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Von der "Werkbank der Welt" zur Innovationswirtschaft | China | bpb.de

China Editorial Einleitung Geschichte, kulturelle Tradition, Ideologie Charakteristika des politischen Systems Außen- und Sicherheitspolitik Gesellschaft im Umbruch Situation von Medien und Internet Von der "Werkbank der Welt" zur Innovationswirtschaft China in der Weltwirtschaft Literaturhinweise Karten Impressum

Von der "Werkbank der Welt" zur Innovationswirtschaft

Max J. Zenglein Jost Wübbeke Björn Conrad

/ 11 Minuten zu lesen

Chinas Wirtschaft basiert im Vergleich zu den 1990erJahren heute viel stärker auf Innovationen, während die Bedeutung arbeitsintensiver Industrien zurückgeht. Ein massiver Ausbau der Infrastruktur hat den Wirtschaftsstandort gestärkt, der Umweltschutz ist im Zuge der rasanten Industrialisierung jedoch zu kurz gekommen.

In den vergangenen Jahren hat China massiv in die Infrastruktur investiert. Arbeiter beim Bau der weltweit längsten Doppelstock-Hängebrücke über den Chang Jiang (Jangtsekiang) in Wuhan im Juni 2018 (© AFP / Getty Images)

Folgen der marktwirtschaftlichen Öffnung

Die chinesische Wirtschaft hat sich seit Anfang der 1990er Jahre rasant entwickelt. Ausgangspunkt war die Politik der "Reform und Öffnung", die unter dem Reformstrategen Deng Xiaoping in den 1980er-Jahren eingeleitet worden war: In der bisher von Staatsbetrieben dominierten Wirtschaft wurden private und ausländische Unternehmen sowie Markt-, Preis- und Qualitätswettbewerb zugelassen. Das rigide planwirtschaftliche und von Agrarwirtschaft geprägte System wandelte sich schrittweise zu einer Wettbewerbswirtschaft mit rasch wachsendem privatem Sektor und reduzierter staatlicher Lenkung. Zielvorgaben des Staates in der Produktion und die Zuteilung von Ressourcen verloren in einigen Bereichen, insbesondere bei Konsumgütern, an Bedeutung, Marktanreize gewannen dagegen an Boden. Die Einflussnahme des Staates blieb aber trotz der Stärkung von Marktmechanismen weiterhin stark. Das Ergebnis war ein Wachstumsmodell, das auch in anderen ostasiatischen Volkswirtschaften wie Japan, Südkorea oder Taiwan einen schnellen Wirtschaftswandel ausgelöst hatte.

In China wurde das Wirtschaftswachstum durch einen rasant steigenden Export von Konsumgütern – von Haushaltsgeräten bis hin zu Smartphones – und durch sehr hohe Investitionen in Industrie, Infrastruktur und Immobilienwirtschaft angetrieben. Ein Kernelement des Wachstumsmodells bestand darin, den Überschuss an jungen, meist gering qualifizierten Arbeitskräften aus den ländlichen Gebieten produktiver in Fabriken einzusetzen ("Demografische Dividende"). Eine besondere Rolle spielte dabei die Öffnung für ausländische Direktinvestitionen, die zu einer Vielzahl der neuen Fabriken beitrug. Die Schattenseiten des schnellen Wirtschaftswachstums waren (und sind) unter anderem schwache Arbeitnehmerrechte sowie ein rücksichtsloser Umgang mit der Umwelt.

Die chinesische Volkswirtschaft durchlief ab 1992 eine Phase des Hochwachstums. Zwischen 1990 und 2010 wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Gesamtwirtschaftsleistung des Landes, jährlich um rund zehn Prozent. War Chinas BIP vor dem Wachstumsschub der 1990er-Jahre noch niedriger als das Deutschlands gewesen, trug die Volksrepublik 2017 etwa 15 Prozent zur globalen Wirtschaftsleistung und mehr als ein Drittel zum globalen Wachstum bei. Neben den USA und der EU bildet China den dritten großen Wirtschaftsraum und Wachstumspol im globalen Austausch.

