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Sozialpolitische Akteure und Prozesse im Mehrebenensystem | Sozialpolitik | bpb.de

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Sozialpolitische Akteure und Prozesse im Mehrebenensystem

Prof. Dr. Benjamin Benz Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster Dr. Johannes D. Schütte Prof. Dr. Jürgen Boeckh Jürgen Boeckh / Benjamin Benz / Ernst-Ulrich Huster / Johannes D. Schütte

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In Deutschland verteilen sich die Zuständigkeiten für Sozialpolitik auf Bund, Länder und Kommunen. Darüber hinaus ist Deutschland als Mitglied der EU und internationaler Organisationen in einen überstaatlichen Rechtsrahmen eingebunden. Eine horizontale Differenzierung ergibt sich durch das Miteinander von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.

Sozialpolitik wird nicht einfach "von denen da oben" beliebig durchgesetzt, verhindert oder gestaltet. Sozialpolitik ist aber auch nicht einfach und gleichgerichtet "im Interesse aller". Gleichwohl gibt es solcherlei Vorstellungen von Sozialpolitik. Es gilt systematisch und anhand von Beispielen etwas genauer hinzusehen, wie sozialpolitische Probleme und Lösungen mit Handlungsebenen (kommunal bis international) zusammenhängen, mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren und schließlich mit Politikprozessen und darin starken bzw. schwachen Interessen.

Sozialpolitik vertikal: von lokaler bis internationaler Sozialpolitik

Staatliche Sozialpolitik meint in Deutschland zunächst die Sozialpolitik des Bundes (Zentralstaates) und die der Bundesländer (Föderalismus). Daneben sind die kreisangehörigen und kreisfreien Kommunen, die Landkreise und die überörtlichen kommunalen Zusammenschlüsse wie Landschaftsverbände bzw. Landeswohlfahrtsverbände ebenso eine Ebene der "Öffentlichen Hand" und werden daher zu Recht auch als "kommunaler Sozialstaat" bezeichnet. Eine staatliche Ebene ganz eigener Art stellt die Europäische Union dar. Sie ist weit mehr als ein Verbund souveräner Staaten und doch weniger als ein Bundesstaat. Schließlich findet Sozialpolitik auch auf internationaler Politikebene statt, insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen, etwa in der internationalen Flüchtlings- (UNHCR) oder Kinderhilfe (UNICEF).

(© bpb)

Auf supranationaler Ebene ist Deutschland – wie die meisten Länder der Welt – internationalen Organisationen und Konventionen beigetreten, die auch sozialpolitische Ziele verfolgen. Hieraus leiten sich freilich in der Regel keine individuell einklagbaren sozialpolitischen Rechtsansprüche ab, sehr wohl aber politische Pflichten der unterzeichnenden Staaten, diese Inhalte in nationales Recht umzusetzen. Internationale Vereinbarungen stellen also mindestens politische Argumentationshilfen bereit, siehe etwa den mithilfe der UN-Behindertenrechtskonvention unter dem Stichwort "Inklusion" in Deutschland betriebenen Umbau des Schulsystems. In einer immer stärker real- und finanzwirtschaftlich verwobenen Welt kann in der Vereinbarung verbindlicher internationaler Sozialstandards ein wesentliches Mittel gesehen werden, Sozialdumping zu begrenzen und sozialpolitische Ziele auch in Handelsbeziehungen zur Geltung zu bringen. Schwierig bleibt dabei bislang nicht nur die Konsens- und Kompromisssuche, sondern auch, solche (Minimal-)Standards durchzusetzen.

Von besonderer Bedeutung für ihre Mitgliedstaaten, also auch für Deutschland, ist die Sozialpolitik der Europäischen Union (EU). Inhaltlich sahen die europäischen Verträge schon seit 1951 sozialpolitische Regelungen vor. Diese sind vor allem für die Unternehmen wichtig, die in unterschiedlichen Mitgliedstaaten produzieren. Im Einzelnen beziehen sie sich auf

  • die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter,

  • Mindeststandards für den Arbeits- und Gesundheitsschutz und

  • die Sicherstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Aus den Regelungen zur Freizügigkeit am Arbeitsmarkt und dem sich daraus ableitenden Prinzip der Nichtdiskriminierung von EU-Ausländerinnen und -Ausländern ergibt sich der Druck, diese Grundsätze auch im nationalen Sozialrecht abzubilden. Darüber hinaus besteht die Notwendigkeit, die Verrechnung von Sozialleistungsansprüchen bei innereuropäischer Migration zu regeln.

Innerhalb der föderalen Ordnung der Bundesrepublik, mit ihrem verfassungsrechtlich gesicherten kommunalen Selbstverwaltungsrecht, beschränken sich die sozialpolitischen Kompetenzen von Bund und Ländern im Wesentlichen auf die Gesetzgebung. Beide sorgen über das Sozialrecht für einen einheitlichen Rechtsrahmen, unterhalten aber in der Regel keine eigene Sozialverwaltung, die Leistungen gewährt bzw. erbringt. Vielmehr sind die "parastaatlichen" Sozialversicherungsträger wie die Deutsche Rentenversicherung oder die Bundesagentur für Arbeit die bedeutendsten Träger öffentlicher Sozialleistungen und verwalten das Sozialversicherungssystem. Als Körperschaften des öffentlichen Rechts unterliegen sie zwar der staatlichen Aufsicht, haben jedoch weitgehende Befugnisse der Selbstverwaltung. Letztere wird von Vertreterinnen und Vertretern der Versicherten getragen, teils paritätisch mit Vertretern auch der Arbeitgeber (Selbstverwaltungsparlamente im Rahmen der Sozialwahl). Bei der Bundesagentur für Arbeit stellen die öffentlichen Hände ein Drittel der Mandatsträger, weil diese in besonderer Weise an der Finanzierung beteiligt sind.

In die Hoheit der Länder fallen der gesamte sozialpolitisch bedeutsame Bereich der formellen Bildung – von Schulen über Hochschulen (s. auch S. 57) bis zu Volkshochschulen – sowie die Kulturpolitik insgesamt. Sie können auch eigene Sozialleistungssysteme schaffen, etwa Landesregelungen zum Elterngeld oder Wohnungsbauprogramme. Im Fürsorgebereich können die Länder das Jugendhilfe- und Sozialhilferecht konkret ausgestalten. So gibt es zum Beispiel unterschiedliche Verwaltungsregelungen in Stadtstaaten und Flächenländern, und auch die Elternbeiträge für Kindergärten oder -krippen werden unterschiedlich geregelt.

Die konkrete Umsetzung der Jugendhilfe- (SGB VIII) und Sozialhilfegesetzgebung (SGB XII) erfolgt aber durch die Kommunen (örtlicher Träger: das Jugend- bzw. Sozialamt) sowie die Kommunalverbände als überörtlichem Träger (Landschaftsverband/Landeswohlfahrtsverband). Die Kommunen nehmen dabei die Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge im Rahmen ihrer Selbstverwaltung wahr. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen

  • kommunalen Pflichtaufgaben, zu denen sie durch Bundes- oder Landesrecht eindeutig beauftragt sind (zum Beispiel Sozialhilfe oder Wohngeld zu zahlen),

  • solchen, die in Art und Umfang nicht näher bestimmt sind (etwa die Jugendarbeit freier Träger zu fördern),

  • bzw. die keine Pflichtleistung darstellen (sogenannte freiwillige Leistungen), zum Beispiel eine konkrete Frauenberatungsstelle zu finanzieren. Im Gegensatz zum Bund oder zu den Ländern treten die Kommunen dabei zum Teil auch als Leistungserbringer sozialer Dienste etwa in Form eines städtischen Jugendzentrums auf.

