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Demokratie – in der Krise und doch die beste Herrschaftsform? | Demokratie | bpb.de

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Demokratie – in der Krise und doch die beste Herrschaftsform?

Hans Vorländer

/ 17 Minuten zu lesen

Die Demokratie hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder flexibel an veränderte Gegebenheiten angepasst und konnte ihre Herausforderungen und Probleme meist bewältigen. Daher scheint sie auch heute noch die bestmögliche Herrschaftsform zu sein.

Ein Prinzip mit Knitterfalten? Durch verschiedene Entwicklungen ist die Demokratie in jüngster Zeit unter Druck geraten. (© picture-alliance / Jan Haas)

Schon seit ihrer Entstehung in der Antike stößt die Demokratie immer wieder auf Kritik und zeitweilig sogar auf Feindschaft. Gegenwärtig lassen tiefgreifende Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Weltpolitik den Eindruck entstehen, die Demokratie befinde sich in einer Krise. Politische Bewegungen sind entstanden, die mit Berufung auf "das Volk" Politik und Medien fundamental kritisieren und die Funktionsfähigkeit der Demokratie in Zweifel ziehen.

Neben politischer Polemik gibt es indes auch begründete Kritik. Diese benennt Probleme, die mit der Demokratie zusammenhängen und von ihr erzeugt werden. Zuletzt sind folgende Kritikpunkte vorgetragen worden:

  • Erstens wird die Komplexität und mangelnde Transparenz demokratischer Entscheidungsverfahren kritisiert. Verantwortlichkeiten seien in der Mehr-Ebenen-Demokratie, die von den Kommunen über die Länder, den Nationalstaat bis zur Europäischen Union reicht, nicht mehr erkennbar und folglich auch nicht zurechenbar und kontrollierbar.

  • Zweitens werde der demokratische Prozess von Strukturen transnationalen Regierens überlagert, welche nicht oder nur unzureichend demokratisch legitimiert seien. Daraus erwüchsen Entscheidungen mit nachteiligen Auswirkungen auf den Nationalstaat und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

  • Drittens erfüllten Parteien ihre Vermittlungsfunktion zwischen der Gesellschaft und dem Staat nur unzureichend, weshalb die Bürgerinnen und Bürger ihnen das Vertrauen entzögen und ihre Mitgliedschaft aufkündigten.

  • Viertens nähmen die Medien ihre aufklärende und bildnerische Aufgabe für die Politik nicht mehr wahr, Unterhaltung ersetze Information, Stimmungen träten an die Stelle von Inhalten. Auch würden die audiovisuellen Medien und Printmedien die Wirklichkeit sowie die Sorgen und Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr widerspiegeln und so bei diesen an Glaubwürdigkeit verlieren.

  • Schließlich hätten die Finanzkrisen seit 2008 gezeigt, dass global agierende Investoren, Banken und Unternehmen einerseits und supranationale Regime wie die Weltbank oder die Welthandelsorganisation (WTO) andererseits die Welt "regierten" und an die Stelle der Demokratie die Herrschaft der freien, deregulierten Märkte getreten sei. Die Globalisierung schade den nationalen Volkswirtschaften, bewirke Deindustrialisierung und schwäche die Arbeitsmärkte. Die Folge seien soziale und ökonomische Verwerfungen, eine wachsende Schere zwischen Arm und Reich, kurzum: die Globalisierung schaffe Verlierer, die auch im politischen System nicht mehr gehört würden. Populistische Bewegungen werden vielfach als Reaktion auf diese Entwicklungen angesehen, womit die Spaltung der Gesellschaft nur vertieft und die Krise der Demokratie verschärft werde.

In der Tat ist in den letzten Jahren ein Anwachsen populistischer Bewegungen zu beobachten. So haben vorwiegend links­populistische Bewegungen in Südeuropa, aber nicht nur dort, die Auswüchse der Globalisierung und die Praktiken von global agierenden Wirtschaftsunternehmen und Banken massiv kritisiert und das Ende einer als "neoliberal" bezeichneten Politik der Deregulierung von Kapital- und Arbeitsmärkten gefordert.

Ihr Protest richtete sich auch gegen transnationale Regime wie beispielsweise den Internationalen Währungsfonds (IWF) und Treffen führender Wirtschaftsnationen. Beiden wurde die Verantwortung für diese Prozesse zugeschrieben, aber auch Intransparenz und Aushebelung demokratischer Entscheidungsprozesse (etwa bei der Aushandlung multilateraler Handelsabkommen) auf nationalstaatlicher Ebene vorgeworfen.

Krisenerscheinugen und Krisendiagnosen


Die Kritik ist vielfach zu Krisendiagnosen der Demokratie verdichtet worden. So geht die These von der Postdemokratie, nach dem gleichnamigen Buch des britischen Politikwissenschaftlers und Soziologen Colin Crouch, davon aus, dass Verfahren wie Wahlen zwar nach wie vor stattfinden, sich hinter den Kulissen jedoch grundlegende Veränderungen vollzogen haben, welche die Demokratie vor allem seit den 1960er- und 1970er-Jahren gänzlich verändert hätten.

Die Bürger hätten früher einen größeren Einfluss gehabt, Parteien seien in der Bevölkerung verankert gewesen, Interessen der Arbeiter hätten sich organisieren lassen. Heute hingegen würden Wahlkämpfe vor allem von PR-Experten bestimmt und die reale Politik werde hinter verschlossenen Türen gemacht: von Regierungen und Eliten, die vor allem den Interessen der Wirtschaft dienten. (siehe den Quellentext "Einfluss der Wirtschaft auf die Demokratie" im Kap. "Erfolgs- und Risikofaktoren für Demokratien")

Demokratie - Wir müssen leider draußen bleiben - Karikatur (© Klaus Stuttmann)

Diese Diagnose wird noch zugespitzt durch die These von der simulativen Demokratie, die der Politologe und Soziologe Ingolfur Blühdorn erstmals 2013 zur Diskussion stellte. Danach ist der gegenwärtige Zustand der Demokratie nur als ein Paradox zu beschreiben: Einerseits sind demokratische Grundnormen und Werte nach wie vor gültig; sie werden im politischen Diskurs von allen Seiten beschworen.