Dank dieser historisch außergewöhnlich raschen wirtschaftlichen Entwicklung entkamen in den vergangenen vier Jahrzehnten hunderte Millionen Chinesinnen und Chinesen der zuvor herrschenden Armut eines Entwicklungslandes und gelangten auf das Wohlstandsniveau eines Schwellenlandes. Das durchschnittliche chinesische Pro-Kopf-Einkommen lag 2016 bei ungefähr 9000 US-Dollar und ist damit von dem Niveau wohlhabender Industrieländer noch weit entfernt (Deutschland: 40.000 US-Dollar; EU-Durchschnitt: 32.000 US-Dollar).

Abflauen des Hochwachstums

BIP-Wachstum: China, EU und USA im Vergleich (© Weltbank)

In den 2010er-Jahren geriet das chinesische Wachstumsmodell der 1990er-Jahre unter Druck. Die bisherigen Wachstumstreiber – Exporte und Investitionen – hatten ihre Grenzen erreicht.
In arbeitsintensiven Exportbranchen hat China mittlerweile an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber südostasiatischen Ländern verloren. Schuhe, Textilien oder Spielzeuge werden zunehmend in Vietnam, Bangladesch oder Indonesien hergestellt. Dies ist mit dem rapiden Lohnwachstum in China erklärbar, das die schnelle wirtschaftliche Entwicklung begleitet hat. Zwar ist die Volksrepublik weiterhin eine der führenden Exportnationen und dominiert nach wie vor ganze Bereiche wie etwa die Elektronikindustrie. Gesamtwirtschaftlich gesehen aber hat die Bedeutung der arbeitsintensiven Exportwirtschaft als Antriebskraft für das BIP-Wachstum nachgelassen.

Durch massive Investitionen in die Infrastruktur des Landes hat China über die letzten Jahre hinweg den Ausbau von Straßen, Eisenbahnnetzwerken, Flughäfen oder Kraftwerken vorangetrieben. Daneben gewann auch der Immobiliensektor an Bedeutung. Der stetig ansteigende Urbanisierungsgrad, also der wachsende Anteil der Bevölkerung, der in Städten wohnt, fachte die Nachfrage nach städtischem Wohnraum an. In einigen Städten wie etwa Peking oder Shanghai explodierten die Immobilienpreise, weil die Nachfrage das Angebot deutlich überstieg. In anderen Teilen des Landes dagegen gibt es mittlerweile massive Leerstände.

Auch in der industriellen Fertigung hat China in den Ausbau von Kapazitäten investiert. Der auf ungebremstes Wachstum gerichtete Aufbau der Industrie führte teils zu erheblichen Überkapazitäten. Gleichzeitig bewirkten die anhaltend hohen Investitionen einen rapiden Anstieg der Verschuldung. Schätzungen zufolge belief sich die Gesamtverschuldung des Staates, der Unternehmen und der Haushalte Mitte 2017 auf rund 300 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung. Dass dieses im internationalen Vergleich hohe Niveau speziell innerhalb der letzten fünf Jahre erreicht wurde, bereitete Sorge um die Stabilität des chinesischen Finanzsystems.

"Neue Normalität"
Diese Entwicklung verdeutlicht strukturelle Probleme und die Notwendigkeit von strukturellen Veränderungen. Chinas Regierung hat dies erkannt und propagiert seit 2014 eine "Neue Normalität": eine Übergangsphase mit nur noch mittelhohem BIP-Wachstum in Höhe von sechs bis sieben Prozent. Gemessen an der wirtschaftlichen Größe ist das immer noch beachtlich. Einen abrupten Wachstumsabfall möchte die auf Stabilität bedachte Regierung jedoch vermeiden, um soziale Spannungen zu verhindern.