Qualitätsniveau und Wirkungsgrad der sozialen Dienste lassen sich nur schwer verallgemeinernd beurteilen. Dies liegt an der rechtlichen Sonderstellung einschließlich der Gestaltungsfreiheit der Kommunen (Selbstverwaltungsrecht). Zudem sind soziale Dienste davon abhängig, ob und wie der Betroffene mitwirkt, denn Beratungstätigkeit setzt immer die Bereitschaft voraus, dass sich der Beratene darauf einlässt (Ko-Produktion, Mitwirkungsabhängigkeit, Ergebnisoffenheit). Und schließlich bestehen in Deutschland zwar zahlreiche fachlich von Konsens getragene Standards für die Durchführung sozialer Dienstleistungen, doch diese sind zum Teil nicht nachprüfbar verbindlich und erfordern einen professionell gebotenen Spielraum. So verfügen zumindest alle kreisfreien Städte und Landkreise über ein Jugendamt, das auch jeweils mit den Landschaftsverbänden/Landeswohlfahrtsverbänden die Leistungen nach SGB VIII zu erbringen bzw. zu gewährleisten hat. Wie, durch wen konkret, in welchem Umfang und in welcher Qualität das im Einzelnen geschieht, kann jedoch regional unterschiedlich und von der lokalen Jugend(amts)politik, dem Knowhow der Fachkraft und nicht zuletzt von den finanziellen Ressourcen vor Ort abhängig sein.

Über ggf. fahrlässigen oder missbräuchlichen Umgang mit Ermessensspielräumen zu wachen, ist nicht zuletzt Aufgabe der Sozial- und Verwaltungsgerichte. Es gibt sie auf allen vertikalen Ebenen des Sozialstaates, und im Zweifel kann der Europäische Gerichtshof der EU in Luxemburg oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates in Straßburg angerufen werden. Auch juristisch besteht also ein sozialpolitisches Mehrebenensystem, angefangen vom kommunalen Selbstverwaltungsrecht bis hinauf zu einem (stets umstrittenen und politisch auszugestaltenden) System europäischer und international anerkannter sozialer Staatsbürger- und Menschenrechte.

Dabei findet sich auch in der Sozialpolitik einschlägiges sogenanntes Richterrecht, das nicht durch Parlamente beschlossen, sondern von Gerichten auf Basis juristischer Grundsätze entwickelt wird. So liefert der Text des Grundgesetzes keine Bestimmung, die eine Fürsorgeleistung im Falle von Verarmung vorschreibt. Aus den Artikeln 1 und 20 GG wurde aber höchstrichterlich ein Grundrecht auf Fürsorge (Sozialhilfe) im Falle der Bedürftigkeit abgeleitet, mit Rechtsfolgen für die einfache Gesetzgebung auf diesem Gebiet.

Sozialpolitik in der EU (© bpb, 2009, aktualisiert)

Sozialpolitik: Ebenen übergreifend … und dabei stets konkret vor Ort

Sozialpolitik in Deutschland ist dadurch geprägt, dass in ihr das Handeln verschiedener Ebenen und Akteure de facto verbunden wirkt, dieses Handeln aber nicht immer auch systematisch aufeinander bezogen wird. Die kommunale, landesseitige, bundesweite, europäische und internationale Sozialpolitik sind nicht in jedem Fall aufeinander abgestimmt.

Es werden immer wieder Lücken sichtbar (derzeit bei pflegebedürftigen, demenzkranken Menschen). Es kommt zu Fällen, die zwischen Leistungssystemen pendeln bzw. aus einem herausgedrängt und in ein anderes eingeführt werden, dann schließlich aber wieder beim ersten landen (sogenannte Drehtüreffekte, etwa bei psychisch kranken Wohnungslosen). Auch gibt es Konflikte zwischen Kostenträgern (etwa zwischen ambulanter und stationärer Versorgung pflegebedürftiger und gleichzeitig kranker oder behinderter Menschen; oder zwischen dem örtlichem und dem überörtlichem Träger einer Sozialleistung). Bisweilen sitzen Hilfebedürftige (etwa junge Erwachsene) auch zwischen allen Stühlen: zwischen der kommunal geprägten Jugendhilfe für junge Volljährige und der Sozialhilfe für (junge) Wohnungslose sowie der maßgeblich durch die Bundesagentur für Arbeit bestimmten Arbeitsverwaltung für (junge) Erwerbslose.

Auch innerhalb eines Leistungsbereiches sind meist gleich mehrere Ebenen des Sozialstaates im Spiel. Ein Beispiel hierfür ist die Bildung: Seit 2015 finanziert der Bund allein (zuvor zusammen mit den Ländern) das Sozialleistungssystem der Ausbildungs- und Studienförderung (BAföG). Inhaltlich aber bleibt Bildung weiter Ländersache, während die Schulinfrastruktur vor Ort in die Verantwortung der Kommunen fällt. Ein anderes Beispiel: Das Asylrecht bestimmen Bund und Länder gemeinsam. Über die Unterkunft in Heimen oder Privatwohnungen und die soziale Betreuung von Asyl suchenden Menschen befinden aber die Kommunen.

Dabei gibt es für die Verankerung sozialpolitischer Zuständigkeiten auf bestimmten politischen Ebenen (von der Gemeinde bis zu den Vereinten Nationen) jeweils gewichtige Pro- und Contra-Argumente. Sprechen für eine Zuständigkeit vor Ort die Bürgernähe und mitunter lokal unterschiedliche Bedingungen, kann eine Regelung auf höherer Ebene etwa mit dem Verfassungsziel der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" (Artikel 72 Abs. 2 GG) begründet werden oder mit der Absicht, ein Sozialdumping sich gegenseitig "herunterkonkurrierender" dezentraler Sozialordnungen zu vermeiden.

Allerdings fungieren die Kommunen seit jeher als "Ausfallbürge". Denn soziale Probleme treten immer konkret vor Ort in Erscheinung, auch wenn sie weder örtlich verursacht, noch dort hinreichend zu lösen sind. Die örtliche Bevölkerung, Verwaltung und Politik können sich ihnen auch weniger leicht entziehen, sie nur ggf. räumlich zu verdrängen versuchen (etwa Drogenszenen und Straßenprostitution aus Innenstadtbereichen), als es der Landes-, Bundes- oder Europapolitik möglich ist. Diese kann sich wie bei der Armut, bei der Kinderbetreuung und der Pflege lange taub stellen und stumm verhalten oder soziale Probleme bestreiten – bis es gelingt, hinreichend viel Druck auf die Politik dieser Ebene auszuüben.

Ein Beispiel sind die möglichen Folgen des europäischen Freizügigkeitsrecht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das greift, wenn ein neues Mitgliedsland der EU beigetreten ist: In den Jahren 2013 und 2014 (ab da galt – nach dem EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens 2007 – die volle Freizügigkeit in Deutschland auch für bulgarische und rumänische EU-Bürgerinnen und EU-Bürger) gelangten auf einmal insbesondere die Städte Dortmund und Duisburg in die Schlagzeilen.

Dort hatten zahlreiche Zuwandernde aus Rumänien in einem Duisburger Wohnblock eine Bleibe gefunden, und es waren mehrere Hundert Menschen ohne Sozialleistungsansprüche in Deutschland aus einem bulgarischen Elendsviertel in die Dortmunder Nordstadt gezogen. Beide Städte sahen sich mit einem Problem konfrontiert, das in der Sozialpolitik der EU bislang un(ein)gelöst ist, der Nichtexistenz eines europaweit geltenden (wenn auch je national auszugestaltenden) Mindestsicherungsrechts. Bis dieses Problem auf den Ebenen, die ihm substanziell begegnen können – die nationale und die EU-Ebene – gelöst ist, wird es vermutlich dauern. Solange werden die Stadtverwaltungen und nicht staatlichen karitativen Initiativen in Duisburg und Dortmund auf sich selbst gestellt bleiben und Lösungen finden müssen, auch aus Sorge um den sozialen Frieden in der Stadt, da stets am unteren Ende sozialer Hierarchie um Lebenschancen konkurriert wird. Allzu leicht lassen sich hier von interessierter(fremdenfeindlicher) Seite Betroffene eines sozialen Problems zu Verursachern umetikettieren.

Als selbstständig Gewerbetreibende oder völlig mittellos einwandernde Menschen betreffen die sozialpolitischen EU-Regelungen zum Schutz abhängig Beschäftigter – etwa das Recht, erworbene Ansprüche im Sozialrecht in andere Länder der EU mitzunehmen – die für Duisburg und Dortmund genannten Personengruppen vielfach nicht. Das sozialpolitisch unterfütterte Freizügigkeitsrecht in der EU ist an den Arbeitnehmerstatus gebunden. EU-Bürgern, die "lediglich" vor unerträglichen Lebensbedingungen geflohen sind, kann – jüngst durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes bestätigt – Sozialhilfe im Zuwanderungsland verweigert werden. Hier zeigen sich Lücken im europäischen Sozialmodell.