Andererseits nehmen Bereitschaft und Fähigkeit ab, sich davon in die Pflicht nehmen zu lassen. Dies betreffe nicht nur die wirtschaftliche Macht und die politisch-administrativen Eliten, sondern auch die anderen gesellschaftlichen Akteure, denen demokratische Normen gleichermaßen lästig wie unverzichtbar seien. Auch das demokratische und autonome Subjekt, der Bürger bzw. die Bürgerin, befreie sich von den demokratischen Zumutungen, weil verstetigtes demokratisches Engagement Kosten verursache, die unter Effizienzgesichtspunkten als nicht mehr tragbar erschienen. Stattdessen orientierten sich Selbsterfahrung und Identitätsbildung an den Leitlinien von Markt und Konsum.

Demnach ist die gegenwärtige "postdemokratische" Konstellation nicht nur das Ergebnis von wirtschaftlicher, medialer und administrativer Macht, sondern auch die Folge eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels, der dafür sorgt, dass sich Bedürfnisse viel besser über den Markt als durch die Demokratie befriedigen lassen. Demokratie werde so zu einer "Als-Ob"-Veranstaltung, die Demokratie simuliere, auf sie kommt es jedoch nicht (mehr) an.

Die Entwicklungen werden auch als eine Krise der repräsentativen Demokratie gelesen. Repräsentative Demokratien sind relativ robuste politische Systeme und basieren auf vermittelnden, stellvertretenden Formen der Entscheidungsbildung. Ein ausgeklügeltes institutionelles Arrangement politischer Ordnung organisiert den Prozess der Willens- und Entscheidungsbildung auf verschiedenen Ebenen und setzt dabei weniger auf die direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger – jenseits von Wahlen – als vielmehr auf die stellvertretende Erledigung von Entscheidungs- und Kon­trollaufgaben. Dabei sucht ein komplexes System wechselseitig aufeinander einwirkender Institutionen, der repräsentativen Demokratie Stabilität, Legitimität und Effizienz zu geben.

Kritischen Beobachtern gilt genau dies als zu abgehoben, zu komplex und zu entscheidungsschwach. Zudem scheint die Verkoppelung des Systems politischer Entscheidungsbildung mit der Arena der Bürgerschaft gestört zu sein. Es tut sich eine Bruchstelle der repräsentativen Demokratie auf, die als zunehmende Distanz zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einerseits und "der" Politik, also den "Eliten" von Politik und Medien andererseits, wahrgenommen wird.

In diese Bruchstelle strömen Populismen ein, die wiederum Entfremdungsgefühle verstärken. Am Ende dieser Entwicklungen könnte eine Form post-repräsentativer Demokratie stehen, die sich als autoritäre Demokratie, als populistische Demokratie oder – in der Kombination beider – als autoritäre Demokratie mit populistischem Unterbau zu erkennen gibt.

Autoritäre Formen der Demokratie

Autoritäre Formen der Demokratie überspielen das Institutionensystem der Demokratie durch die Herrschaft einer Person oder von Eliten. Autoritäre Demokratien beruhen zwar auf Wahlen, Inhaber der Macht zeigen dann aber eine Tendenz, institutionelle Hemmungen wie Gewaltenteilung, unabhängige Justiz oder auch Freiheitsrechte zu beseitigen. In Italien vollzog sich in der Regierungszeit des Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi eine solche autoritäre Überformung der Demokratie. In Osteuropa sind solche Ansätze unter der Formel der "illiberalen" Demokratie zu beobachten. (siehe "Das neue Ungarn", S. 57)

Diese Ansätze verbinden sich mit einer programmatischen Stoßrichtung gegen "westliche" Demokratievorstellungen, gegen eine pluralistische, offene Gesellschaft und gegen Minderheitenrechte. Die Rechte der politischen Opposition werden eingeschränkt, die freie Presse in ihrer Arbeit behindert und Verfassungsgerichte, die den Schutz der Grundrechte gewährleisten und die rechtsstaatliche Kontrolle von Exekutive und Legislative sichern sollen, in ihren Kompetenzen beschnitten.

Karikatur: "Östliche Winde" (© Burkhard Mohr / Baaske Cartoons)

Was ist Populismus, und worin besteht die Gefahr für die Demokratie?

Populismus ist keine Erfindung gegenwärtiger Gesellschaften. Frühe Formen eines agrarischen Populismus gehen zurück auf die intellektuelle Bewegung der Narodniki im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts. Auch die Bewegung der Agrarier in Nordamerika, die sich in der People’s Party vereinte, war ein populistisches Phänomen. Die lateinamerikanischen Populismen hatten eine Blütezeit in den 1940er- und 1950er-Jahren und sind mit den autoritären Regimen von Juan Perón in Argentinien und Getúlio Vargas in Brasilien verbunden.

Während sich in Lateinamerika der Populismus in den letzten Jahrzehnten eher in linkem Gewande zeigte (etwa in Venezuela unter Hugo Chavez), wurde er in Europa seit den 1970er-Jahren zunehmend mit rechten Gruppierungen und Parteien in Verbindung gebracht. Einige von ihnen sind offen antidemokratisch, andere verbergen ihre antidemokratische Haltung hinter einer Fassade bürgerlicher Rhetorik. Einige rechte Parteien positionieren sich als Anti-Migranten- und zunehmend auch als Anti-Islam-Parteien, viele inszenieren sich als Protestparteien.

Zugleich spricht der Populismus der neuen Rechten fremdenfeindliche, rassistische oder nationalistische Einstellungen an und konzentriert sich auf Themen wie Migration, Kriminalität und die Wahrung nationalstaatlicher Souveränität.Diese Bewegungen sind zunehmend kritisch bis ablehnend gegenüber der Europäischen Union und der Globalisierung.