Der chinesischen Führung ist bewusst, dass ihr Land trotz aller Erfolge noch einen weiten Weg zurücklegen muss, bis es zu den wohlhabenden Industrienationen aufschließen kann. Es gilt ein Problem zu vermeiden das viele Schwellenländer bereits erfahren haben: Sie erreichten nach einer Phase beschleunigten Wachstums zwar ein steigendes Lohn- und Versorgungsniveau, doch damit stagnierte oder sank regelmäßig ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Billiglohnländern. Gleichzeitig erreichten ihre technologischen und organisatorischen Innovationskräfte nicht das Niveau und die Produktivität hochentwickelter Industrie- und Dienstleistungsökonomien, um mit diesen bei höherwertigen Produkten in Konkurrenz treten zu können. In der Wirtschaftswissenschaft wird dieses Phänomen als "Falle der mittleren Einkommen" (middle income trap) bezeichnet.

Wie aber kann China die Umstellung von der Niedriglohnproduktion ("Werkbank der Welt") hin zu einer von Hochtechnologie und Produktivitätssteigerungen angetriebenen Wirtschaft gelingen? Wo sind die künftigen Wachstumstreiber zu finden? Während der Sekundärsektor (produzierende Industrie und Bauwesen) seit 2005 in China an Bedeutung verloren hat, konnte sich der Dienstleistungssektor, unter anderem Banken, Handel und E-Commerce, als Wachstumsmotor etablieren: 2015 trug er erstmals mehr als 50 Prozent zum BIP bei. Einzelhandel, Logistik, Finanzdienstleistungen, Transportwesen und die Internetwirtschaft florieren. Deshalb kommt dem Dienstleistungssektor bei der Umstellung auf ein neues Wirtschaftsmodell eine tragende Rolle zu.

Als besondere Herausforderung für die Regierung gilt, dass sie den Strukturwandel umsetzen und dabei das BIP-Wachstum stabil halten muss, um soziale Unruhen zu vermeiden. Im Zentrum der Reformen stehen – wie bereits Jahrzehnte zuvor – die Staatsbetriebe. Trotz des wachsenden Privatsektors dominieren sie weiterhin Chinas Wirtschaftssystem. Ganze Industriebereiche, etwa die Schwerindustrie, das Bankensystem und das Transportwesen, werden durch staatliche Großbetriebe und staatliche Eingriffe kontrolliert. Staatseigene Betriebe verantworten Schätzungen zufolge etwa 30 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung. Viele der von staatlichen Betrieben dominierten Branchen haben Überkapazitäten aufgebaut und arbeiten unwirtschaftlich, also weder sparsam im Ressourcen- und Kapitaleinsatz noch bedarfsgerecht.

Bereits Anfang 2016 hatte die Regierung angekündigt, in der Kohle- und Stahlbranche über die nächsten zwei bis drei Jahre Überkapazitäten abbauen zu wollen. Dabei rechnet die Regierung mit dem Verlust von 1,8 Millionen Arbeitsplätzen. Die Umsetzung von Strukturreformen wird also voraussichtlich mit schmerzhaften Einschnitten verbunden sein. Entwickeln sich andere Wirtschaftsbereiche, wie etwa im Dienstleistungssektor, nicht stark genug, wird sich der Staat möglicherweise gezwungen sehen, das angestrebte BIP-Wachstumsziel durch andere wachstumsstimulierende Maßnahmen, etwa durch erhöhte Staatsausgaben, zu erreichen.

QuellentextBörsen in China

In China gibt es seit 1990 zwei Börsen: in Shanghai und in Shenzhen. Beide zählen zu den zehn größten Handelsplätzen weltweit. Im Verhältnis zum BIP ist die Marktkapitalisierung, also der Gesamtwert aller an den Börsen notierten Unternehmen, mit ca. 40 Prozent allerdings noch relativ gering. Aufgrund der weiterhin bestehenden Kapitalverkehrskontrollen ist eine ausländische Beteiligung am Handel nur eingeschränkt möglich.
Zunehmend gehen auch private Unternehmen an die Börsen, noch aber dominieren dort staatseigene Betriebe. Dies gilt besonders für die Börse in Shanghai, während in Shenzhen eher private Hightechunternehmen eine Rolle spielen. Wichtige Indizes sind der CSI 300 Index (Shanghai und Shenzhen), der SSE Composite (Shanghai) sowie der ChiNext (Shenzhen).

