Luthers Institutionenkritik zielte ursprünglich keineswegs auf
die Spaltung der Christenheit oder auf die Gründung einer neuen
Kirche. Die Dynamik der reformatorischen Bewegung führte ihn
in seinen großen Reformschriften von 1520 allerdings zu der Konsequenz,
dass auch neue Strukturen erforderlich sein könnten.
Die aus ihrer Perspektive verständliche, kompromisslose Haltung von Papst und Kirche, die Luther, dem Ketzer, den Bann androhten (1520), sodass auch der Kaiser die Acht aussprechen musste (1521), verschärfte die Konfrontation. Die Wittenberger Unruhen (1522) und schließlich die Bauernaufstände (1524–26) signalisierten den Reformatoren ebenso wie den ihnen zuneigenden hochadligen Entscheidungsträgern, dass ein gefestigter Weg für die Verstetigung der reformatorischen Bewegung nötig war.
Als sich die religionsbezogenen Gegensätze auf den Reichstagen (Worms 1521, Speyer 1 1526, Speyer 2 1529, Augsburg 1530) zuspitzten, war es auch aus Sicht der protestierenden Stände und ihrer reichspolitischen Ziele unvermeidbar, dass sich ein neues Kirchenwesen etablierte.
Allerdings traten auch innerhalb der reformatorischen Bewegung Spannungen zutage. Über die seit 1524 (von Huldrych Zwingli in Zürich, Martin Bucer in Straßburg und Johannes Oekolampad in Basel) kontrovers diskutierte Frage, wie beim Abendmahl Leib und Blut Jesu Christi anwesend sind – real, verwandelt oder symbolisch –, konnte trotz des Marburger Religionsgesprächs 1529 keine Einigung erzielt werden. So wurden für den Reichstag zu Augsburg verschiedene Bekenntnisse formuliert; unter ihnen gewann das "lutherische" Bekenntnis, die Confessio Augustana,
einigende Bedeutung. Ihr Verfasser, Philip Melanchthon
(1497–1560), hatte sich bemüht, möglichst wenige Streitpunkte
offen zu halten und auch diese als überwindbar zu charakterisieren.
Zeitgleich begann sich die Kirche der Reformation zu festigen, spätestens seit 1530 war die Spaltung der Christenheit besiegelt. Dies war die erste und sichtbare Folge der reformatorischen Bewegung, die von den Beteiligten zugelassen und damit gestaltbar geworden war.
Deren Ausgestaltung wurde ab 1525 insbesondere durch den Wittenberger Pfarrer und Beichtvater Luthers, Johannes Bugenhagen (1485–1558), vorangetrieben. Seine Kirchenordnungen (für Braunschweig, Braunschweig-Wolfenbüttel, Dänemark, Hamburg, Hildesheim, Holstein, Lübeck, Norwegen, Pommern und Schleswig) schufen verbindliche rechtliche Grundlagen und innerkirchliche Normen. Sie wurden prägend für das nordeuropäische Luthertum. Parallel dazu lassen sich ähnliche Entwicklungen innerhalb des reformierten Protestantismus (Theologie und Kirchenmodell Zwinglis und Calvins) in Europa nachvollziehen.
Zwei Reformatoren
Huldrych Zwingli (1484–1531)
Huldrych Zwingli (1484–1531)
Ist Christus beim Abendmahl tatsächlich gegenwärtig?
Ist das Brot sein Leib, der Wein sein Blut? Luther verkündete
es so und wurde deshalb vom Schweizer Reformator
Huldrych Zwingli, der Jesus nur symbolisch anwesend
sah, "Christusfresser" geschimpft. Der Streit der beiden,
geführt in langen Briefen und fortgesetzt 1529 bei ihrem
einzigen Zusammentreffen in Marburg, war heftig. Dabei
wollte auch Zwingli die Kirche reformieren – parallel zu
Luther und im Wesentlichen unabhängig von ihm. […]
Geboren 1484 in Wildhaus bei St. Gallen, wurde Zwingli
1519 Priester am Zürcher Großmünster. Er kritisierte die
Auswüchse der katholischen Kirche, predigte eine Rückbesinnung
auf das Evangelium und forderte, den Reliquien-
und Heiligenkult einzudämmen. Bei der Abschaffung
des Zölibats ging er mit gutem Beispiel voran: Er heiratete
Anna Reinhart – gleichaltrig, verwitwet und von ihm
schwanger. Als Zwingli auch noch öffentlich das Fastengebot
brach, eskalierte der Streit mit dem Papst. Zürich
sagte sich von Rom los, aber zwischen katholischen und
reformationsbegeisterten Kantonen entbrannte ein Bürgerkrieg.