QuellentextLeben im Münchner Ackermannbogen

Es sind nur ein paar Schritte. Von seinem Platz im Café blickt Professor Klaus Richter zu den Neubauten, dort drüben hinter den Baumkronen liegt seine Wohnung. Die Reihenhäuser waren schon verkauft, aber dieses Appartement noch zu haben, individuelle Einrichtung auf 150 Quadratmetern, der Architekt gestaltete es nach den Wünschen Richters und seiner Frau. Die Gebäude hier im Ackermannbogen sehen einheitlich modern aus, doch das ist nur die Fassade: Es sind gerade die Unterschiede, die diese Siedlung im Münchner Norden ausmachen. […] Im Ackermannbogen will die Stadt die Einkommensschichten mischen, die in Deutschland zunehmend auseinanderstreben […]. Und so fahren im Ackermannbogen morgens blank geputzte Audis und BMWs aus den Garagen, aber auch klapprige alte Volkswagen. […]

[…] Richter, Professor für Holzwissenschaft […] [und] seine Frau Marlene Austermühle […] besitzen ein Haus bei Zürich und haben die Rente aus seiner Schweizer Tätigkeit in das Münchner Appartement gesteckt. Bevor sie kürzlich nach Rhodos in Urlaub flogen, haben sie vorher nicht überlegt, ob sie sich das leisten können. Ein Universitätsprofessor verdient in Bayern je nach Besoldungsgruppe zwischen 5000 und mehr als 6000 Euro brutto im Monat, gegebenenfalls plus Zulagen. Das ist ordentlich, deutsche Arbeitnehmer verdienen im Schnitt 3500 Euro. […] Während einfache Tätigkeiten durch Software und Maschinen ersetzt werden, sind spezialisierte Berufe gefragt.

[…] Richter und seine Frau […] haben stets viel dafür getan, dass sie sich keine größeren Existenzsorgen machen müssen. Richter war der erste in seiner Familie, der studierte. […] Nur mit […] Mobilität ging es beruflich aufwärts, schließlich landete er bei einer Hochschule in Zürich – und erhielt vor drei Jahren, mit 54 Jahren, den Ruf nach München. […]

Ute Haas, 42, sitzt barfuß an ihrem Wohnzimmertisch, vor ihr Gurken und Kohlrabi fürs Abendessen der Kinder. Nur fehlen die Kinder, sechs und neun. Sie spielen draußen, irgendwo, Ute Haas macht sich keine Sorgen, das ist ja das Schöne im Ackermannbogen. Aber […] sie müssen hier vielleicht weg, […] die Wohnung der Familie Haas wird teurer. [Sie wohnen in einer Wohnung des so genannten Münchner Modells […], mit dem die Stadt Familien moderate Mieten sichern will. Dazu vergibt sie Grundstücke günstig an Investoren, die sie im Gegenzug verpflichtet, während der ersten fünf Jahre günstig zu vermieten – und danach "mieterfreundlich". Was damit gemeint ist, darum streiten Bewohner des Ackermannbogens schon länger auch vor Gericht mit der Firma […].

[…] Ute Haas zeigt aus dem Wohnzimmerfenster, da drüben ist die Hoffnung, bei dem gelben Kran. Dort sollen [im Ackermannbogen] neue Genossenschaftswohnungen entstehen. Ob sie eine bekommen, weiß niemand. Früher, bevor sie die Kinder hatten, wohnten sie im Glockenbachviertel mitten in der Stadt, dann an der Isar. Heute könnten sie sich das nicht mehr leisten. Wie bei vielen in Deutschland machen sich ab 40 große finanzielle Unterschiede bemerkbar: Wer erbt? Wer hatte in den vergangenen Jahren Geld zum Sparen übrig? Familie Haas hatte das kaum.

Der Mann hat gerade die Wohnung verlassen, als freiberuflicher Kameramann kommen seine Jobs oft spontan, wie viele Tage er arbeitet, schwankt stark. "Es gibt halt Praktikanten, die machen den Job umsonst", sagt sie. Die Diplompädagogin hat mehr als zehn Jahre in einem Kulturverein für Kinder und Jugendliche gearbeitet, zuletzt 30 Stunden […]. Freiberufliche Jobs sind unsicher, soziale schlecht bezahlt. "Wir lieben unsere Arbeit", sagt Ute Haas trotzig. Sie will nichts anderes machen. Nur kann es ganz schön wackeln, wenn einer den Job verliert. So wie sie Anfang des Jahres. "Mit dem Arbeitslosengeld reicht es nicht", sagt sie.

Haas bekam nur Vollzeitjobs angeboten, aber die kann sie nicht machen, weil die Jobs ihres Mannes nicht planbar sind und der Hort keine 40 Stunden abdeckt. "Für jemanden wie sie gibt es nichts", sagte die Frau in der Arbeitsagentur. Familien könnte es leichter gemacht werden, findet Ute Haas. Bei den Arbeitszeiten, aber auch beim Geld: Während kinderlose Paare vom Ehegattensplitting profitieren, wiegen die Leistungen für Familien meist kaum die zusätzlichen Kosten auf. Ein paar Tage nach dem Gespräch findet sie einen Job, 20 Stunden die Woche in der Flüchtlingsarbeit. Es ist noch einmal gut gegangen.

Alexander Hagelüken / Pia Ratzesberger, "Ungleiche Nachbarn", in: Süddeutsche Zeitung vom 4. Juli 2015

Wer bestellt, bezahlt? Das Konnexitätsprinzip

Lücken beklagen Kommunen aber nicht nur bezogen auf das nationale und europäische Sozialrecht. Als Schutz gegen eine nicht refinanzierte Indienstnahme durch die Länder und den Bundesgesetzgeber rufen sie immer wieder nach Durchsetzung des "Konnexitätsprinzips".

QuellentextDas Konnexitätsprinzip

"Wer bestellt, der bezahlt." Da der Bund für den größten Teil der Gesetzgebung verantwortlich ist, enthält dessen Gesetzgebung auch Leistungen, die der Bund zwar rechtlich bindend festlegt, die aber die Länder oder Gemeinden bezahlen müssen. ln Artikel 85, Absatz 1 GG ist allerdings festgehalten, dass Gemeinden und Gemeindeverbänden keine Aufgaben durch Bundesgesetz übertragen werden dürfen, da sie anders als die Länder bei der Gesetzgebung im Bundesrat nicht beteiligt sind. Eine Aufgabenübertragung an Gemeinden und Gemeindeverbände ist Sache der Länder. Diese haben sich gegenüber ihren Gemeinden auf das sogenannte Konnexitätsprinzip verpflichtet. Es besagt: Wenn durch die Aufgabenübertragung des Landes an die Gemeinden Kosten entstehen, muss sich das Land finanziell engagieren. Im Verhältnis Bund-Länder sind die Kostenfolgen der Bundesgesetze anders geregelt. Da sie im Bundesrat ohne die Zustimmung der Länder nicht zustande kommen können, ist eine zusätzliche Verpflichtung des Bundes zur Kostenübernahme nicht erforderlich. Sie ist Gegenstand der Verhandlungen im Bundesrat.

Roland Sturm, Informationen zur politischen Bildung 318

In Nordrhein-Westfalen, wo – wie inzwischen in allen Flächenländern – dieses Prinzip zwischen dem Land und seinen Gemeinden gilt, hat 2010 der dortige Landesverfassungsgerichtshof das Land zur Erstattung erheblicher Kosten verurteilt. Diese waren den Kommunen mit dem Kinderförderungsgesetz des Landes entstanden, das die Gemeinden zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren verpflichtete. Geholfen hat diese Entscheidung den vielerorts überschuldeten Gemeinden sicherlich. Verhindern konnte dies die weitere Verarmung vieler Städte und Gemeinden – insbesondere im Ruhrgebiet – jedoch nicht. Während es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen etwa im Münsterland durchaus Städte und Gemeinden gibt, deren Einnahmen die kommunalen Ausgaben decken, und insbesondere im Süden Deutschlands Gemeinden substanzielle Rücklagen haben, verarmen in NRW am stärksten die von Deindustrialisierung (Kohle- und Stahlkrise) betroffenen Großstädte des Ruhrgebiets und der angrenzenden Gebiete Bergisches Land und nördliches Sauerland. Vielen von ihnen droht trotz Wirtschaftswachstum und Beschäftigungshöchststand in der Bundesrepublik und trotz kommunalem Finanzausgleich und Hilfen des Landes in den nächsten Jahren die Zahlungsunfähigkeit. Dann aber geht hier der Sozialpolitik genau der "Notnagel" verloren, auf den sie als Träger des letzten Netzes (Sozialhilfe) im Zweifel immer setzen konnte: der kommunale Sozialstaat. Öffentliche Armut hat jedoch ihren Preis, für reiche und arme Privathaushalte unterschiedlich, aber für beide. So kann gegenwärtig das wohlhabende Düsseldorf seinen Familien Kindergartenbeiträge erlassen, während das hoch verschuldete Gelsenkirchen, das von der weiteren Abwanderung gutverdienender Familien ins nahe Münsterland bedroht ist, von der Finanzaufsicht, in dem Fall der Bezirksregierung, gegen den erklärten Willen und Beschluss des Stadtrates gezwungen wird, mögliche Kindergartenbeiträge maximal auszuschöpfen.