Trotz historisch unterschiedlicher Varianten des Populismus lassen sich fünf Merkmale angeben, die den Populismus charakterisieren.

  • Erstens bezieht sich der Populismus sprachlich immer auf das "Volk" und/oder auf den "kleinen Mann" bzw. die "kleinen Leute", manchmal auch schlicht auf den "einfachen Bürger".

  • Zweitens konstituiert sich der Populismus mittels scharfer Abgrenzung, seine Rhetorik unterscheidet grundsätzlich zwischen "wir" und "sie", "oben" und "unten", "innen" und "außen".

  • Drittens werden mit "sie", "oben", "unten" und "außen" kollektive Vorstellungen der Bedrohung konstruiert, die dem eigenen "wir" Sinn und Identität geben. Dabei gelten "wir" als rechtschaffen, die "Elite" als Betrüger oder Verräter.

  • Viertens lebt der Populismus von Homogenitätsbehauptungen. Unterschiede sozialer, ökonomischer, kultureller oder politischer Art gehen in den Kollektivbezeichnungen "das Volk", "der kleine Mann", "wir" und "sie" usw. unter. Die Behauptung angeblicher Homogenität legitimiert die Ansinnen des Populismus als Vertreter der "schweigenden Mehrheit" und korrespondiert mit dem – beabsichtigten – Effekt der Ausgrenzung Anderer und der Unterscheidung zwischen "denen" und "uns".

  • Fünftens etabliert der Populismus in allen seinen – totalitären, autoritären, demokratischen – Erscheinungsformen eine Mobilisierungsstruktur von charismatischer Leitfigur und Anhängerschaft, von – zugespitzt formuliert – Führer und Gefolgschaft.

Populismus und Demokratie beziehen sich beide auf den Begriff des Volkes. Populismus könnte so verstanden werden, als verwirkliche sich in ihm erst die Demokratie, denn diese beruht bekanntlich auf der Souveränität des Volkes. Populismus kann also eine Herausforderung für die Demokratie sein, ihr eigenes Versprechen einzulösen.

QuellentextDie "Wahrheit" des Populismus

Wie kann man mit jemandem diskutieren, der unter den vermeintlich völlig klaren Begriffen "Wahrheit" oder "Demokratie" etwas völlig anderes versteht als man selbst? Nur sehr schwer, meint [der] Linguist […] Martin Haase, denn mitunter begegnet man Menschen, die die Sprache des Populismus sprechen. Haase lehrt romanische Sprachwissenschaft an der Universität Bamberg [und] betreibt das Blog neusprech.org […]. […] Wahrheit ist in erster Linie das, was die "Lügenpresse" verschweigt, weil sie einer "Meinungsdiktatur" unterliegt.

Die Wahrheit ist ein sehr wichtiges Konzept des Populismus, weil sie stets einfache Gewissheiten beinhaltet und nie kompliziert oder schwer zu durchschauen ist. Zudem ist die Wahrheit des Populismus stets dystopisch [im Sinne einer negativen Utopie] gefärbt und dazu angetan, Ängste zu schüren. Meistens muss etwas oder jemand "weg" – "und zwar immer mit Ausrufezeichen!", so Haase – damit alles wieder gut wird: […] Was folgen soll, wenn das, was weg muss, irgendwann einmal weg sein sollte, dafür gibt es kein Konzept. Auch das ist ein Kennzeichen des Populismus: Er malt Dystopien an die Wand, hat aber kein Gegenmodell zu bieten.

Den derzeit besonders ausgeprägten Rechtspopulismus erkennt man an Forderungen wie der nach einem "Recht der Mehrheit", der Forderung nach einem starken Staat und der Schuldzuweisung an eine Minderheit, die nicht genauer spezifiziert wird. Da werden Flüchtlinge und Einwanderer in einen Topf geworfen und mit Moslems, Islamisten und Terroristen gleichgesetzt – so genau muss man es nicht nehmen, die "Wahrheit" darf nicht zu komplex werden. […]

[…] [Die] Logik des populistischen Denkens […] drückt sich in einer eigenen Sprache aus, die mit Bedeutungsverschiebungen und Umdeutungen arbeitet. Das wohl populärste Beispiel ist der allgegenwärtige "Gutmensch", der […] ursprünglich so viel wie "Naivling" bedeutet. Doch im Populismus werden die Gutmenschen zu den eigentlich Bösen, weil sie "politisch korrekte" Sprache verwenden. Politische Korrektheit ist ein weiteres rotes Tuch des Populisten, der darin seine "Meinungsfreiheit" beschnitten sieht – und zwar genau so: Seine eigene, vermeintlich unterdrückte Meinung, nicht die Meinung anderer, die er mit deutlich weniger Furore verteidigt.

[…] [Auch] zeigen Populisten wenig Berührungsängste mit historisch belasteten Wörtern. Ein bekanntes Beispiel ist die Forderung […], den Begriff "völkisch" [zu] entlasten und in die Alltagssprache zurück[zu]führen […]. Allerdings war er dort nie: Er war als deutsche, also entlatinisierte Variante des Begriffes "national" eingeführt worden und machte um 1940 herum Karriere in antisemitischen Kreisen, die damit all das bezeichnen wollten, was nicht jüdisch war.

Aus einem ähnlichen nationalsozialistischen Dunstkreis stammt die "Umvolkung", mit der einst die geplante Re-Germanisierung slawischer Volksgruppen in den Ostgebieten gemeint war. Heute steht er für die Annahme, in Deutschland und Österreich sollten mittels gezielter "Überfremdung" Deutsche zu einer Minderheit gemacht werden, die "fremd im eigenen Land" ist. Wer der Urheber eines solchen Planes ist, darum ranken sich zahlreiche Verschwörungstheorien […], immer jedoch ist "die Wahrheit" schlicht und monokausal und hat mit der Weltherrschaft kleiner Elitengrüppchen zu tun, die alles lenken, worüber man jedoch nicht sprechen oder schreiben darf. […]

Der Populismus verfolgt mit seinen Sprachschöpfungen zwei Ziele, so Haase: Die Provokation einerseits und die Bestimmung des Diskurses andererseits. Insofern liegt es an uns und an den Medien, sorgsam mit Wörtern umzugehen. […] [W]enn man mit Populisten redet, solle man sich klarmachen, dass man mitunter nicht auf der gleichen semantischen Grundlage argumentiert. Da helfe nur nachfragen […]: Was genau ist denn Ihre Wahrheit? Was verstehen Sie darunter?