Er kostete Zwingli 1531 auf dem Schlachtfeld bei
Kappel das Leben. Sein Leichnam wurde zerstückelt und
verbrannt, doch sein Vermächtnis lebte fort: Zwingli ist
neben Calvin einer der geistigen Väter des reformierten
Protestantismus.
Johannes Calvin (1509–1564)
Jean Cauvin, Sohn eines Sekretärs des Bischofs von Noyon
in Nordfrankreich, war 14 Jahre alt, als er nach Paris an
die Universität geschickt wurde. Beim Studium der Bibel
und später als Priester fand er andere Antworten als die
römisch-katholische Kirche. Cauvin, geboren 1509 und damit
eine Generation jünger als Luther und Zwingli, schloss
sich begeistert der Reformationsbewegung an.
Doch die Kirche zu kritisieren war in Frankreich lebensgefährlich.
So wurde aus Jean Cauvin Johannes Calvin; er
floh nach Basel und verfasste dort 1535 seinen Katechismus
"Unterricht in der christlichen Religion", der zum
Bestseller wurde. In Straßburg ließ sich Calvin vom Elsässer
Reformator Martin Bucer und von Philipp Melanchthon
inspirieren.
1541 ging er nach Genf, wo er das Gemeinwesen nach
seinen Idealen organisierte: als Modell für strenge Kirchenzucht,
unerbittlich gegenüber Unsitte und Sünde. Askese,
Fleiß und Frömmigkeit, dazu ein Bilderverbot, sollten
den glaubensdiktatorischen Stil des Calvinismus prägen.
Kennzeichnend war zudem die Lehre der Prädestination,
der göttlichen Vorherbestimmung der Menschen zu Heil
oder Verdammnis. Damit grenzte sich Calvin von Luther
ab – ebenso wie beim Streit um das Abendmahl.
Zwinglianer und Calvinisten ihrerseits legten ihre Differenzen
bei und fanden 1549 unter einem reformierten
Dach zusammen. Dessen maßgeblicher Architekt war Calvin.
Seine Lehren breiteten sich rasch in Westeuropa aus
und gelangten über England bis nach Nordamerika. Die
Ankunft der puritanischen Pilgerväter im Jahr 1620 erlebte
der Reformator nicht mehr: Er starb 1564 in Genf.
Louisa Reichstetter, "Streit ums Abendmahl", in: Zeit Geschichte Nr. 5/2016 vom 22. November 2016, S. 88f.
Eine durch die Gemeinde getragene Kirche
Die Kirche der Reformation war zuallererst eine Kirche der Gemeinde, darin waren sich Bugenhagen und die ihn beratenden Theologen, Juristen und Politiker der ersten Generation einig. Angesichts der politisch angespannten Rahmenbedingungen hielt es Luther aber für unausweichlich, den Landesherren als "Notbischöfen" eine Schutzfunktion einzuräumen. Dieser politische Einfluss war beabsichtigt, stand aber stets in Spannung zum ursprünglichen reformatorischen Ziel einer durch die Gemeinde getragenen Kirche.
Dies dokumentieren die frühen Kirchenordnungen, etwa der Hansestädte im Norden des Reichs: Die Gemeinde selbst durfte ihre Pfarrer wählen bzw. abwählen; die Gemeinde verwaltete ihre Finanzen autonom (Kirchenkasten) und übernahm die gemeindliche Fürsorge für Arme, Witwen, Waisen und Kranke.
Ein wichtiges Feld stellte die liturgische Ordnung des Gemeindelebens dar: Hierher gehörten unter anderem Vorgaben für den Gemeindegesang, das Amt des Kantors, die Unterrichtung der Jugend, die Feiertagsregelungen, die Frage der Bilder in den Kirchen, die Predigt in deutscher Sprache und die Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt (Brot und Wein). Selbstverständlich haben die Reformatoren an vorhandene Regelungen der römischen Kirche angeknüpft; die Forschung ist sich inzwischen einig, dass insbesondere das kanonische Recht als Vorbild gedient hat. Aber aus der Mischung von Vorhandenem mit neuen Zielsetzungen entstanden spezifische Rechts- und Verfassungsvorstellungen.
Über alle Einzelregelungen und regionalen Unterschiede hinaus ist festzuhalten: Maßgeblich war, dass sich die Kirche der Reformation gezielt von der römischen Kirche abgrenzte und dass sie sich bewusst in die Welt stellte. Darauf verweist das grundsätzlich neue Amtsverständnis eines legitim verheirateten, theologisch gebildeten Pfarrers ebenso wie die als christliche Aufgabe verstandene breite gemeindliche Fürsorge verbunden mit ökonomischer Eigenständigkeit der Gemeinde, in welche nicht mehr wie zuvor die katholische Kirche als Grundeigentümerin von außen eingreifen konnte.