Zwischen Rekordeinnahmen, "schwarzer Null" und "Schuldenbremse"

Angesichts von Wirtschaftswachstum und Beschäftigungshöchststand steht im Prinzip für Sozialpolitik in Deutschland derzeit so viel Geld zur Verfügung wie noch nie. Der Bundeshaushalt 2014 kam erstmals seit Jahrzehnten – und ein Jahr früher als geplant – ohne Neuverschuldung aus.

Gleichwohl können sozialpolitische Risiken sich dergestalt anhäufen, dass sie (in doppeltem Wortsinn) bedrohlich wirken. So ist nicht auszuschließen, dass eine fortbestehende kommunale Haushaltsnot mit einer neuen Runde der "Konsolidierung" (des Abbaus) landes- und bundesseitiger Sozialpolitik zusammenfällt, sobald die Zinsen steigen, die Konjunktur lahmt und die sogenannte Schuldenbremse ab 2020 bei Bund und Ländern zum Tragen kommt. Denn seit dem 1. Januar 2011 gilt die neue Schuldenregel des Artikels 109 GG, der im Rahmen der Föderalismuskommission II reformiert wurde. Danach müssen Bund und Länder einen im Grundsatz ausgeglichenen Haushalt aufweisen (Externer Link: www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themeny/Oeffentliche_Finanzen/Schuldenbremse/
schuldenbremse.html
). In diesem Fall wird die sozialpolitische Agenda wieder besonders hart umkämpft sein, und zwar von einer Vielzahl von Akteuren, die an der Sozialpolitik mitwirken, "Stakeholder". Dies gilt umso mehr, als mit Sozialpolitik Wahlen gewonnen und verloren werden, mit Sozialpolitik massive Interessen von Zahlern und Empfängern, Sozialleistungsträgern und -erbringern berührt sind. Zu diesen Interessenträgern zählen längst nicht nur Bürgerinnen und Bürger sowie die nationalen politischen und Verwaltungsebenen des Sozialstaates, sondern auch die supranationalen Institutionen.

Sozialpolitik horizontal: frei-gemeinnützig, (para)staatlich, betrieblich

Im internationalen Vergleich ist die Sozialpolitik in Deutschland in hohem Maße ausgebaut und ausdifferenziert. Dies liegt unter anderem daran, dass sie nicht nur von staatlicher Seite betrieben wird. Neben der benannten vertikalen Gliederung sozialpolitischer Ebenen von der Gemeinde bis hin zur internationalen Ebene besteht auch eine horizontale Gliederung. Der deutsche Sozialstaat ist doppelt dezentral organisiert, was sich auch als zugleich vertikales und horizontales Mehrebenensystem beschreiben lässt.

Neben den (über- und sub-)staatlichen Ebenen wurden bereits die parastaatlichen – durch Arbeitnehmer- und/oder Arbeitgebervertreter mitbestimmten –, öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungsträger angesprochen. Hinzu kommt die tarifliche und betriebliche Sozialpolitik. Hier verhandeln Vertreter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite Streitfragen vom Branchenmindestlohn und familienbezogenen Lohnzuschlägen bis hin zu Frühverrentungsprogrammen und Sozialplänen. Auch gibt es sozialpolitische Initiativen, etwa wenn ein Unternehmen Werkswohnungen und betriebliche Sozialleistungen anbietet. In der Jugend- und Altenhilfe sowie in der Unterstützung "sozialer Randgruppen" sind zahlreiche gesellschaftliche Initiativen tätig. Sie kümmern sich um verarmte, behinderte, drogensüchtige Menschen sowie um Flüchtlinge, straffällig Gewordene und Wohnungslose. Diese gesellschaftlichen Initiativen sind teils vorstaatlich entstanden, teils agieren sie neben staatlicher Sozialpolitik. Die meisten von ihnen sind den großen konfessionell oder weltanschaulich motivierten Wohlfahrtsverbänden zuzuordnen, die in alten und neueren sozialen Bewegungen ihren Ursprung haben:

  • Konfessionell gebunden sind Diakonie, Caritas, jüdische (Zentralwohlfahrtsstelle) und inzwischen auch muslimische Wohltätigkeit.

  • Weltanschaulich gebunden sind Arbeiterwohlfahrt, Rotes Kreuz und meist im Paritätischen Wohlfahrtsverband organisierte Selbsthilfeinitiativen.

Sowohl unternehmerische und der Arbeitnehmerbewegung zugehörige Sozialpolitik als auch frei-gemeinnützige Selbsthilfe und Wohlfahrtspflege spielen dabei auf den oben skizzierten vertikalen Ebenen der Sozialpolitik zum Teil eine wesentliche (und ausdrücklich nicht staatliche) Rolle:

Insbesondere das Verhältnis staatlicher (im weiteren Sinne) und frei-gemeinnütziger Wohlfahrt bzw. Sozialpolitik scheint dabei erklärungsbedürftig.

Scheidung und Verhältnis öffentlicher und freigemeinnütziger Wohlfahrt

Verständlich wird das Verhältnis öffentlicher (staatlicher) und frei-gemeinnütziger Wohlfahrt in den Bestimmungen der Fürsorgegesetze zur Jugend- und zur Sozialhilfe. Letztere ist nicht nur bei der monetären Sicherung von Hilfebedürftigen im Falle voller Erwerbsunfähigkeit oder im Alter, sondern insbesondere auch in der auf "soziale Randgruppen" bezogenen Sozialpolitik von zentraler Bedeutung.

So soll nach § 5 SGB XII (Sozialhilfe) die staatliche Sozialhilfepolitik die Religionsgemeinschaften und freien Wohlfahrtsverbände in diesem Rechtsgebiet weder in ihrer eigenen Tätigkeit einschränken, noch gegen ihren Willen instrumentalisieren, noch ihnen die Selbstbestimmung über Ziel und Durchführung eigener Maßnahmen nehmen. Vielmehr sei mit ihnen zusammenzuarbeiten, sie seien zu fördern und es sei ihnen (ausgenommen Geldleistungen) sogar ein Vorrang in der Hilfegewährung zuzugestehen. Dieses Beziehungsverhältnis stützt sich auf das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, wonach den kleineren Einheiten – also etwa den Wohlfahrtsverbänden – Vorrang vor kommunalen bzw. staatlichen zu gewähren ist. In Deutschland haben sich bei den sozialen Dienstleistungen große Wohlfahrtsverbände herausgebildet, die zusammen mit den Kommunen bzw. den Ländern ihre Aktionsbereiche untereinander abstecken. Diese Form des Interessenabgleichs bezeichnet man als Korporatismus.