Andrea Diener, "Die Sprache der Populisten", in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Dezember 2016; Zusammenfassung eines Vortrags von Martin Haase auf dem 33. Chaos Communication Congress in Hamburg, Dezember 2016

Anders – und geläufiger – ist die Vermutung, dass der Populismus die Demokratie in ihrem Kern gefährdet und letztlich auch zerstört. So verstanden, ist Populismus die pathologische Seite der Demokratie, eine Hydra, die der Demokratie wie ein Schatten folgt und in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder bedrohlich ein neues Haupt erhebt.

Populistische Einstellungen und Bewegungen scheinen in demokratischen Systemen bevorzugt dann zu entstehen, wenn die Balance zwischen den beiden Pfeilern, den Repräsentanten und den Repräsentierten, "den Politikern" und "dem Volk" verloren gegangen ist. Das Gefühl, dass sich das Verhältnis einseitig zugunsten der repräsentativen Institutionen verschoben hat, und die Vermutung, dass Repräsentanten in einer wachsenden Distanz zu den Repräsentierten handeln, können zu populistischen Reaktionen führen.

Karikatur: "Konsensgesellschaft" (© Gerhard Mester)

Diese fordern als "Stimme des Volkes" oder des "einfachen Bürgers" die Wiederherstellung der demokratischen Komponente in unmittelbarer, nicht durch Repräsentanten vermittelter Form. Solange dies situationsbezogen geschieht und die institutionelle Verfassung der Demokratie insgesamt respektiert wird, kann Populismus als Korrektur einer aus der Balance geratenen repräsentativen Demokratie gelten. In dieser Form muss Populismus keine Bedrohung für die Demokratie darstellen, sondern kann eher wie eine Frisch­zellen-Kur wirken.

Problematisch wird es dort, wo populistische Bewegungen Druck auf die Mechanismen der konstitutionellen Kontrollen und Balancen der Demokratie ausüben. In der Regel weisen sich ihre Protagonisten nicht durch großen Respekt gegenüber den Prinzipien der Gewaltenteilung und Machtverteilung aus. In der Pose von Volkstribunen reklamieren sie die Macht für "das Volk".

Der Populismus misstraut allen Einrichtungen, die eine gewisse institutionelle Unabhängigkeit besitzen, wie sie etwa Verfassungsgerichte oder die freie Presse innehaben. Territoriale und funktionale Aufteilungen von Macht laufen einem für unteilbar erklärten Volkswillen zuwider. Mit diesem populistischen Misstrauen gegenüber den Institutionen der repräsentativen Demokratie geht oft eine Geringschätzung, bisweilen sogar Ablehnung der verfassungsmäßig garantierten Rechte von ethnischen, nationalen, kulturellen und religiösen Minderheiten einher.

Zusammengenommen können diese Einstellungen kaum als Beleg für die Fähigkeit populistischer Bewegungen zu demokratischer Erneuerung gewertet werden. Der Populismus wahrt auch dann, wenn man ihm teilweise innovative und progressive Wirkungen zuschreiben möchte, ein höchst zwiespältiges Verhältnis zur modernen, konstitutionell eingehegten und begründeten Demokratie.

Auch unter repräsentationstheoretischen Gesichtspunkten lassen sich Populismus und Demokratie nicht vereinbaren. Populismus basiert im Kern auf einer Illusion, dem Phantasma einer organischen Einheit des politischen Gemeinwesens (so der französische Philosoph Claude Lefort, 1924–2010).

Ein solches klar und eindeutig definiertes politisches Kollektiv lässt sich rhetorisch leicht gegen die faktisch anstrengenden und langwierigen demokratischen Prozesse in Stellung bringen. Dieser Prozess des "langsamen Bohrens dicker Bretter" (Max Weber), mit dem gegensätzliche Interessen artikuliert und ausgeglichen werden, ist jedoch die einzig mögliche Methode, dem unhintergehbaren Pluralismus zeitgenössischer Gesellschaften gerecht zu werden.

Erleichtert wird dies populistischen Protagonisten durch die Tatsache, dass sie komplexe Probleme auf einfachste Erklärungen reduzieren – ohne sich aber zwangsläufig für deren Lösung verantwortlich zu fühlen. Dies ließ sich in Großbritannien 2016 nach der Entscheidung für den EU-Austritt bei einigen prominenten Befürwortern des Austritts beobachten.

Komplexität und Pluralismus aber leugnet der Populismus. Seine Fiktion einer homogenen politischen Einheit gebiert eine Logik, welche die Idee der Differenz und des Anderen aus dem Vorstellungshaushalt der Demokratie eliminiert. Die Idee von Einheit, Identität und politischer Gemeinschaft – unter dem Begriff der "Volksgemeinschaft" bereits vom NS-Regime für dessen Zwecke instrumentalisiert –, wird zur Schnittstelle zwischen Populismus und Totalitarismus.

Moderne Demokratien aber müssen darauf bestehen, dass die Pluralität von Werten und Interessen nur auf dem Wege notwendig konflikthafter Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zu einem zeitweiligen Ausgleich gebracht werden kann. Die Demokratie basiert auf der Idee einer offenen Gesellschaft, die über die politische Ebene von Fall zu Fall integriert wird, während der Populismus auf der Imagination einer geschlossenen, homogenen kollektiven Einheit beruht, die politisch im vermeintlich einheitlichen Volkswillen ihren unmittelbaren Ausdruck findet.