Aus diesen gewollten Wirkungen der Reformation entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten gänzlich neue Charakteristika des Protestantismus: ein umfassendes Bildungswesen, eine im Liturgischen verankerte Kirchenmusik, eine Sprach- als Predigtkultur, die sich auf die nationalen und regionalen Sprachen konzentrierte, in jedem Fall das Latein ablegte und eine Vorbildfunktion der Pfarrersehe und des Pfarrhauses.
Unterschiedliche Wege der Verbreitung
Die zeitgleiche Verbreitung der Reformation im Europa des
16. Jahrhunderts traf auf unterschiedliche politische Rahmenbedingungen. Der Verlauf der Kirchenbildung war deshalb regional sehr verschieden. Dort, wo die weltliche Obrigkeit die reformatorische Bewegung bewusst förderte, konnte sie in vielen Fällen ihre Herrschaft stärken.
Das gilt für Schweden ebenso wie für das mit jenem verbundene Finnland. Dort beschloss der Reichstag 1527, die Kirche in beiden Regionen direkt der Krone zu unterstellen und die Kirchengüter dem Monarchen zu übertragen. In Schweden wie auch in anderen europäischen Regionen wirkten Theologen, die in Wittenberg ausgebildet worden waren, für eine organisatorische Festigung im Sinne der lutherischen Entwicklung.
Eine etwas andere Entwicklung lässt sich in Dänemark ebenso wie in etlichen Hansestädten an der Ostsee (Riga, Reval) beobachten. Dort scheinen die reformatorischen Tendenzen zunächst durch deutsche Kaufleute und deutschsprachige Theologen wirksam geworden zu sein. Auch etliche Adlige griffen die Bewegung auf. Erst in einem zweiten Schritt unterstellte der dänische König 1536 das Land einer durch den Reformator Bugenhagen entworfenen einheitlichen Kirchenordnung.
In England wurde die Reformation nachweislich als machtpolitisches Instrument durch König Heinrich VIII. (1491–1547) eingeführt, 1534 entstand die anglikanische Staatskirche mit dem König als Oberhaupt. Erst unter dem protestantisch erzogenen Eduard VI. (1537–1553) setzte 1547 eine Stärkung der Gemeinde ein, die protestantische Theologen vom europäischen Kontinent unterstützten.
Demgegenüber war die Reformation in Frankreich und in den nördlichen Niederlanden von Anfang an eine durch (lutherische) Theologen, Stadtbürger und Adlige getragene gemeindekirchliche Bewegung, die in Frankreich allerdings auf energischen Widerstand des katholischen Königshauses stieß.
In den 1550er- und 1560er-Jahren dominierte in beiden Regionen die Theologie des französischen Exiljuristen Jean Calvin. Dabei kennzeichnete die nördlichen Niederlande, dass dort die Selbstständigkeit der kirchlichen gegenüber der politischen Gemeinde betont wurde.
In Frankreich wurde die Kontroverse zwischen dem katholischen Königshaus und den protestantischen hochadligen und städtischen Eliten (Hugenotten) ab 1562 mit mörderischer Gewalt in Religionskriegen ausgetragen. Ebenso kämpften die unter spanischer Herrschaft stehenden katholischen Landesteile der Niederlande ab 1566 gegen die Regionen, die sich zum Protestantismus bekannten. Auch dieser "Freiheitskampf", wie ihn die Zeitgenossen nannten, wurde über Jahrzehnte blutig ausgetragen.
Die Wirkung der Reformation in Ostmitteleuropa (Polen, Ungarn, Böhmen, Siebenbürgen) beruhte auf einem starken Rückhalt im regionalen Adel. Daraus erwuchsen gemeindechristliche Organisationsformen, wobei sich weitgehend die Theologie Calvins durchsetzte. Insbesondere die Entwicklung in Polen ist bemerkenswert: 1572 anerkannte der Sejm (der polnische Reichstag) das gleichberechtigte Miteinander von protestantischen, römisch-katholischen und orthodoxen Glaubensformen.
Die unterschiedlichen Wege, auf denen die reformatorische Bewegung in Europa Aufnahme und Verfestigung fand, belegen, dass sie keineswegs ausschließlich zur Verdichtung und Stärkung weltlicher Macht diente. Neben einer bewussten Instrumentalisierung waren gemeindebezogene Vielfalt und die Akzeptanz des Miteinanders gelebte Alternativen. Für das Europa des ausgehenden 16. Jahrhunderts war die Einheit der Christenheit beendet – das war die in Kauf genommene, bewusst eingesetzte und/oder gestaltete Wirkung der Reformation.
Die reformatorische Bewegung nimmt institutionelle Gestalt an. Im Auftrag der pommerschen Herzöge verfasst der Reformator Johannes Bugenhagen 1535 eine Kirchenordnung für ihr Territorium.
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