Eine ganz ähnliche Verhältnisbestimmung findet sich auch im anderen großen Fürsorgerechtszweig, der Jugendhilfe (§ 74 SGB VIII) – hier bezogen auf die öffentliche Jugendhilfe (insbesondere das Jugendamt) und die freien Träger (Jugendverbände). Danach sollen die öffentlichen Träger die freiwillige Tätigkeit auf dem Gebiet der Jugendhilfe "anregen; sie sollen sie fördern", und die "Förderung […] soll auch Mittel für die Fortbildung der haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeiter sowie im Bereich der Jugendarbeit Mittel für die Errichtung und Unterhaltung von Jugendfreizeit- und Jugendbildungsstätten einschließen." (§ 74 Absatz 6) Zum Teil finden sich sogar einschlägige Verfassungsbestimmungen, so im Absatz 3 des Artikels 6 (Pflege und Förderung der Jugend) der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen: "Das Mitwirkungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie der freien Wohlfahrtspflege in den Angelegenheiten der Familienpflege und Jugendfürsorge bleibt gewährleistet und ist zu fördern." Eine Tätigkeit im Jugendhilfeausschuss einer Kommune garantiert freien Trägern der Jugend- und Wohlfahrtspflege sowie sachkundigen Bürgerinnen bzw. Bürgern Mitentscheidungsrechte, wie sie außerhalb der Jugendhilfe kein anderes Rechtsgebiet einräumt. Der Jugendhilfeausschuss ergänzt und bestimmt die kommunale Jugendpolitik des Stadt-/Gemeinderates und die Verwaltungspraxis des Jugendamtes mit.

Handlungsebenen im Sozialstaat anhand von Beispielen (© Nach Benjamin Benz / Günter Rieger. Politikwissenschaft für die Soziale Arbeit, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 100)

Verschränkung öffentlicher und frei-gemeinnütziger Wohlfahrt

Gleichwohl verwischt die Verschränkung öffentlicher und frei-gemeinnütziger Träger sozialer Leistungen und Dienste nicht unterschiedliche Kompetenzen und Interessen. Über den Haushalt einer Stadt bestimmt der Stadt-/Gemeinderat. Mit welchen Zielen und Konzepten und auf welchen sozialpolitischen Feldern das Diakonische Werk seine oder eine Selbsthilfegruppe ihre Angebote forciert, obliegt ihm oder ihr selbst. Die öffentliche Hand hat diese Selbstständigkeit zu achten und zu unterstützen.

Doch es gibt auch Tendenzen die Autonomie der freien Träger zu beschränken: Beim Selbstkostendeckungsprinzip, das bis zum Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes Anfang 1993 galt, wurden die entstandenen Kosten auf der Basis der jeweils vom Träger nachgewiesenen Kostenstruktur nachträglich vom öffentlichen Träger übernommen. Über Projekt- und Kontraktfinanzierung als Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip verfolgt die öffentliche Hand seither immer stärker bzw. in geänderter Form und wirkungsvoll eigene Steuerungsinteressen (Transparenz, Kostenreduzierung) gegenüber freien Trägern. Diese versuchen dagegen, sich etwa über Spenden und sonstige Drittmittel Autonomiespielräume gegenüber der öffentlichen Hand zu erhalten oder zu schaffen. Mittelfristig werden hier aber dominierende Finanzierungsregelungen, Fachdiskurse und "sozialpolitische Großwetterlagen" (Leitbilder) relevant und prägend, bis in einzelne Mikropolitiken und Selbstverständnisse der Träger sozialer Dienste hinein.

"Vermarktlichung" sozialer Dienste

Inzwischen unterliegt die Beziehung von öffentlicher und frei-gemeinnütziger Wohlfahrt einer fortschreitenden sozialpolitisch betriebenen "Vermarktlichung", welche die anhand der Gesetzestexte skizzierte klassische Verhältnisbestimmung in Frage stellt. So gestaltet die (im weiteren Sinne) staatliche Sozialpolitik das Verhältnis förderpolitisch immer öfter in ein "Auftraggeber-Dienstleister-Verhältnis" um. Das Prinzip der Selbstkostendeckung wird abgelöst durch Abrechnung von Fachleistungsstunden bzw. durch eine Kontraktfinanzierung. Damit zusammenhängend ziehen sich freie Träger zum Teil auf das Angebot allein (para)staatlich (fast vollständig) refinanzierter Dienste zurück.

Eine solche auf Vermarktlichung zielende Sozialpolitik der öffentlichen Hand und Verbandspolitik betrifft allerdings nicht nur die Jugend- und allgemeine Wohlfahrtspflege. Auch bei freien Berufen – etwa Ärzten/Ärztinnen und Apothekerinnen und Apothekern – gibt es Beispiele zunehmender Wettbewerbsorientierung, welche die hergebrachte korporatistische Sozialpolitik teils überformt oder ablöst. Diese Wettbewerbs­orientierung wird besonders deutlich

  • in der "Neuen Steuerung" von Kommunalverwaltungen seit den 1990er-Jahren (die Gemeinde als Konzern),

  • in der Einführung pauschaler Pflegesätze durch die Gesetzliche Pflegeversicherung (ab 1995) und

  • in mittlerweile zahlreichen Gesetzen zur Stärkung des Wettbewerbes im Gesundheitswesen.

Im Ergebnis werden inzwischen Krankenhäuser zu ungefähr je einem Drittel öffentlich getragen, frei-gemeinnützig unterhalten bzw. gewinnwirtschaftlich geführt (und damit werden Patienten zu Kunden). Ähnliche Entwicklungen vollziehen sich vom ambulanten und stationären Pflegesektor bis hin zum Betrieb von Asylunterkünften durch gewinnorientierte Firmen wie European Home Care. Bei all dem handelt es sich freilich um Quasi-Märkte, also Märkte, in denen die Zahlungsfähigkeit oder -bereitschaft der Nachfrageseite erst sozialpolitisch hergestellt wird und damit auch besonderer sozialpolitischer Gestaltungsverantwortung unterliegt.

Karikatur (© Jan Tomaschoff/Baaske Cartoons)

Die Wohlfahrtsverbände, privatgewerbliche wie Pflegedienste und freiberufliche Dienstleister wie Ärzte und Apotheker stehen zu den öffentlichen Kostenträgern dabei in leistungsvertraglich geregelten Beziehungen. Sie bilden den operativen Unterbau des sozialen Sicherungssystems, der über Sach- und Dienstleistungen die erforderliche soziale Infrastruktur bereitstellt.

Sozialpolitische "Endverbraucher", soziale Bewegungen und Parteien als sozialpolitische Akteure

Schließlich sind auch die Bürgerinnen und Bürger sozialpolitisch relevante Akteure – sei es als Menschen, die auf Sozialpolitik angewiesen sind und diese finanzierende Menschen, sei es als Wählerinnen und Wähler, als Mitglieder von Gesetzlichen Kassen (ausgestattet mit dem Recht zur Teilnahme an Sozialwahlen für deren Selbstverwaltungsgremien) oder als Mitglieder von Parteien, Verbänden und sozialen Bewegungen. Dabei wird nicht nur zwischen Regierung und Opposition im Parlament und nicht nur zwischen einzelnen Parteien, sondern auch innerhalb der einzelnen Parteien fortlaufend um sozialpolitische Positionen gerungen. Sozialpolitische Orientierungen von Parteien speisen sich dabei – ebenso wie etwa die der Wohlfahrtsverbände – aus sozialen Bewegungen, mit denen sie verbunden und aus denen sie in der Regel auch hervorgegangen sind.

Ein Beispiel (bezogen auf sozialpolitische Interessen, Ebenen und Akteure) liefert hier die Hilfe für behinderte Menschen. Inspiriert auch durch Vorbilder in den USA bildete sich in Deutschland an verschiedenen Orten, etwa in Frankfurt am Main und in Dortmund, in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Behindertenrechtsbewegung, die in Zusammenhang mit ähnlichen internationalen Initiativen über Landes- und Kontinentalgrenzen hinweg die Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen vorantrieb. Diese wiederum entfaltet heute Wirkungen bis hinein in die Grundschule im Quartier, wie sich etwa dem neuen Landesrecht zur inklusiven Beschulung in Nordrhein-Westfalen entnehmen lässt. Auf der Mittelebene zwischen Gemeinden (die sie tragen) und Bundesländern angesiedelt, sind die Landschaftsverbände (beispielsweise Nordrhein-Westfalen) bzw. Landeswohlfahrtsverbände (etwa Hessen) als überörtliche Träger der Sozialhilfe wichtige öffentliche Anbieter sozialer Dienste für Menschen mit Behinderungen. Die Kritik an den unzureichenden Angeboten der öffentlichen Hand und der freien Wohlfahrtsverbände und an den fehlenden Mitbestimmungsstrukturen in diesen Angeboten führte 1958 zur Gründung der Lebenshilfe e. V. als Verband von Angehörigen behinderter Menschen.