QuellentextDie Utopie einer homogenen Identität

[…] Die Parteien der Berliner Republik (um in Deutschland zu bleiben) sind enger zusammengerückt, auch, weil die Bedeutung ideologischer Gegensätze schwindet. Links und rechts der breit gewordenen Mitte ist Platz entstanden; links sitzt jetzt die Linke […]. Es ist […][aber auch] eine rechte Alternative entstanden zum bestehenden Grundkonsens der etablierten Parteien. Bei allen Unterschieden liegt dieser Konsens darin, dass der Rechtsstaat und staatliches Handeln universalistisch ausgerichtet sind: Es geht um die Würde aller Menschen, um Gerechtigkeit für jedermann und um Gleichheit vor dem Gesetz. Gestritten wird über die Grenzen dieses Universalismus […].

Der Rechtspopulismus denkt dagegen partikularistisch. Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit gelten zunächst einmal innerhalb der eigenen Gruppe: der Nation, der Steuerzahler, des Abendlandes. Kulturen und Identitäten sollen sich nicht vermischen […]. Das Fremde soll draußen bleiben, gerade weil die Welt so befremdlich geworden ist: der Fremde, die fremde Religion oder Lebensweise, der fremde Gedanke.

Die mal latente, mal aggressive Ausländerfeindlichkeit der Bewegung ist das auffälligste Symptom der Sorge um den Verlust der Identität. Sie muss in Abgrenzung zum Anderen gesichert und neu hergestellt werden. Das Wort "identitär" passt da recht gut, weit über die "identitäre Bewegung" hinaus, die annimmt, dass es unveränderliche Volkseigenschaften gibt, denen durch Vermischung die Zerstörung droht. […]

[Doch d]ie harmonische wie homogene, von gleichen Werten getragene Gesellschaft, die da gezeichnet wird, hat es ja nie gegeben. […]

Der Rechtspopulismus will […] Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung geben. Er setzt dem Untergangsszenario eines Westens […] die Utopie einer reinen, in sich gemeinschaftsverantwortlichen und stabilen Ordnung entgegen. […]

Die Folie dafür ist eine in die Vergangenheit projizierte Reinheits­ideologie, so wie der Marxismus eine auf die Zukunft hin projizierte Reinheitsideologie ist. Bei allen Unterschieden denken auch die Salafisten ähnlich, wenn sie glauben, man könne die reine Zeit des Propheten Mohammed wiederherstellen. […]

[I]hre Anhänger […] sehen sich als Avantgarde, als mutige Minderheit im Kampf gegen das Establishment, den Main­stream, die angeblich übermächtige Affirmation. Überraschend viele Techniken der politischen Auseinandersetzung entstammen dem Repertoire der 68er-Bewegung: der Tabu- und Konventionsbruch, die Aggressivität in der Auseinandersetzung, die Unbedingtheit in der Position, die eigene Publizistik mit eigenen Verbreitungswegen. […]

Das Ziel der Bewegung ist die autoritäre Herrschaft der Mehrheit über die diversen Minderheiten. Zum demokratischen Rechtsstaat gehört aber auch der Schutz von Minderheiten, die keine Wahlen gewinnen können – selbst dort, wo dieser Schutz die Geduld und den Geldbeutel der Mehrheit strapaziert. Der Gruppenegoismus unterscheidet dagegen zwischen Dazugehörigen und Nicht-Dazugehörigen; für die Nicht-Dazugehörigen, für Muslime zum Beispiel, kann es dann auch mindere Rechte geben. Internationale Beziehungen stehen unter Vorbehalt – erst mal ist das eigene Land dran.

Karikatur: Populismus (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)

[…] Man wird sich mit dem neuen Rechtspopulismus ernsthaft und langfristig auseinandersetzen müssen. […] Es ist der Realismus-Check. Ihr wollt die Gesellschaft ändern – aber wohin? Wie soll das umgesetzt werden, was wären die Folgen? […]Ja, eine gemischte Gesellschaft bringt Probleme mit sich, ein komplexes politisches System hat Widersprüche. Beide können aber viel besser mit Veränderungen und Krisen umgehen als eine angeblich homogene Gemeinschaft. Sie muss ihre stets bedrohte Homogenität pausenlos aggressiv verteidigen. Wer, ganz spießig, ein friedliches Leben im Wohlstand haben will, darf das nicht wollen. […]

Matthias Drobinski, "Reinheitsfanatiker", in: Süddeutsche Zeitung vom 13. August 2016

Strukturumbrüche als Stressfaktoren


In den Kritikpunkten und Krisenszenarien sowie in den populistischen Bewegungen kommen gewiss Besorgnisse, Probleme und Gefährdungen der Demokratie zum Ausdruck. Sie stellen die Demokratie vor Herausforderungen, müssen aber nicht notwendigerweise ihre Fortbestand gefährden oder gar beenden, wie es in Italien und Deutschland in der Zwischenkriegszeit, sodann in Spanien (1936 – 1939), Griechenland (1965 – 1967) und in Chile (1970 – 1973) der Fall war. Dort verfielen demokratische Strukturen und Verfahren, Grund- und Menschenrechte wurden beseitigt, Medien und kritische Öffentlichkeit unterdrückt.

Im Vergleich dazu ist die Demokratie in Europa heute trotz der zahlreichen Krisenerscheinungen immer noch von einem hohen Maß an Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger getragen, wie der Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel betont. Diese Zufriedenheit hat von 1973 bis 2013 – ausweislich der Eurobarometer-Umfragen – nicht abgenommen. Das gilt auch für Deutschland. Und auch die Qualität der 30 am weitesten entwickelten Demokratien lag 2014 höher als 1990.

