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Grundlagen | Parteien und Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland | bpb.de

Parteien und Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland Editorial Grundlagen Parteien als Organisationen Gesellschaftliche Verankerung Parteien und Medien Parteiensystem und Parteienwettbewerb Entwicklung des deutschen Parteiensystems nach 1945 Parteien in staatlichen Institutionen Aktuelle Herausforderungen Literaturhinweise Impressum und Anforderungen

Grundlagen

Uwe Jun

/ 17 Minuten zu lesen

Im politischen System Deutschlands sind Parteien zentrale Akteure. Ihre rechtliche Stellung ist im Grundgesetz und einem eigenen Parteiengesetz verankert. Sie vertreten die Interessen gesellschaftlicher Gruppen, vermitteln zwischen Gesellschaft und Staat und agieren in repräsentativen Demokratien als politische Handlungsbevollmächtigte.

Begriff, Entstehung und "Lebenszyklus" von Parteien

Den Begriff der politischen Partei eindeutig zu bestimmen ist kein einfaches Unterfangen. Denn bei Parteien handelt es sich um sehr komplexe Organisationen, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden können. Sie entwickeln programmatische Entwürfe für die künftige Gestaltung der Gesellschaft, sie stellen sich mit diesen Programmen zur Wahl und bilden spezifische Organisationsstrukturen heraus. Mit Blick auf ihre zentrale Position und ihre Aufgaben in politischen Systemen charakterisierte der deutsche Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann Parteien als "auf Dauer angelegte gesellschaftliche Organisationen, die Interessen ihrer Anhänger mobilisieren, artikulieren und bündeln und diese in politische Macht umzusetzen suchen – durch Übernahme von Ämtern in Parlamenten und Regierungen".

Parteien bewerben sich um Ämter und Mandate, um so die Interessen und den Willen ihrer Wählerschaft zu artikulieren und zu repräsentieren. Sie binden damit Gruppen und Individuen in das politische System ein. Plakate verschiedener Parteien zur Europawahl 2014 in Nortorf, Schleswig-Holstein (© picture-alliance/dpa, Carsten Rehder)

Der Hinweis auf die Verankerung in der Gesellschaft soll zum Ausdruck bringen, dass politische Parteien nicht primär als staatliche, sondern zuvorderst als gesellschaftliche Akteure zu verstehen sind. Wie Interessenverbände, Massenmedien, Bürgerinitiativen, Kirchen oder soziale Bewegungen agieren sie als Vermittlungsagenturen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und dem staatlichen Bereich. Im Unterschied zu Interessenverbänden oder sozialen Bewegungen verfügen politische Parteien allerdings über das Privileg, auf die Handlungsmöglichkeiten eigener und anderer nach politischer Macht strebender Gruppen oder Organisationen einwirken zu können. Sie sind die einzigen, die direkt politische Macht ausüben und somit auch ihren eigenen Handlungsspielraum wesentlich mitbestimmen.

Die oben genannte Begriffsdefinition soll für den Parteitypus der westlichen Demokratien etwas erweitert und in den Zusammenhang der ihnen zugedachten Aufgaben gestellt werden: Als politische Parteien werden politische Organisationen verstanden, die

  • das politische Personal auswählen und rekrutieren,

  • Ziele und Programme zur Durchsetzung im politischen Willensbildungsprozess formulieren,

  • für Verständigung zwischen den politischen Akteuren auf der staatlichen Ebene und den Wählerinnen und Wählern sorgen,

  • an der staatlichen und gesellschaftlichen Meinungsbildung mitwirken und

  • Entscheidungen im staatlichen Bereich zu steuern und zu koordinieren, zumindest aber zu beeinflussen suchen.

Bei den Wählerinnen und Wählern werben sie um Unterstützung, bündeln, artikulieren und repräsentieren deren Interessen und integrieren so Gruppen und Individuen in das politische System. Ziel von politischen Parteien ist es, im politischen Wettbewerb ein Machtfaktor zu sein, um auf politische Entscheidungen Einfluss ausüben zu können. Darüber hinaus kommt ihnen die Aufgabe zu, für das politische System Legitimität herzustellen und zu sichern. Das jeweilige politische System bestimmt ihre Handlungsmöglichkeiten, gleichzeitig können politische Parteien dessen Strukturen jedoch mitgestalten. Demokratische Systeme geben dem Parteienwettbewerb einen Rahmen, der die Macht politischer Parteien begrenzt und den Machtwechsel zu anderen politischen Parteien ermöglicht.