Wie die Wohlfahrtsverbände ist auch die Lebenshilfe heute eine von Ort zu Ort unterschiedlich starke und bis hinein in die internationale Ebene vernetzte Akteurin, die behindertenpolitische Interessen vertritt und konkrete Einrichtungen und Dienste bereitstellt. Im Rahmen der oben angesprochenen Behindertenrechts- bzw. Selbstbestimmt-Leben-Bewegung wehrten sich nun aber auch Menschen mit Behinderungen selbst gegen die – teils tatsächliche, teils vermeintliche – Interessenvertretung und partizipative Angebotsgestaltung von Eltern-, Wohlfahrts- und Landschaftsverbänden. Seit der Durchsetzung des sogenannten persönlichen Budgets unter der ersten rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2001 treten sie nun vermehrt als Auftrag- und Arbeitgeber und weniger als Hilfeempfängerinnen bzw. Hilfeempfänger sozialpolitisch in Erscheinung. Durch die freiwillige Inanspruchnahme über Gutscheine oder Geldzahlungen direkt an die Leistungsberechtigten wird das bislang prägende sogenannte sozialrechtliche Dreiecksverhältnis von Sozialleistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigtem außer Kraft gesetzt: Der von Behinderung betroffene Mensch wird, sozialpolitisch subventioniert, zum Auftraggeber am Markt sozialer Dienstleistungen.

Caritas und Diakonie im europäischen Mehrebenensystem (© bpb, nach Germo Zimmermann/Jürgen Boeckh, Politische Repräsentation schwacher sozialer Interessen, in: Ernst Ulrich Huster / Jürgen Boeckh / Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, 2. Aufl., Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 691)

QuellentextPersönliche Assistenz

[…] Nancy Poser hat Atrophie, Muskelschwund. Seit sie zehn Jahre alt ist, sitzt sie im Rollstuhl. Dennoch hat sie studiert, Jura, ist heute Richterin am Amtsgericht Trier. Sie fährt Auto, hat mehrere Ehrenämter, spielt Boccia – mithilfe einer speziellen Bahnenkonstruktion. Auch für viele andere Handgriffe braucht sie Unterstützung. Das meiste davon übernimmt Gert. Nancy heißt mit Nachnamen Poser, Gert heißt Bukowski. Sie sind weder verwandt noch verschwägert. Gert ist ihr persönlicher Assistent.

Das Mantra aller Assistenten lautet: Arme und Beine ersetzen. Dem behinderten Menschen die Dinge reichen, an die er selbst nicht herankommen würde, Licht machen, wenn der Schalter mal wieder zu hoch ist, den Koffer tragen, Essen kochen, auf die Toilette helfen. Alles eben.

[…] "Viele Menschen haben ein Problem damit, auf Abruf zu sein", sagt Bukowski […]. "Ich nicht." Man müsse in der Lage sein, ein zweites Leben zu führen, Bedürfnisse eines anderen Menschen zu spüren. "In eine zweite Haut schlüpfen" nennt er es.
Der 36-Jährige ist einer von zwei hauptamtlichen Assistenten, die bei Nancy Poser beschäftigt sind, mit den "Mädels", die morgens die Pflege machen, und einem Springer sind sie zu zehnt. "Zu klein für eine Gewerkschaft", sagt Poser. Alle sind über den "Club Aktiv" eingestellt, eine Trierer Interessenvertretung für behinderte Menschen.

[…] Seit zwei Jahren arbeitet er für Nancy Poser, in der Regel zwei 24-Stunden-Schichten die Woche. Ein Vollzeitjob[…]. […] Ein Tag, der morgens um sieben damit beginnt, dass eine Assistentin das Licht anknipst und dessen vorletzte Station, nach elf Uhr abends, das Beantworten diverser E-Mails auf dem Tablet ist. Danach, sagt Poser, habe sie Freizeit. […]

"Ich will nicht, dass sie Bittstellerin ist", sagt Bukowski. […]

Doch nach diesem Prinzip funktioniert die Behindertenversorgung in Deutschland, auch heute noch. 2009 hat die Bundesrepublik eine UN-Konvention unterzeichnet, die Behinderten das Recht auf volle gesellschaftliche Teilhabe und Gleichberechtigung garantiert. In der Praxis fällt die Versorgung von Menschen wie Nancy Poser unter die Sozialhilfe. Bittsteller. Eine Rundumbetreuung, wie sie die 33-Jährige benötigt, ist teuer, sie kostet etwa 10.000 Euro im Monat. So viel kann höchstens einer wie Philippe aus dem Kino-Erfolg "Ziemlich beste Freunde" selbst finanzieren.

Bei allen anderen führt die Versorgung dazu, dass sie wie Sozialhilfeempfänger ihre gesamten Einkünfte offenlegen müssen. Wenn die behinderten Menschen mit ihrem Verdienst über einem bestimmten, mit einigem Verwaltungsaufwand errechneten Betrag liegen, müssen sie etwas abgeben. Für Nancy Poser sind das jeden Monat 150 Euro – genau das, was sie gerne für das Alter oder einen schönen Urlaub zurücklegen würde. Doch das bringt ohnehin wenig: Mehr als 2600 Euro darf Nancy Poser nicht auf dem Sparbuch haben. Noch mehr ärgert sie sich über eine Klausel, die direkt in ihre private Lebensplanung eingreift: Zieht sie mit einem Mann zusammen, fällt der ebenfalls unter das Sozialhilfegesetz, und muss, so lange er das Geld hat, die Assistenz seiner Freundin zahlen. "Wenn ich mit meinem Freund zusammenziehe, ist er finanziell ruiniert", sagt Nancy Poser. […]

[…] Sie hat sich gegen das entschieden, was sie "Parallelgesellschaft" nennt: Förderschule, Heimeinzug, geschützte Ausbildung, Werkstattarbeit. "Da hast du eben kein normales Leben, sondern immer nur die Watte um dich rum." […]

Gert Bukowski weiß, wie selten es ist, dass eine behinderte Frau ihre Rechte kennt. Den Führerschein macht, sich im normalen Alltag bewährt. […] Auch sein Blick ist mittlerweile geschärft. Alphabetisierungs- oder Deutschkurse an der Volkshochschule, die nur über eine Wendeltreppe erreichbar sind, Spielplatzgeräte, auf denen behinderte Kinder spielen sollen, aber im Sand stehen, sodass kein Rollstuhl herankommt. Vielen Fußgängern fällt dabei nichts auf.

Nancy Poser hat im Forum behinderter Juristinnen und Juristen, noch so ein Ehrenamt, einen Gesetzentwurf ausgearbeitet. Darin steht zum Bespiel, dass Assistenz vermögensunabhängig gewährt werden soll. Dann könnte die 33-Jährige ihre 150 Euro im Monat behalten, müsste keine Prüfung ihrer Einkünfte über sich ergehen lassen. Wie teuer das den Staat kommen würde, ist schwer zu beurteilen. Von den 50 Klienten des Club Aktiv stehen nur "drei bis fünf" im Berufsleben, sagt die Mitarbeiterin, die sich um Schwerbehindertenassistenz kümmert. Sie hat Verständnis dafür, dass Nancy Poser das Geld, das sie erarbeitet hat, behalten möchte. Doch Assistenz einkommensunabhängig zu gewähren, hält sie für falsch. Ihr Vorschlag: "Man sollte die Regelsätze für Assistenznehmer erhöhen, die sind knapp bemessen. […]"

Nancy Poser geht es ums Prinzip: "Ich bekomme keinen Vorteil durch die Assistenz. Ich bekomme einen Nachteil ausgeglichen." […]

Die "Persönliche Assistenz" hat das Ziel, behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Sie kann alle Bereiche des Alltags, von der Körperpflege bis zur Arbeitsassistenz, umfassen und richtet sich nach den Bedürfnissen des Behinderten, Assistenznehmer genannt. Dieser wählt selbst aus, wer ihn unterstützt und kann so auch entscheiden, welche Voraussetzungen die Assistenten erfüllen müssen – ob sie zum Beispiel Erfahrung in der Pflege haben sollten oder nicht. Assistenten werden über das Persönliche Budget finanziert, eine Geldleistung, die sich am Bedarf orientiert. Seit 2008 besteht in Deutschland ein Rechtsanspruch auf dieses Budget. Je nach Fall sind unterschiedliche Kostenträger verantwortlich: die gesetzliche Kranken- oder Rentenversicherung, der Sozialhilfeträger, die Pflegekassen, die Arbeitsagentur, der Landschaftsverband – oder alle miteinander. Die Unterstützung wird in Deutschland mit dem Einkommen und Vermögen des Assistenznehmers verrechnet – wer viel verdient, muss sich an den Kosten beteiligen. Behindertenverbände wie ForseA (Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen) kritisieren das. Zudem bemängeln sie, dass das Verfahren sehr kompliziert sei und einige Behörden Assistenz als Luxus begreifen, der nur widerwillig genehmigt wird. Als vorbildlich in der Assistenz gilt ihnen Schweden: Dort wurde 1994 ein Gesetz beschlossen, das die Unterstützung unabhängig von Einkommen und Vermögen gewährt. Wie gefragt die Unterstützung sein kann, zeigt sich dort ebenfalls: Fast 16.000 behinderte Menschen beschäftigen in Schweden Assistenten. In Deutschland, wo fast zehnmal so viele Menschen leben, nutzen etwa 20.000 Bürger das Persönliche Budget.