Jedoch haben in den vergangenen Jahren zweifellos Umbrüche stattgefunden, deren Auswirkungen sich möglicherweise erst jetzt, nicht zuletzt in den (rechts-)populistischen Reaktionen, zu erkennen geben. Dabei ist noch offen, ob im Zuge dieser Auswirkungen die Zufriedenheit mit der Demokratie mittelfristig generell abnehmen wird, ob sich bestehende Demokratien in einem Prozess der schleichenden Destabilisierung befinden oder ob es sich bei den Protesten und dem Anwachsen rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien nur um vorübergehende Phänomene handelt, die Ausdruck spezifischer, demokratisch zu bewältigender Problemlagen sind.

Globalisierung

Zu diesen Umbrüchen zählen die Globalisierung von Märkten, aber auch von Problemen, die regional oder einzelstaatlich nicht zu lösen sind. Supranationales Krisenmanagement hat demokratische Handlungsräume und Zeithorizonte eingeschränkt. Denn auf dieser Ebene werden Entscheidungen schnell und in intergouvernementaler Abstimmung getroffen, was zur Folge hatte, dass in den nationalstaatlichen Demokratien die Exekutive zulasten der Parlamente gestärkt wurde.

Gleichzeitig hat die Bedeutung supranationaler Einrichtungen – wie beispielsweise der Europäischen Zentralbank oder des Mechanismus zur Stabilisierung der Finanzmärkte – zugenommen. Wie sich internationale Organisationen und Regime jedoch demokratisieren und wirksam kontrollieren lassen, ist nach wie vor ungeklärt, das Modell der Nationalstaaten ist hierzu nur bedingt tauglich.

QuellentextKrisenbewusstsein als Dauerzustand

Herr Professor Sauer, glaubt man den gesamtwirtschaftlichen Daten, geht es den Deutschen gut. Trotz Finanz- und Euro-Krise wächst die Wirtschaft seit Jahren. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Erwerbstätigkeit liegt auf Rekordniveau. Ist die große Krise überhaupt je in den deutschen Betrieben angekommen?
Zu Beginn der Finanzkrise 2009 schon, da gab es in vielen Betrieben einen Rückgang der Produktion und verkürzte Arbeitszeiten. Die Beschäftigten haben damals auch ihren Preis für die Krisenbewältigung bezahlt. Dem folgte aber schon bald ein konjunktureller Aufschwung. […]

Ohne Krisenangst müssten die Belegschaften in den deutschen Betrieben also glücklich sein.
Glücklicher vielleicht als in anderen Ländern. Aber nicht glücklich. Zwar ist die deutsche Wirtschaft gut durch die vergangenen Jahre gekommen. In den Betrieben sehen die Belegschaften aber eine andere Krise: die permanente Krise. Damit gemeint ist die beständige Restrukturierung der Abläufe im Betrieb: Verlagerungen, Outsourcing, Betriebsschließungen, Kostensenkungsprogramme, Leistungsverdichtung und so weiter. […] Die Drohung mit Produktionsverlagerung ist schon Alltag. Für die Beschäftigten folgen daraus zunehmende Zukunfts­ängste. Selbst wenn das Unternehmen floriert, bringt ihnen das nicht automatisch Sicherheit. Vorgänge wie die Verlagerung von Produktionsstätten sind ja ohnehin kein Krisenphänomen, sondern finden eher statt, wenn es Unternehmen gut geht. Verlagerungen kosten schließlich viel Geld.

Viele Betriebe sind gezwungen, Produktion zu verlagern, um Kosten zu sparen und im Wettbewerb zu bestehen …
Klar, es gibt ökonomische Zwänge. Aber die Betriebe haben oft eine gute Auftragslage, trotzdem wird bei den Beschäftigten gespart. Offensichtlich handelt es sich hier um Interessenfragen und nicht einfach um ökonomische Zwänge. […]

Sie sprechen von Zukunftsängsten. Angesichts der gesunkenen Arbeitslosigkeit müssten die Beschäftigten doch nicht so viel Angst um ihre Arbeitsplätze haben?
Es stimmt, das Gefühl der Arbeitsplatzgefährdung hat abgenommen. Zugenommen hat dagegen, was wir Arbeitskraftgefährdung nennen: Die Beschäftigten fürchten vermehrt, den Leistungsanforderungen nicht mehr zu genügen. Denn diese Anforderungen verschärfen sich permanent, ob Krise oder Aufschwung, ob im Exportsektor oder im Pflegebereich. Taktzeiten werden verkürzt, Stellen gestrichen, immer mehr muss in derselben Zeit erledigt werden. […] Und die Beschäftigten gehen auch davon aus, dass das so bleibt. Die Zukunft wird pessimistisch gesehen: Kaum jemand geht davon aus, dass es seine Kinder einmal besser haben werden.

Gewöhnt man sich an Krisen?
Es gibt schon mittlerweile Beschäftigte, die seit Jahrzehnten in ungesicherten Verhältnissen arbeiten, zum Beispiel bei den Auto-Zulieferern. Dort hat man eine Art Kompetenz erworben, mit unsicheren Situationen umzugehen. Und vielfach wird auch die Erfahrung gemacht, dass man Krisen am Ende meistert. […]

Das Krisenbewusstsein führt aber nicht zu Protest oder Widerstand.
Das nicht. Was wir in den Betrieben aber finden, ist ein Gefühl der Ohnmacht und der Wut. Die Wütenden wissen aber gar nicht mehr so richtig, gegen wen sie sich wenden sollen. […]

Warum fehlt der Wut der Adressat?
Die Schuld an der Krise wird nicht dem eigenen Betrieb, dem Management oder dem Werksleiter gegeben. Die jüngste Krise ging von den Finanzmärkten aus. Aber wo sind die? Die Finanzmärkte erscheinen als eine virtuelle Welt, die weit von Betrieb, Produktion und Erfahrungswelt der Menschen entfernt ist. Die Finanzkrise ist irgendwo da draußen. Das lässt die Sphäre von Wirtschaft und Krise noch mysteriöser erscheinen. Und das fördert ein Gefühl der Ohnmacht. Die Menschen fühlen sich von der Komplexität der Probleme überfordert. Die große Mehrheit hat nicht das Gefühl, irgendeinen Einfluss auf das Handeln der Regierung zu haben. […]

Gleichzeitig aber herrscht der Eindruck vor, die politischen Repräsentanten seien angesichts der ökonomischen Machtverhältnisse ohnmächtig. Zudem wird der Staat als von mächtigen Interessengruppen gekapertes Gebilde gesehen. Er gilt nicht mehr als "unser Staat", sondern als "Staat der anderen". […] Denn es herrscht das Primat der Ökonomie und nicht das Primat der Politik.