Karrierestufen von Parteien

Der deutsche Parteienforscher Oskar Niedermayer unterscheidet sechs Karrierestufen, die eine Partei in ihrer Entwicklung durchlaufen kann. Sie sind hier in leicht abgewandelter Form dargestellt.

  • Teilnahme an Wahlen: Die rechtlichen Voraussetzungen sind erfüllt, und es stehen Kandidierende in den Wahlkreisen und/oder auf Listen bereit, um bei einer Parlamentswahl gewählt zu werden.

  • Wettbewerbsbeeinflussung: Die Aktivitäten der Partei beeinflussen das Verhalten anderer Parteien im Wettbewerb, sichtbar an offenkundigen Reaktionen bzw. strategischem Verhalten (zumindest) einzelner Wettbewerber.

  • Parlamentarische Repräsentation: Die Partei ist in einem Landtag oder im Bundestag vertreten, in Deutschland bislang zunächst immer auf Länderebene. Sie gewinnt damit deutlich an Relevanz für die Wählerinnen und Wähler.

  • Einbeziehung in Koalitionsüberlegungen: Mindestens ein Mitbewerber erachtet die Partei für koalitionsfähig und bekundet den Willen zu einer Regierungszusammenarbeit.

  • Regierungsbeteiligung: Die Partei übernimmt als kleinere Partei Regierungsgeschäfte und ist im Kabinett vertreten.

  • Regierungsleitung: Die Partei stellt den Regierungschef.

Welche dieser Stufen eine Partei beschreiten kann, ist abhängig von vielerlei Faktoren, die den Parteienwettbewerb prägen.

Rechtliche Stellung, Rolle, Aufgaben

Rechtliche Stellung

In modernen Demokratien sind politische Parteien zentrale Akteure. Ihre besondere Rolle wird schon allein dadurch deutlich, dass sie ausdrücklich im Grundgesetz (GG) genannt werden, sie haben also Verfassungsrang. In Artikel 21 GG heißt es:

"Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen." […]

Die freie Gründung, verbunden mit dem im Grundgesetz verbürgten Prinzip der Chancengleichheit, lässt politischen Parteien als gesellschaftlichen Vereinigungen einen weiten Handlungsspielraum.

Im internationalen Vergleich ist der oben genannte, den politischen Parteien zugestandene Verfassungsrang schon recht selten anzutreffen; weitaus ungewöhnlicher ist jedoch die konstitutionelle Verankerung der innerparteilichen Demokratie, die der Gesetzgeber damit den Parteien verpflichtend auferlegt. Die herausgehobene Stellung in der Verfassung sowie ein eigens für politische Parteien geschaffenes Gesetz verleihen den Parteien im Gegensatz zu anderen – ausschließlich privatrechtlich organisierten gesellschaftlichen Organisationen – eine privilegierte Position, sodass sogar das Bundesverfassungsgericht von einem "Parteienprivileg" spricht. Dies äußert sich zum einen darin, dass Parteien staatlich finanziert werden können, und zum anderen darin, dass nur das Bundesverfassungsgericht berechtigt ist, eine Partei zu verbieten.

Parteiverbotsverfahren in Deutschland (© picture-alliance/dpa, Globus 4633: Quelle: BMI, Juraforum)

Das Verbotsverfahren kann ausschließlich auf Antrag des Bundestages, des Bundesrates oder der Bundesregierung erfolgen. Antragsgegenstand ist die Verfassungswidrigkeit einer Partei. Eine Partei kann laut Artikel 21 (2) GG verboten werden, wenn sie darauf ausgeht, "die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden". Dazu muss sie eine aktiv kämpferische Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung des Grundgesetzes einnehmen, das heißt, die Gegnerschaft zum Grundgesetz muss durch konkrete Handlungen belegt werden. Andere Organisationen, die gegen Verfassungsgrundsätze verstoßen, können dagegen von der Bundesregierung (Innenminister) oder den Landesregierungen verboten werden.

Laut Artikel 21 (3) GG sollen Bundesgesetze "[d]as Nähere regeln". Diese Regelungen finden sich im Parteiengesetz (PartG) von 1967 wieder. Es definiert in Paragraf 2, Absatz 1 eine Partei als "Vereinigung von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten".

QuellentextGesetz über die politischen Parteien

§ 1 Verfassungsrechtliche Stellung und Aufgaben der Parteien

(1) Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe.
(2) Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.
(3) Die Parteien legen ihre Ziele in politischen Programmen nieder.
(4) Die Parteien verwenden ihre Mittel ausschließlich für die ihnen nach dem Grundgesetz und diesem Gesetz obliegenden Aufgaben.

