Angelegenheiten der politisch-militärischen Sicherheit ist das oben bereits erwähnte Forum für Sicherheitskooperation (FSK), das wöchentlich ebenfalls in Wien zusammenkommt. Das Forum wird dabei durch das Konfliktverhütungszentrum (KVZ) unterstützt.

Daneben haben die OSZE-Staaten drei weitere wichtige Institutionen geschaffen, die ihrer Arbeit jeweils aufgrund eigener Autorität nachgehen können. Dies ist zuerst das in Warschau angesiedelte Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office of Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR). Es deckt eine breite Spanne von Aktivitäten vom Einsatz für Toleranz und gegen Diskriminierung bis hin zur Terrorismusbekämpfung ab, ist einer breiten Öffentlichkeit jedoch vor allem durch die Organisation und Beobachtung von Wahlen sowie den Bemühungen um den Aufbau demokratischer Institutionen vor allem in Nach-Konflikt-Situationen bekannt.

1992 schufen die KSZE-Teilnehmerstaaten das in Den Haag angesiedelte Amt des Hochkommissars für die Nationalen Minderheiten (High Commissioner on National Minorities), dem einerseits eine Frühwarnfunktion für mögliche Konflikteskalationen zwischen Bevölkerungsgruppen zukommt, das andererseits aber auch den Regierungen der betroffenen Staaten beratend zur Seite steht.

1997 wurde am Wiener Hauptsitz der Organisation das Amt des Vertreters der OSZE für die Freiheit der Medien (OSCE Representative on Freedom of the Media) eingerichtet. Es beobachtet die Situation der Medien in allen Teilnehmerstaaten und mahnt gegebenenfalls die jeweiligen Regierungen zur Einhaltung der OSZE-Standards.

In den verschiedenen OSZE-Einrichtungen sind derzeit (2015) rund 550 Mitarbeiter beschäftigt, hinzu kommen circa 2350 Vertragskräfte in den 17 Feldaktivitäten der Organisation. Teilnehmerstaaten können auf freiwilliger Basis und auf eigene Rechnung der OSZE zudem zusätzliche Fachkräfte zur Verfügung stellen. Die Finanzierung der OSZE orientiert sich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Teilnehmerstaaten. Die Feldaktivitäten der OSZE werden nach dem gleichen Prinzip finanziert, doch werden den ärmeren Mitgliedern Nachlässe gewährt, die von den reicheren ausgeglichen werden. Im Haushaltsjahr 2014 betrug das Budget der OSZE 142,3 Millionen Euro, von denen der Großteil (87,5 Millionen Euro) für die Feldaktivitäten der Organisation zu Buche schlägt.

Feldaktivitäten


Die derzeit 17 Feldaktivitäten (field operations) in Südosteuropa (Balkan-Staaten), Osteuropa, Südkaukasus und Zentralasien gehören zu den wichtigsten und sichtbarsten Instrumenten der OSZE. Die Bandbreite umfasst kleinere Einrichtungen mit einem längerfristigen Beratungsauftrag bei der Implementierung von OSZE-Standards wie das Büro in Eriwan (Armenien) bis hin zu komplexen Einsätzen in Kriegs- und Konfliktgebieten wie etwa in der Ukraine. Am Beispiel der mit über 470 Angehörigen derzeit größten Operation, der Spezialbeobachtungsmission (SMM) in der Ukraine, zeigen sich aber auch Stärken und Schwächen dieser OSZE-Instrumente: Das Einverständnis des Gastlandes und das Einvernehmen aller Mitglieder des Ständigen Rates sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass eine solche Mission überhaupt eingerichtet und mit Angehörigen zahlreicher Teilnehmerstaaten besetzt werden kann. Andererseits sorgt dasselbe Konsensverfahren dafür, dass das Mandat einer solchen Mission vielfältigen Begrenzungen unterliegt. So wurde der von Deutschland und Frankreich eingebrachte Vorschlag, die SMM mit unbewaffneten Aufklärungsdrohnen zur Überwachung der ostukrainischen Konfliktgebiete auszustatten, im Herbst 2014 über Monate hinweg ergebnislos verhandelt.

Schlussbemerkung


In ihrem gesamten Aufgabenspektrum von der Prävention bis zur Konfliktnachsorge ist die OSZE zu einer unverzichtbaren Einrichtung in der europäischen Sicherheitspolitik geworden. Ihre besondere Bedeutung liegt in der umfassenden Einbeziehung aller Staaten mit ihren jeweiligen Sichtweisen auf Probleme und Konflikte. Sie hat mit ihren verschiedenen politischen Dokumenten Standards für das Verhalten von Staaten in ihren internationalen Beziehungen geschaffen. Diese können zwar nicht eingeklagt werden, an ihnen aber kann die konkrete Politik von Teilnehmerstaaten gemessen werden. Und schließlich bietet die OSZE auch dann ein Forum für gleichberechtigte Verhandlungen wenn andere Formate blockiert sind.

Fussnoten

Prof. Dr. Sven Bernhard Gareis ist seit 2011 Deutscher Stellvertretender Dekan am George C. Marshall European Center for Security Studies in Garmisch-Partenkirchen. Seit 2007 lehrt er Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster mit den Schwerpunkten Internationale Organisationen, deutsche und europäische Sicherheitspolitik und Politik Chinas. Er hat das vorliegende Heft konzipiert und seine Erstellung koordiniert. Kontakt: E-Mail Link: svengareis@web.de