Stefan Kaufmann im Interview mit Dieter Sauer, Sozialforscher und Vorstand des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München. Sauer lehrt Soziologie an der Uni Jena.

"Krise ist immer" in: Frankfurter Rundschau vom 9. März 2013

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt

Diese Frage ist Gegenstand einer Auseinandersetzung, die auch die Europäische Union in den Fokus der Kritik gerückt hat. Globale Demokratisierungsoptimisten stehen Kritikern gegenüber, die die Übertragung demokratischer Souveränitätsrechte auf überstaatliche oder transnationale Regime skeptisch beurteilen. In diesem Konflikt geht es um die Möglichkeiten demokratischer Partizipation und Verantwortlichkeit, auch im Bereich der Ökonomie, sowie um die Behauptung nationaler Selbstbestimmung angesichts global organisierter Waren-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte.

Dieser Konflikt ist nicht einfach zu lösen. Indes wird wohl argumentiert werden können, dass eine marktkonforme Demokratie, die alles den (finanz-)ökonomischen Erfordernissen unterordnet, genauso wenig zur Problemlösung beiträgt wie ein demokratischer Protektionismus, der sein soziales und wirtschaftliches Heil in der Abschottung von internationalen Märkten und Gesellschaften sucht.

Dabei ist die Auseinandersetzung um die richtige Strategie im Umgang mit der Globalisierung und ihren Folgen keineswegs nur von theoretischem Belang. Denn die Globalisierung hat auch Verwerfungen und Ängste in der Bevölkerung demokratischer Gesellschaften ausgelöst, die diese zu spalten drohen und die zur Entstehung globalisierungskritischer Bewegungen und Parteien geführt haben.

Mit Globalisierung wird dabei neben der internationalen Verflechtung von Politik und Wirtschaft auch der technologische Wandel verbunden. Er hat nicht nur zu einer weltweiten Verdichtung der Kommunikationsnetze geführt, sondern ebenso als Digitalisierung und Automatisierung der Arbeitswelt vielfach zum Verlust von ehedem als sicher geltenden Arbeitsplätzen beigetragen.

Gleichfalls der Globalisierung zugeordnet werden die durch geopolitische Krisen und sozioökonomische Strukturen ausgelösten Migrationsbewegungen. In ihrem Gefolge begehren viele Geflüchtete und Asylsuchende Aufnahme in europäische Staaten und treffen innerhalb der Europäischen Union auf die offenen Grenzen des Schengen-Raums.

Insgesamt, so zeigen empirische Erhebungen (zuletzt 2016 der Bertelsmann-Stiftung), verbindet knapp die Hälfte der EU-Bürgerinnen und -Bürger mit diesen der Globalisierung zugeschriebenen Entwicklungen Gefahren. Globalisierungskritiker sehen Migration häufiger als Problem, sie sind auch skeptischer gegenüber staatenübergreifenden Strukturen wie der EU und der Politik im Allgemeinen – und sie sind empfänglicher für konservativ-nationale Vorstellungen, (rechts-)populistische Bewegungen und Parteien.

Wandel der gesellschaftlichen Teilhabe

Insgesamt hat sich das Teilhabeverhalten vieler Menschen gewandelt. Die soziale Trennschärfe hat zugenommen: Angehörige der mittleren und oberen Bildungs- und Einkommensschichten der Gesellschaft beteiligen sich wesentlich häufiger an der Politik als solche, die dem unteren Drittel der Gesellschaft zugerechnet werden.

Während vor 50 Jahren politische Aktivität noch weitgehend an Parteien und ihre Vorfeldorganisationen (beispielsweise Gewerkschaften, Kirchen, Vereine oder Jugend- und Studentenorganisationen) gebunden war, ist das gesellschaftliche Engagement mittlerweile deutlich unkonventioneller, punktueller und zeitlich begrenzter geworden.

Und mit der Verbreitung der sozialen Netzwerke hat sich auch das Kommunikationsverhalten von Bürgerinnen und Bürgern verändert: Mit ihnen lassen sich Flashmobs, spontane Protestaktionen wie auch Shitstorms organisieren, die, je auf ihre – manchmal aggressiv-demagogische – Weise, Politik und Politiker in der repräsentativ verfassten Demokratie kontrollieren – im Sinne einer Monitory Democracy – oder kritisieren.

Die "vernetzte Macht der Vielen" (so der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen), die das Internet ermöglicht, stellt eine neue, große Herausforderung für demokratische Politik dar. So hat die Sphäre der Öffentlichkeit durch die massenmediale Überlagerung auf der einen und die digitale Fragmentierung auf der anderen Seite einen erheblichen Strukturwandel durchlaufen, dessen Folgen für die Institutionen der Demokratie noch nicht wirklich absehbar sind.

Immer wieder fordern die weltweite Kommunikation und der beschleunigte Wechsel von Themen und Agenden nach sofortigen Reaktionen der Politik, welche die komplexen Entscheidungsprozesse, die sich in den Institutionen und Verfahren der repräsentativen Demokratie vollziehen, schwerfällig aussehen lassen. Die Demokratie wird hier mit einem Erwartungsdruck unmittelbarer Handlungsfähigkeit konfrontiert, der in Krisenphasen zwar gerechtfertigt erscheinen mag, aber in Normalzeiten den langwierigen Prozessen der Entscheidungs- und Kompromissbildung widerspricht.