§ 2 Begriff der Partei

(1) Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. Mitglieder einer Partei können nur natürliche Personen sein.
(2) Eine Vereinigung verliert ihre Rechtsstellung als Partei, wenn sie sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer Landtagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat.
(3) Politische Vereinigungen sind nicht Parteien, wenn

  1. ihre Mitglieder oder die Mitglieder ihres Vorstandes in der Mehrheit Ausländer sind oder

  2. ihr Sitz oder ihre Geschäftsleitung sich außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes befindet.

Parteiengesetz, Novelle vom 23. August 2011, Bundesgesetzblatt (BGBl.) I, S. 1748

Spezifiziert wurde diese Mitwirkung durch die Vorgabe, dass eine Partei in einem Zeitraum von sechs Jahren an mindestens einer Bundestags- oder Landtagswahl teilnehmen muss, um ihren Status zu erhalten. Durch die Beschränkung auf die Bundes- oder Landesebene werden Parteien, die nur auf der kommunalen Ebene antreten (Kommunalparteien, sogenannte Rathausparteien), vom Parteienbegriff nicht mit eingeschlossen. Dies gilt auch für Parteien, die ausschließlich an Wahlen zum EU-Parlament teilnehmen, was möglicherweise dem Umstand geschuldet ist, dass das Parteiengesetz zwölf Jahre vor den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament verabschiedet wurde.

Wegen fehlender Ernsthaftigkeit ließ der Bundeswahlleiter 2009 die von Martin Sonneborn, dem früheren Chefredakteur des Satiremagazins "Titanic" geführte Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative – "Die Partei" – nicht zur Bundestagswahl zu. 2013 jedoch durfte sie teilnehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat 2013 auch eine Entscheidung des Bundeswahlleiters aufgehoben, mit der er der Partei "Vereinigung Deutsche Nationalversammlung (DNV)" wegen fehlender Ernsthaftigkeit die Teilnahme an der Bundestagswahl verweigert hatte. Obwohl die Partei zum Zeitpunkt der Anmeldung nur 42 Mitglieder hatte, kam das Verfassungsgericht zu dem Urteil, dass der Partei die Ernsthaftigkeit ihres Willens, politisch in die Öffentlichkeit hineinzuwirken, nicht abzusprechen sei. Diese Ernsthaftigkeit sollte objektiv gegeben sein, was bedeutet, dass die Partei in der Lage sein sollte, in einem Parlament mitzuwirken.

Gemäß dem Parteiengesetz müssen Parteien eine schriftliche Satzung und ein schriftliches Programm haben, sich in Gebietsverbände gliedern (außer im Falle eines Stadtstaates), regelmäßig Mitglieder- und Vertreterversammlungen abhalten und mit dem Parteitag oder einer Hauptversammlung das oberste Organ des jeweiligen Gebietsverbandes bilden. Parteitage beschließen über die Programme, die Satzung, die Beitragsordnung, die Schiedsgerichte und die Fusion mit anderen Parteien. Auch wählen Parteien einen Vorstand, der die Geschäfte des Gebietsverbandes führen soll und aus mindestens drei Mitgliedern bestehen muss. Diese Vorstände können die tatsächlich anfallende Parteiarbeit jedoch nicht ohne weitere Unterstützung leisten. Daher steht ihnen ein Parteiapparat zur Verfügung, der die Tagesgeschäfte führt, also beispielsweise den Großteil der Kommunikation mit den Medien übernimmt, die Wahlkämpfe organisiert oder Parteitage vorbereitet.

Institutionelle Rahmenbedingungen

Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland (© Bergmoser + Holler Verlag AG, Zahlenbild 62 110)

Politische Parteien handeln innerhalb eines jeweiligen politischen Systems mit seinen je eigenen Strukturen, Normen, Regeln und Prozessen. Diese nehmen mittelbar Einfluss auf Parteien, indem sie den Rahmen bestimmen, in dem politische Parteien sich bewegen. Diese Rahmenbedingungen von Parteien begrenzen ihr Handeln wie etwa die Wahl ihrer Strategie, ihre programmatischen Alternativen oder organisationsstrukturellen Möglichkeiten.