Charlotte Theile, "Fingerspitzengefühl", in: Süddeutsche Zeitung vom 31. Juli 2013

Das Beispiel verdeutlicht, dass über den Erfolg oder Misserfolg einer bestimmten Sozialpolitik nicht die beschließenden politischen Akteure allein befinden. Sie sind vielmehr angewiesen auf Institutionen, die Sozialpolitik umsetzen – vom Jugendverband und dem Sozialamt, über den Betriebssozialdienst bis zum gewinnorientierten Krankenhaus – und benötigen Fach- und Verwaltungskräfte wie Kommunalbeamte, Sozialversicherungsfachangestellte, Sozialpädagogen, Lehrkräfte, Therapeuten oder Ärzte mit zum Teil weitem Ermessensspielraum. Diese Fachkräfte wiederum können etwa Frühverrentungsprogramme anbieten oder Heilbehandlungen vorschlagen, für die hälftige Aufteilung von Elterngeldmonaten werben oder Wohnungslosen Angebote machen. Ob sich die "sozialpolitischen Endverbraucher" aber im Sinne des Gesetzgebers verhalten und ob sie sich bei der Inanspruchnahme personenbezogener Dienste engagiert, kooperativ, widerständig oder ablehnend zeigen, haben Akteure aus Politik und Fachpraxis nicht in der Hand. Jede sozialpolitische Maßnahme unterliegt also einer Reihe von Unwägbarkeiten. Dies betrifft auch nicht allein Fragen der Akzeptanz einer beschlossenen Maßnahme und Fragen der Zusammenarbeit bei der Erbringung sozialer Dienste, sondern den gesamten sozialpolitischen Prozess.

Das soziale Dreiecksverhältnis (© bpb)

Sozialpolitik als Prozess

Der Gesetzgebungsprozess im Bund. (Basis: Artikel 76-78 Grundgesetz, Geschäftsordnungen von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat.) (© Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 7. aktual. u. erw. Aufl., Wiesbaden: Springer VS 2006, S. 226)

In einem engeren Sinne gestaltet sich Sozialpolitik zunächst als Gesetzgebungsprozess. Denn in einem Rechtsstaat benötigen alle staatlichen sozialpolitischen Regelungen und Maßnahmen zunächst eine Rechtsgrundlage, die erarbeitet werden muss – egal ob es sich um die Regelung der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder, die Gewährung einer Geldleistung, ein städtebauliches Entwicklungsprogramm oder um die Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose handelt. Nur Eigeninitiativen im Rahmen betrieblicher Sozialpolitik oder von Wohlfahrtsverbänden und Selbsthilfegruppen sind dieser Notwendigkeit enthoben: Die Einrichtung von Suppenküchen, der Unterhalt einer spendenfinanzierten Beratungs- und Versorgungseinrichtung für irreguläre Migranten oder die Gewährung von Kirchenasyl kommen ohne Rechtsgrundlage aus. Wie aber entsteht sozialpolitisches Recht?

Gesetzgebungsprozesse und ihre sozialpolitische Vorgeschichte

Für (sozialpolitische) Gesetze sind ausschließlich die Parlamente des Bundes und der Länder zuständig. Initiativen hierzu können aus den Reihen des Parlamentes, auf der Bundesebene: dem Bundestag und dem Bundesrat, selbst stammen oder von Seiten der Bundesregierung, unter Federführung eines Ministeriums und nach Abstimmung im Bundeskabinett, ins Parlament eingebracht werden. Für die sozialpolitischen Anliegen gesellschaftlicher Interessengruppen wie Patientenvereinigungen, Unternehmen, Kirchen oder Bürgerinitiativen sind damit Abgeordnete, Regierungsmitglieder sowie Fachbeamte in Ministerien und Sozialverwaltungen die wichtigsten Adressaten. Um deren Aufmerksamkeit zu erregen, werden nicht selten die Medien (Rundfunk, Zeitungen, Internet) als "Verstärker" von Problembewusstsein und Lösungsvorschlägen eingeschaltet (sog. Agenda Setting). Dabei spielt der richtige Zeitpunkt (etwa: Forderungen zu einer "nachrichtenarmen Zeit" zu platzieren) eine große Rolle. Mitunter benötigt es aber auch eines langen Atems, wenn man beispielsweise daran denkt, dass die Verabschiedung des Pflegegesetzes letztlich insgesamt über 20 Jahre in Anspruch genommen hat.

Wird von einem Bundesministerium ein Gesetz entworfen, geschieht dies zunächst in der Regel als sogenannter Referentenentwurf aus der Arbeitsebene des Ministeriums. Zu dessen Einschätzung werden einschlägige Interessengruppen um Stellungnahme gebeten. Darauf folgt (mit ggf. berücksichtigten Veränderungsanregungen) der im Bundeskabinett mit allen anderen Ministerien abzustimmende Gesetzentwurf, der erst danach als Regierungsentwurf in den Bundestag eingebracht, dort in erster Lesung beraten und an den zuständigen Parlamentsausschuss verwiesen wird. Im Ausschuss folgt die zweite (nun parlamentarische) Runde von Anhörungen und Stellungnahmen. Während die Parteien in einem geregelten Verfahren Fachleute zur Stellungnahme auffordern und anhören, können im Prinzip jeder Mann und jede Frau in jedem Stadium des Gesetzgebungsprozesses ihre Meinung zum Gesetzgebungstext einbringen. Nachdem der Ausschuss, in der Regel mit Mehrheit der Regierungsfraktionen, den Gesetzentwurf meist leicht verändert verabschiedet hat, verlässt dieser wieder die Arbeitsebene des Parlaments, wird in zweiter und dritter Lesung im Parlamentsplenum abschließend beraten und in seiner endgültigen Fassung beschlossen. Für Prozesse der Gesetzgebung auf Landesebene gelten im Prinzip die gleichen Abläufe.

Handelt es sich um ein zustimmungspflichtiges Bundesgesetz (weil nicht nur der Bund, sondern auch die Länder von ihm betroffenen sind), muss dieses neben dem Bundestag noch den Bundesrat passieren, in dem die Bundesratsmitglieder die Interessen der Länder und ihrer Gemeinden zu wahren und zu vertreten haben. Die drei kommunalen Spitzenverbände (Städte- und Gemeindebund, Städtetag und Landkreistag) suchen aber ihrerseits in jeder Phase der Gesetzgebung ihre Interessen auch direkt (und möglichst untereinander abgestimmt) in Anhörungen und Stellungnahmen etwa gegenüber einzelnen Abgeordneten oder Regierungsmitgliedern zu vertreten. Können Bundestag und Bundesrat sich nicht einigen, folgt ein Vermittlungsverfahren zwischen diesen beiden Kammern des Parlaments, an dessen Ende das Gesetz auch scheitern kann.

Mit Ausfertigung des Gesetzes, beim Bund durch den Bundespräsidenten, und seiner Verkündung im (Bundes-)Gesetzblatt ist zwar die Phase der politischen Entscheidungsfindung zunächst abgeschlossen. Die Umsetzung und die politische, fachliche sowie juristische Überprüfung und Bewertung des Gesetzes steht diesem aber erst noch bevor.