Plädoyer für gesunden Realismus


Es ist zweifellos sinnvoll, sich der Gefährdungen und Herausforderungen der gegenwärtigen Demokratie bewusst zu sein. Doch sollten die Maßstäbe der Kritik nicht so weit verschoben werden, dass die Demokratie viel zu hohen normativen Erwartungen ausgesetzt wird und ihr deshalb in einer Krise kaum noch Chancen gegeben werden – wie das beispielsweise in der Rede von der "Postdemokratie", der "simulativen Demokratie" und anderen Krisendiagnosen der Fall ist.

Hier werden Entwicklungen der letzten Jahrzehnte auf der Folie eines vermeintlich "goldenen Zeitalters" der Demokratie beurteilt und in den Veränderungen das nahende Ende der Demokratie diagnostiziert. Vor solchen alarmistischen Warnungen sollten indes ein Schuss empirisch gesättigter Realismus und eine nüchterne Bilanz der Geschichte der Demokratie schützen.

Nach wie vor gilt der Ausspruch des englischen Staatsmannes Winston Churchill vom 11. November 1947 bei einer Rede im Unterhaus: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind." Oder, mit dem Demokratieforscher Manfred G. Schmidt formuliert, " […] die zweitbeste Demokratie ist immer noch besser als die beste Nicht-Demokratie". Die Demokratie mag nur als das kleinere Übel angesehen werden, vereint aber andererseits so viele Vorteile auf sich, dass sie weiterhin als die beste bekannte Herrschaftsform bezeichnet werden kann.

Einer dieser Vorteile ist ihre Lernfähigkeit, die sie in die Lage versetzt, auch große Herausforderungen zu bestehen, Probleme zu bewältigen und dabei ihre Nachteile so zu verarbeiten, dass sie gestärkt aus Krisen hervorgeht. So ist die Demokratie eben keine einfache Volksherrschaft mehr und damit nicht in Gefahr, den Befürchtungen der Kritiker in Antike und früher Neuzeit zu entsprechen, sie führe zu "Pöbelherrschaft" (Aristoteles), zu Verfall (Platon) und Anarchie (Machiavelli).

Die moderne Demokratie ist gemäßigt, basiert auf Gewaltentrennung, repräsentativer Willens- und Entscheidungsbildung und – ganz entscheidend – auf Recht und Verfassung. Mit der Achtung von Recht und Gesetz, mit unabhängigen Gerichten und einer Verfassungsgerichtsbarkeit kann auch der von Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschworenen Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit begegnet werden. Individuen und Minderheiten müssen sich nicht bedingungslos einer Mehrheit beugen, die sich ja auch irren kann. Leben, Freiheit und Eigentum genießen den Schutz des Rechtes. Individuelle Freiheit und demokratische Selbstregierung lassen sich in der modernen Demokratie miteinander vereinbaren.

Auch für das sogenannte Paradox der Demokratie wurde eine Lösung gefunden. Wird sie als unbegrenzte Mehrheitsherrschaft verstanden, dann hätte diese Mehrheit auch die Möglichkeit, die Demokratie abzuschaffen. Heutige Demokratien errichten Hindernisse der Selbstpreisgabe. Zum einen stößt die schlichte Mehrheitsherrschaft an die Grenzen des Rechtes und der Verfassung, zum anderen versucht die Demokratie schon im Vorfeld, solchen Bestrebungen entgegenzutreten, die eine Abschaffung der Demokratie – sei es mit Gewalt oder auf parlamentarischem Wege – fordern. Die Demokratie ist – in Deutschland vor allem nach den Erfahrungen von Weimar – wehrhaft geworden.

Demokratien haben auch gelernt, mit grundlegenden gesellschaftlichen Problemen umzugehen. Sie können besser als nicht-demokratische Systeme zwischen Staat und Gesellschaft vermitteln. Durch Repräsentativität und Responsivität ihrer Institutionen greifen sie Problemlagen aus der Gesellschaft auf und entschärfen sie, indem sie sie zu allgemein verbindlichen Entscheidungen verarbeiten. So hat sich durch die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen in Reaktion auf die "soziale Frage" beispielsweise die soziale Demokratie herausgebildet.

Gleichwohl vermag die Demokratie keineswegs alle Probleme zu lösen. Immer wieder wird ihr vorgehalten, dass sie nur die gut organisierten und machtvoll artikulierten Interessen berücksichtige und dabei nur die kurzfristigen Ziele, nicht aber das nachhaltige Gemeinwohl, auch nicht die Belange nachfolgender Generationen, im Auge habe. Das mag in der Tat eine Achillesferse der Demokratie sein, aber ein prinzipieller Einwand gegen diese Herrschaftsform ist es nicht.

Die Demokratie ist die einzige Herrschaftsform, die es den Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, Regierende zu sanktionieren, ohne das politische System selbst beseitigen zu müssen. Politische Führung kann ausgewechselt werden, weil es in der Demokratie nur Herrschaft auf Zeit gibt. Die Opposition von heute kann morgen schon Regierung sein, aus einer Minderheit kann eine Mehrheit werden. Transparenz ermöglicht Kontrolle und schützt vor Machtmissbrauch. Konflikte können bewältigt werden, ohne dass die Kontrahenten zu Mitteln der Gewalt greifen müssen.

Und vor allem: Nur der Wille der Bürgerinnen und Bürger, artikuliert in Wahlen und Abstimmungen, begründet und legitimiert die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Nur die Demokratie bietet den Menschen die Chance, sich umfassend an Willensbildung und Entscheidungsfindung zu beteiligen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, und das in vielen Weisen: vom Engagement in Parteien über Bürgerinitiativen bis zu Protestaktionen. Denn schon die alten Griechen wussten es, als sie die Demokratie erfanden: Die Politik ist vor allem die Sache der Bürgerschaft.

Prof. Dr. Hans Vorländer, geb. 1954, hat seit 1993 den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden inne. Er ist dortselbst Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung.
Seine Forschungsschwerpunkte sind: Politisches Denken und Vergleichende Politikforschung, Politische Theorie und Ideengeschichte, Konstitutionalismus und Verfassung, Demokratie, Liberalismus und Populismus.