Das Regierungssystem Deutschlands ist eine demokratische, parlamentarische Republik. Als solche muss sie Charakteristika aufweisen, die für eine Demokratie kennzeichnend sind:

  • formale Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender Gewalt (Legislative), gesetzesausführender Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative);

  • Pluralismus von Werten, Meinungen und Anschauungen, der wesentlich auch im Parteienwettbewerb zum Ausdruck kommt;

  • grundsätzliche Anerkennung von in der Regel in einer Verfassung formulierten Grundrechten wie freie Entfaltung der Persönlichkeit, allgemeine Handlungsfreiheit, Freiheit der Person, Recht auf Leben, Recht auf körperliche Unversehrtheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit, Schutz von Minderheiten, Versammlungsfreiheit;

  • freie und faire Wahlen, in parlamentarischen Demokratien auf gesamtstaatlicher Ebene fast ausschließlich von Parteien oder Personen, die für Parteien kandidieren;

  • Volkssouveränität

In einer demokratischen Republik ist ein gewählter Repräsentant Staatsoberhaupt, in Deutschland ist es der Bundespräsident. Er wird von der Bundesversammlung, die ausschließlich zur Wahl des Bundespräsidenten gebildet wird, indirekt mit Mehrheit gewählt. In der Bundesversammlung sitzen alle Mitglieder des Bundestages und eine gleiche Anzahl von in den Landesparlamenten gewählten Vertretern, die nicht zwingend Mitglieder des Landtags sein oder in dem Bundesland wohnen müssen. Wählbar ist jede Person, die das passive Wahlrecht zum Bundestag besitzt.

Während das Staatsoberhaupt in Deutschland primär repräsentative Aufgaben wahrnimmt, liegen wichtige Machtbefugnisse bei der Bundesregierung (Exekutive), gebildet aus dem Bundeskanzler bzw. der Bundeskanzlerin als Regierungschef/in und dem Ministerkabinett. Der Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin wird vom Parlament, dem Bundestag (Legislative), gewählt und kann von diesem jederzeit abberufen werden, in Deutschland jedoch mit der Maßgabe, gleichzeitig einen neuen Bundeskanzler ins Amt zu bringen. Dieses sogenannte konstruktive Misstrauensvotum ist im Grundgesetz in Artikel 67 festgeschrieben und kam im deutschen Regierungssystem bislang nur einmal erfolgreich zum Einsatz: am 1. Oktober 1982 gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und zugunsten seines Nachfolgers Helmut Kohl (CDU).

Das Recht des Parlaments, den Regierungschef abzuberufen, gilt als primäres Merkmal einer parlamentarischen Demokratie. Sie unterscheidet sich darin von einer präsidentiellen Demokratie wie etwa in Frankreich, bei der das Parlament den Regierungschef, der gleichzeitig Staatsoberhaupt ist, weder wählen noch abberufen kann. Umgekehrt darf in einem präsidentiellen Regierungssystem der Regierungschef das Parlament nicht auflösen, in parlamentarischen Regierungssystemen dagegen ist dies möglich.

In Deutschland besteht diese Möglichkeit jedoch nur unter erschwerten Bedingungen und mit Hilfe des Bundespräsidenten. So heißt es in Artikel 68 (1), Satz 1 GG: "Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen." Der Bundeskanzler benötigt also eine gescheiterte Vertrauensfrage und die Zustimmung des Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages. In der Geschichte Deutschlands kam dieses Verfahren einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments dreimal zur Anwendung: am 22. September 1972, ausgelöst durch Willy Brandt (SPD), am 17. Dezember 1982 durch Helmut Kohl und am 1. Juli 2005 durch Gerhard Schröder (SPD).

In einer repräsentativen Demokratie wie der Deutschlands wählen die Bürgerinnen und Bürger Volksvertreter, Personen, die an ihrer Stelle und in ihrem Auftrag Entscheidungen treffen. Dabei haben die Abgeordneten in Deutschland nach Artikel 38 GG ein verfassungsmäßig garantiertes freies Mandat, das heißt, sie sind nicht unmittelbar an Weisungen und Aufträge ihrer Wähler, ihrer Partei oder ihrer Fraktion gebunden, sondern ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet.

Artikel 38 (Grundgesetz): "(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."

Da in parlamentarischen Demokratien Parteien allerdings bei der Rekrutierung der Volksvertreter eine zentrale Stellung zukommt und sie darüber hinaus durch ihre Fraktionen auch innerhalb von Parlamenten Entschlussfähigkeit herstellen müssen, verhalten sich die Abgeordneten trotz ihres freien Mandats in der Regel in hohem Maße solidarisch gegenüber den Vorgaben ihrer Partei. Denn in parlamentarischen Demokratien sind es die Parteien inner- und außerhalb des Parlaments, welche die Funktionsfähigkeit des politischen Systems durch Regierungsbildung und anschließende Unterstützung der Regierungsmehrheit sicherzustellen haben.