Die Umsetzung und erneute Infragestellung von sozialpolitischen Maßnahmen

Politik als Zyklus (© bpb)

Hier treten nun erneut viele der oben genannten sozialpolitischen Akteure in Aktion, zunächst bei der Umsetzung eines Gesetzes in konkrete sozialpolitische Praxis und daran anschließend bzw. direkt begleitend bei der Evaluation seiner (nichtbeabsichtigten Neben-) Wirkungen. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht die bisherigen und folgenden (idealtypisch identifizierten) Phasen eines politischen Prozesses am Beispiel der 2004 eingeführten und Ende 2012 wieder abgeschafften Praxisgebühr.

Zyklisch gedacht kommt dieser Prozess (nicht nur in der Theorie und im obigen Beispiel) zu keinem endgültigen Ende. Sozialpolitik, als Prozess verstanden, ist dauerhafte, zumindest aber wiederkehrende Aufgabe aller interessiert von ihr Betroffenen.

So kommt auch jetzt – am Beispiel der Praxisgebühr in der Phase der Umsetzung – verschiedenen Interessenträgern jenseits politischer Mandatsträger wieder zum Teil großes Gewicht zu. Dabei entscheidet nicht nur die Summe der Reaktionen der Bürger und Bürgerinnen auf ein Gesetz über dessen tatsächliche Wirkung (am Beispiel Praxisgebühr: deren bereitwillige Zahlung mit oder ohne Verhaltensänderung, Protest gegen die Gebühr, erfolgreiche Verweigerung der Zahlung). Wo etwa treten trotz Vorsichtsmaßnahmen ggf. kostenträchtige Versorgungsversäumnisse auf, etwa bei armen Menschen? Wie verhalten sich die für Finanzierungsinteressen der Krankenkassen in Dienst genommenen Arztpraxen und die Ärzteverbände? Wie gut gelingt es den Krankenkassen tatsächlich, die Umsetzung der Praxisgebühr zu handhaben und zu welchen Kosten? Bedeutsam während der Umsetzung eines Gesetzes sind auch die oben benannten und mitunter sozialpolitisch sehr wirksamen Gerichte: Halten die Bestimmungen der Praxisgebühr ihren Prüfungen im Einzelfall stand?

Neben etwaigen Grundrechts- und Gesetzeskonkretisierungen durch Landesrecht und Rechtsprechung treten auch soziale Nichtregierungsorganisationen in der Phase der Evaluation eines sozialpolitischen Gesetzes erneut in Erscheinung und befördern so ggf. mit einer Neudefinition des sozialen Problems, Beispiel: die Praxisgebühr gefährde kostspielig die gesundheitliche Versorgungssicherheit einkommensarmer Menschen, den Eintritt in eine neue Runde sozialpolitischer Diskussionen, Forderungen und Maßnahmen (und deren anschließende erneute Infragestellung).

Auch Europa ist Prozess – die soziale Dimension europäischer Integration

Einem vereinseitigenden Fehlschluss soll hier abschließend vorgebeugt werden: Sozialpolitische Prozesse sind nicht einfach determiniert durch starke Interessenträger und starre Kompetenzordnungen. Vielmehr ist die sozialpolitische Kompetenzordnung selbst umstritten, und über die materiale Sozialpolitik wird die Stärke und Schwäche von Akteuren und Ebenen in sozialpolitischen Prozessen mitbestimmt. Am Beispiel der Diskussion um die soziale Dimension der Europäischen Union verdeutlicht, stellen sich Fragen: Welche Zielvorstellungen verbinden sich mit dem Europäischen Sozialmodell? Braucht es ein solches überhaupt? Ist nicht die Sozialpolitik in europäischen Ländern derart unterschiedlich, dass hier kein gemeinsamer Nenner zu finden ist?

Immer wieder scheinen diese Skizzen zum Charakter europäischer (und internationaler) Integration auf, im Streit um:

  • Freihandelsabkommen,

  • sozialpolitische Flankierungen der Währungsunion,

  • die europa-/weltweite Einführung von Mindeststandards im Sozial-, Lohn- und Arbeitsrecht,

  • den Vorschlag einer europäischen Arbeitslosenversicherung.

Dieses Ringen um das soziale Gesicht des künftigen Europas findet vor dem Hintergrund ähnlicher Herausforderungen und Trends in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union statt: Fragen nach der Zukunft der Erwerbsarbeitsgesellschaft und nach dem Stellenwert daran gebundener Sozialpolitik, länderübergreifenden Tendenzen eines Abbaus solidarischer Sicherungssysteme und schließlich der Suche nach einer wünschenswerten und realistischen Rolle europäischer Sozialordnung(en). Und dieses ist auf den weltweiten Austausch auszuweiten, in dem sich soziale, politische, ökonomische und ökologische Kosten der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, insbesondere aber grenzenloser Habgier nur verschieben, minimieren oder inflationieren lassen, letztlich aber bestehen bleiben.

QuellentextSozialpolitik in vier Modellen einer künftigen EU (Gemeinschaft)

  1. Wäre die Gemeinschaft als bloße Zollunion konzipiert, bestünde keine Notwendigkeit gemeinschaftlicher Sozialpolitik. Die in den Römischen Verträgen vorgesehene Gleichbehandlung von Frauen und Männern ist normalerweise für eine Zollunion nicht notwendig, ebenso wenig eine gemeinschaftliche Agrarpolitik. Von Anfang an passte die europäische Integration also nicht in das Korsett einer reinen Zollunion.

  2. Die Gemeinschaft als politisch-ökonomische Union beschreibt die reale und die wahrscheinliche Entwicklung am treffendsten: […] Die Durchsetzung der Freizügigkeit nicht nur für Güter und Dienstleistungen, sondern auch Personen warf grundsätzliche sozialpolitische Fragen auf, die einer Lösung zugeführt werden mussten. […] Das Hauptmotiv für die Integration war vorrangig die Aussicht auf größere Effizienz und höheren Wohlstand und nicht die Perspektive eines höheren Maßes an sozialer Gerechtigkeit oder Solidarität. Sozialpolitik als "Begleitmusik" der Freizügigkeit blieb ein Anhängsel der ökonomischen Notwendigkeiten und folglich sehr begrenzt. […]

  3. Wenn die Gemeinschaft als europäisches Sozialmodell konzipiert wird, hängt die Messlatte erheblich höher, könnten und sollten die Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität, der Bekämpfung sozialer Ungleichheiten, der Sicherstellung sozialer Kohäsion einen hohen Stellenwert einnehmen […]. In diesem Modell führt die europäische Integration nicht geradewegs in den Superzentralstaat, […] aber die strukturelle Nachrangigkeit der Sozialpolitik wäre aufgehoben. Redistributive [umverteilende, die Verf.] Leistungen, ein gemeinschaftliches Steuersystem oder zumindest aufeinander abgestimmte nationale Sozialpolitiken würden auf europäischer Ebene organisiert […].

  4. […] [D]as Modell eines europäischen Wohlfahrtsstaats, der die Nationalstaaten ersetzt, [kann] als nicht realitätstüchtig aus der Betrachtung ausgeschieden werden […].

Wolfgang Kowalsky, Europäische Sozialpolitik. Ausgangsbedingungen, Antriebskräfte und Entwicklungspotentiale, Opladen 1999 © Springer Science + Business Media, S. 343 f.

Jg. 1973, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. 2007 bis 2011 Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, seit 2011 in gleicher Funktion an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum. Fachliche Schwerpunkte: Armutspolitik im politischen Mehrebenensystem und politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit. Kontakt: E-Mail Link: benz@efh-bochum.de

Jg. 1945, lehrt Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2001 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Arbeitsschwerpunkte sind allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik – darunter Armuts- und Reichtumsforschung – und Sozialethik. Kontakt: E-Mail Link: Ernst-Ulrich.Huster@t-online.de

Jg. 1982, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale Arbeit Münster e. V. im Landesmodellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“. Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Universität Osnabrück. Von 2008 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Fachliche Schwerpunkte: Theorie der „sozialen“ Vererbung von Armut, Inklusionsstrategien und Soziale Ausgrenzung in Deutschland. Kontakt: E-Mail Link: Johannes.D.Schuette@gmail.com

Jg. 1966, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler, lehrt seit 2007 Sozialpolitik an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel an der Fakultät Soziale Arbeit. Fachliche Schwerpunkte: allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik, Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland und Europa, politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit und Entwicklung sozialer Dienste.