Neben dem staatlichen Handlungsfeld sind die Parteien auch in gesellschaftlichen Aufgabenbereichen tätig: Sie wirken in die Öffentlichkeit hinein, insbesondere in die mediale Öffentlichkeit, ihre Organisation dient zur Erfüllung der ihnen zugewiesenen Funktionen und ihrer gesellschaftlichen Anbindung, und sie arbeiten mit organisierten Interessenvertretungen, wie etwa Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Umweltschutzorganisationen oder Sozialverbänden, zusammen (denen sie daneben auch auf der staatlichen Ebene begegnen).

Gemäß Parteiengesetz sollen Parteien außerdem "auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen".

Deutlich werden in den Formulierungen des Parteiengesetzes die beiden zentralen Handlungsebenen politischer Parteien: Sie agieren sowohl im Staat wie in der Gesellschaft, all ihre Funktionen können diesen beiden zentralen Handlungsorten zugeordnet werden. Als gesellschaftliche Akteure wirken die Parteien weit in den Staatsapparat (Regierungen, Parlamente) hinein und stellen Rückkopplungseffekte zwischen beiden Ebenen her. Diese Verbindungsposition oder Vermittlerrolle kennzeichnet politische Parteien nicht nur in theoretischer Hinsicht. Denn dadurch, dass sie in beiden Ebenen verortet sind und ihre Repräsentanten sowohl staatliche wie gesellschaftliche Aufgaben wahrnehmen, sind politische Parteien die bedeutendsten Akteure im politischen Willensbildungs- wie Entscheidungsprozess. Von der Erfüllung ihrer Aufgaben hängt es wesentlich ab, ob und in welchem Ausmaß die auf Basis von Parteien ausgeübte politische Herrschaft sowohl effizient wie auch repräsentativ gegenüber Wählerwünschen und Bevölkerungsanliegen ausgeführt wird. Damit gewährleisten politische Parteien die Legitimität des demokratischen Systems, das heißt Vertrauen in und allgemeine Zustimmung für das politische System.

Zwar ergibt sich die Legitimität eines politischen Systems letztlich aus der Erfüllung der verschiedenen, in Folge zu nennenden Funktionen durch das gesamte Parteiensystem, doch kann jede einzelne Partei durch ihr Handeln und ihr Wirken Unterstützung für demokratische Werte und Prozesse hervorbringen und damit zur Legitimation des politischen Systems beitragen. Parteien sind somit ein unmittelbares und wirkungsvolles Symbol der Demokratie.

Aufgaben von Parteien

Neben den beiden zentralen Ebenen Staat und Gesellschaft gibt es weitere Möglichkeiten, um die Vielfalt der Handlungsräume und Einflussnahme politischer Parteien gedanklich zu strukturieren. So teilt der deutsche Politikwissenschaftler Winfried Steffani ihre Tätigkeiten vier Sektoren zu. Danach fungieren politische Parteien:

  • als Ausdruck sozialer Gruppen sowie ideologisch-programmatischer Vorstellungen und Ziele;

  • als Instrument der Machtausübung,

  • als Vermittler demokratischer Legitimation;

  • als Interessenvertreter in eigener Sache und als Rekrutierungsfeld politischer Führung (Elitenrekrutierung).

Aufgaben von Parteien (© picture-alliance/dpa, Infografik, Globus 5859: Quelle: bpb)

Die Funktionen werden dabei nicht nur von einzelnen Parteien wahrgenommen, sondern vom Parteiensystem insgesamt. Dies gilt besonders für die Legitimationsfunktion, die – wie bereits gesagt – vornehmlich vom Parteiensystem in seiner Gesamtheit erfüllt wird, während Elitenrekrutierung, Integration und Repräsentation gesellschaftlicher Gruppen auch von einzelnen Parteien geleistet werden können.

In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, Parteien als multifunktionale Organisationen zu betrachten, die ein breites Funktionsspektrum ausfüllen bzw. versuchen zu erfüllen. Von Verbänden oder Bewegungen unterscheiden sich Parteien, indem sie Kandidierende für öffentliche Ämter und Mandate zur Wahl stellen. Die daraus gegebenenfalls resultierende Rekrutierung für öffentliche Ämter und Mandate kommt auf regionaler oder nationaler sowie europäischer Ebene nahezu einem Rekrutierungsmonopol gleich. Parteien stellen somit das Personal für politische Beratungs- und Entscheidungsgremien bereit.

Eine unerlässliche Parteienfunktion ist auch die Artikulation bzw. Repräsentation von Interessen. Eine Partei vertritt gesellschaftliche und politische Interessen ihr nahestehender Gruppen. Parteien greifen Werte, Anliegen und Meinungen der Bürgerinnen und Bürger auf und bündeln diese.

Responsivität liegt dann vor, wenn eine Partei sich aufgeschlossen gegenüber den Interessen, Werten und Meinungen ihrer Mitglieder oder Wählerschaft zeigt und sie zentral berücksichtigt. Tatsächlich zeigen empirische Untersuchungen, dass zwischen den Präferenzen der Wählerschaft, die eine Partei für sich gewinnen kann, und der Partei selbst enge Verbindungslinien existieren und politische Parteien nach wie vor die Positionen und Wünsche ihrer Wählerschaft bei der Ausgestaltung ihrer Programme und auch in der Regierungspolitik im Auge haben. Die gelegentlich beschworene Formel "Die da oben machen doch, was sie wollen" trifft demnach nicht die empirisch nachweisbare Realität. Einen hohen Grad an Responsivität beweist eine Partei, wenn sie auch kaum durchsetzungsfähige oder nur schwer vermittelbare Interessen und Meinungen der unmittelbaren Parteisympathisanten aufgreift.

Es gibt Parteien, die möglichst viele soziale Gruppen hinter sich vereinen möchten. Sie müssen entsprechend vielfältige Interessen bündeln und zusammenfassen, was auch widerstreitende Positionen einschließt und den Kompromisscharakter von Großparteien wie der CDU oder der SPD erklärt. Diese Bündelung (Aggregation) unterschiedlicher Interessen und Meinungen zeigt sich oftmals im Inneren durch die Bildung verschiedener Flügel, Vereinigungen oder Strömungen, nach außen durch den Versuch, programmatisch und pragmatisch möglichst umfassend soziale Gruppen anzusprechen und zu integrieren.

Das Formulieren von Programmen und die Interpretationsangebote der Parteien zur Lösung politischer, sozialer oder ökonomischer Probleme werden unter der Funktion der Zielfindung zusammengefasst. Dabei kann die Formulierung entsprechender Programme als nach innen gerichtete Aktivität gelten, während die Vermittlung der Programme eine nach außen gerichtete Leistung der Parteien darstellt. Mit ihren Programmen präsentieren Parteien der Gesellschaft Deutungsmuster bzw. Orientierungsrahmen und bringen damit im Parteienwettbewerb ideologische oder sachpolitische Differenzen bzw. Kontroversen zum Ausdruck.

Gleichzeitig wirken Parteien integrativ, indem sie die Interessen sozialer Gruppen vertreten. Denn auf diesem Weg binden sie diese Gruppen in das politische System ein, machen sie mit dessen Werten und Normen vertraut und bieten ihnen Mitwirkungsmöglichkeiten an. Die Integration erfolgt durch Teilnahme an Wahlen, durch Engagement innerhalb der Parteiorganisation und durch Beteiligung an weiteren Willensbildungsprozessen. Freiwilliges Engagement in Parteien stellt in dieser Lesart eine Art Bewegung von unten dar, indem die Gesellschaft parteiliche Basisorganisationen bildet, um das politische Geschehen mitbestimmen zu können. Ähnlich wie ein Volksbegehren die Initiative gesellschaftlicher Gruppen verlangt, ist die Mitwirkung in politischen Parteien der aktive Ausdruck von Teilnahmeabsichten. Die Beteiligung an Wahlen verlangt demgegenüber weniger Engagement, hier wirkt die Partei immerhin als Mobilisator und Einflusskanal.

Um den Vorstellungen ihrer Anhängerschaft oder auch davon unabhängigen Positionen und Inhalten Wirkungsmacht zu verleihen, bedarf es in Parteiendemokratien öffentlicher Ämter. Daher sind Regierungsbeteiligung bzw. Oppositionsarbeit unmittelbare Funktionen von Parteien. Die Besetzung von Regierungsämtern mit Parteirepräsentanten und die Ausrichtung der Regierungspolitik gelten als wichtige Charakteristika von Parteiendemokratien. Auch die Organisation parlamentarischer Prozesse wird durch Vertreter der Parteien vollzogen. Das Parlament bildet sich in modernen parlamentarischen Demokratien aus Parteifraktionen, die als eigenständige, aber mit ihren jeweiligen außerparlamentarischen Parteiorganisationen eng zusammenwirkende Einheiten zu betrachten sind. Als Regierungs- oder Oppositionspartei treffen sie Entscheidungen über Politikinhalte und üben somit unmittelbaren Einfluss im politischen Entscheidungsprozess aus; sie fungieren als Konfliktlöser und -schlichter. Staatliche Regelsetzung obliegt weitestgehend ihnen. Entscheidungen über die Inhalte von Politik fallen aber vermehrt in Netzwerken, in denen außer staatlichen auch gesellschaftliche Akteure (Nichtregierungsorganisationen, Verbände, Bürgerinitiativen und Experten) mitwirken.

Um öffentliche Ämter und Mandate besetzen zu können, muss eine Partei Erfolge bei Wahlen erzielen. Dies versuchen Parteien durch die Mobilisierung ihrer Anhänger oder Wechselwähler zu erreichen. Die Mobilisierungsleistung der Parteien ist nach wie vor vergleichsweise hoch.

Zusammenfassend lassen sich fünf zentrale Funktionen für politische Parteien in westlichen Demokratien benennen, die wiederum weiter ausdifferenziert werden können:

  • Responsivität durch Interessenartikulation, -repräsentation und -aggregation,

  • Bestimmung von politischen Inhalten (Policy-Funktion)

  • Mobilisierung und Integration der Wähler- und Mitgliedschaft

  • Rekrutierung des politischen Personals

  • Regierungsbildung und Oppositionsarbeit

Parteien im Föderalismus

Das Wirken von Parteien hat auch eine territoriale Dimension. In Deutschland verteilen sich politische Macht und Kompetenzen vertikal auf Bund, Länder und Kommunen. Diese bundesstaatliche, föderale Ordnung sichert den Ländern ein Mindestmaß an Autonomie und beteiligt sie – vor allem durch ihre Mitwirkung an der Gesetzgebung im Bundesrat, der institutionellen Vertretung der Länder – an der Entscheidungsfindung auf Bundesebene. Zu diesem nationalstaatlichen vertikalen Mehrebenensystem kommt eine supranationale Ebene in Gestalt der Europäischen Union (EU).

Dies hat Rückwirkungen auf Parteien, die dementsprechend nicht nur auf gesamtstaatlicher Ebene, sondern auch auf der Ebene der Kommunen, der Bundesländer und der EU agieren. Während der unmittelbare Einfluss der europäischen Ebene auf Parteien von der Forschung als relativ gering eingestuft wird, lässt sich von größerem Einfluss der regionalen Ebene, im deutschen Fall: der Bundesländer, sprechen. Die Einflüsse wirken aber nicht nur in eine Richtung, sondern sind wechselseitig. Sie zeigen sich zum Beispiel in

Konsensorientierung: Die Parteien, bislang vor allem die Großparteien CDU/CSU und SPD, stellen die Exekutiven des Bundes und der Länder, die jeweils über wesentliche Entscheidungskompetenzen verfügen und auf enge wechselseitige Kooperation angewiesen sind, um ihrer Regierungsarbeit zum Erfolg zu verhelfen. Dies entspricht den Vorgaben des politischen Systems, das, als kooperativer Föderalismus angelegt, Konsens- und Kompromissbildung in den Vordergrund stellt.

Diese Strukturen des föderalen Systems verstärken auch die Konsensorientierung der Großparteien CDU/CSU und SPD, die in der Parteienforschung weitgehend konstatiert wird. Denn durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen im Regierungssystem, die zumeist durch die Suche nach gemeinsamen Lösungen für Probleme bestimmt wird, entstehen ähnliche Denkmuster und Problemlösungsansätze, welche eher zu einer Annäherung der Parteien beitragen und Konsens zu einer gemeinsamen Aufgabe machen.

Insbesondere beiden Großparteien gelang es immer wieder, mittels informeller Gespräche oder Verhandlungen Problemlösungen und Kompromisse zu entwickeln. Daher hat der Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt nicht zu Unrecht von einer "informellen Großen Koalition" gesprochen und einer seiner akademischen Lehrer, Gerhard Lehmbruch, von einer Tendenz zur Allparteienregierung, wobei es hauptsächlich die beiden Großparteien waren, die diesen Konsens herstellten.

Wettbewerbs- und Signalwirkung: Dass die Parteienkonkurrenz vor dem Hintergrund der verflochtenen politischen Strukturen von Bund und Ländern betrachtet werden sollte, zeigt sich mit Blick auf die Bedeutung von Landtagswahlen für den gesamtdeutschen Parteienwettbewerb.

So wird bei Landtagswahlen immer auch über die Zusammensetzung des Bundesrates entschieden. Gewinnt in ihm die politische Konstellation die Mehrheit, die auch im Bund die Regierung führt, kann die Regierungsmehrheit des Bundestages ihre Gesetzesvorhaben in der Regel reibungsloser durch den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess führen. Sind die Bundesregierung und die Mehrheit des Bundestages jedoch parteipolitisch unterschiedlich ausgerichtet, nutzt der Bundesrat häufiger die Möglichkeit, umstrittene Gesetzesvorhaben wirkungsvoll zu beeinflussen oder im selteneren Fall auch zu blockieren.

Ein anderer Aspekt von Landtagswahlen zeigt sich darin, dass von ihnen nicht selten eine Signalwirkung für die gesamtstaatliche Ebene ausgeht. Denn einzelne Landtagswahlergebnisse können zu strategischen oder taktischen Reaktionen der Bundesparteien führen, welche den gesamten Wettbewerb beeinflussen. So veranlasste die Wahlniederlage der SPD in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen, was letztlich zu vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages im September 2005 führte. Die Parteien setzt diese Verstärkung der Konkurrenz auf der Länderebene zusätzlich unter Wettbewerbsdruck. Angesichts von 16 Landtagswahlen wird nicht selten von einem Dauerwahlkampf gesprochen.

Karikatur (© Jan Tomaschoff / Baaske Cartoons)

Autonomie und Modellcharakter: Die einzelnen Landesparteien sind zwar mit der Bundespartei eng verbunden, verfügen aber über autonome Handlungsspielräume. Der Parteienwettbewerb in einem Mehrebenensystem wie dem Föderalismus in Deutschland führt dazu, dass Parteien auf jeder Ebene aufgrund unterschiedlicher Wettbewerbssituationen unterschiedliche Strategien verfolgen können und somit die Eigenständigkeit von Bundes- und Landespartei unterstreichen. Als Musterbeispiel dafür gilt der Aspekt der Koalitionsbildung. Dabei müssen beide Ebenen den Gesamtkontext des Parteienwettbewerbs beachten und gewärtigen, dass sich Rückwirkungen von Entscheidungen der einen Ebene auf die andere ergeben.

Solche wechselseitigen Einflüsse der beiden Ebenen bei Koalitionsbildungen werden zum Beispiel daran deutlich, dass die jeweilige Regierungskoalition im Bund wiederholt Modell für die Bildung von Landesregierungen war und es zeitweise sogar keinerlei vom Bund abweichende Koalitionen in den Ländern gab. Aber auch umgekehrt wurden in der Geschichte der Bundesrepublik oft neue Koalitionsformate zunächst in den Bundesländern erprobt, bevor sie auf der gesamtstaatlichen Ebene gebildet wurden.

Insofern kann die Länderebene eine Innovationsfunktion wahrnehmen. Das galt sowohl für die 1969 ins Leben gerufene sozialliberale Koalition wie für das 1998 im Bund installierte rot-grüne Bündnis. Selbst die 1982 und 2009 jeweils erneut gebildete Koalition von CDU/CSU und FDP hatte Vorläufer in den Ländern. Auch die 2013 in Hessen ins Amt gelangte Regierungskoalition von CDU und Bündnis 90/Die Grünen sehen einige ihrer Befürworter in diesem strategischen Kontext, genauso wie die thüringische Landesregierung aus Linke, SPD und Bündnisgrünen unter dem ersten aus den Reihen der Partei "Die Linke" gewählten Ministerpräsidenten eines Bundeslandes, Bodo Ramelow.

Uwe Jun ist Professor für "Regierungslehre – Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland" an der Universität Trier, Sprecher des Arbeitskreises "Parteienforschung" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) sowie Mitglied der DVPW, der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen (DVParl) und des European Consortium for Political Research. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Parteienforschung, Vergleichende Parlamentarismusforschung, Föderalismus, Politische Kommunikation und Koalitionsforschung.

Bei der Konzeption und der Materialrecherche wurde er unterstützt von Isabel Bähr, Sebastian Exner und Simon Jakobs