Im Vergleich zu anderen Aktienmärkten beherrschen in China anteilsmäßig die rund 80 Millionen Kleinanleger das Geschehen, da sie außer dem Erwerb von Immobilien über fast keine lukrativen Anlagemöglichkeiten verfügen. Während der globalen Finanzkrise von 2008/09 mussten sie erhebliche Kursverluste verkraften. Der nächste Crash erfolgte 2015 und auch Anfang 2016 kam es zu massiven Kursturbulenzen.

Eine Besonderheit der chinesischen Börsen ergibt sich aus der Rolle Hongkongs, dem als Sonderverwaltungszone eine weitgehende ökonomische Autonomie zugestanden wird. Im Vergleich zu Festland-China ist Hongkong voll in die internationalen Finanzmärkte integriert. Einige Aktientitel chinesischer Unternehmen werden an der Börse in Shanghai oder Shenzhen und zeitgleich in Hongkong gehandelt. Dabei werden die in Festland-China gehandelten Werte als sogenannte A-Shares bezeichnet, während sie an der Hongkonger Börse H-Shares heißen. Als Teil einer behutsamen Öffnung des chinesischen Kapitalmarkts gibt es inzwischen Verbindungen zwischen den Börsenplätzen ("Stock Connect" via Shanghai-Hongkong bzw. Shenzhen-Hongkong). Unter Einhaltung festgelegter Quoten können ausländische Investoren in China investieren. Gleichzeitig haben chinesische Investoren die Möglichkeit, in Hongkong Kapital anzulegen.

QuellentextVerschuldung

In den vergangenen Jahren kam es in der Volksrepublik China zu einem steilen Anstieg der Verschuldung. Betrug sie 2005 noch etwa 160 Prozent, wird sie 2017 bereits auf über 300 Prozent geschätzt. 2016 wuchs die Vergabe neuer Kredite um mehr als 13 Prozent und übertraf damit die Wachstumsrate der Wirtschaft um nahezu das Doppelte. Unternehmen, insbesondere Staatsunternehmen, tragen den größten Anteil an der Verschuldung. Grund hierfür sind die Überschneidungen von wirtschaftlichen und politischen Zielsetzungen. Die chinesischen Banken stellen den staatlichen Betrieben günstige Kredite zur Verfügung, welche diese dann zum Beispiel in den Ausbau von Produktionsanlagen investieren. Das schafft zwar kurzfristig Wachstum und Jobs, es ist aber fraglich, ob diese Form des "Wachstums auf Pump" dauerhaft tragfähig sein kann.

Auch die Verschuldung privater Haushalte etwa für den Immobilienkauf hat in den 2010er-Jahren rasch zugenommen. Angesichts der Höhe der gesamten Schulden wächst die Sorge, ob die großzügig vergebenen Kredite jemals zurückgezahlt werden können. Wenn nicht, werden sie zu uneinbringlichen "faulen" Krediten, die von den Banken abgeschrieben werden müssen. Kommt dies bei vielen Unternehmen vor, so bedroht dies die Stabilität des Finanzmarkts.

Seit Ende 2016 versucht die Regierung in Peking, durch restriktive Vorgaben die ausufernde Vergabe neuer Kredite zu drosseln. Dies geschieht etwa durch höhere Zinsen oder durch striktere Regelungen bei der Vergabe von Krediten. Dadurch sollen Schulden abgebaut und die Stabilität der Wirtschaft erhöht werden. Dies ist jedoch eine Gratwanderung, denn eine allzu restriktive Kreditvergabe könnte das Wachstumsziel, den Beschäftigungsstand sowie die soziale und politische Stabilität insgesamt gefährden.

Übergang zum innovationsgetriebenen Wirtschaftsmodell

Jost Wübbeke

China war lange als "Werkbank der Welt" bekannt. Viele einfache Massengüter wie Spielzeuge, Stahlprodukte und USB-Sticks wurden und werden noch immer dort hergestellt und in die ganze Welt exportiert. Da die Wachstumsimpulse durch die arbeitsintensive Industrie und den Infrastrukturausbau jedoch inzwischen abnehmen, muss Chinas Wirtschaft den Übergang von der "Werkbank der Welt" hin zu einem von technologischem Fortschritt getriebenen Wirtschaftsmodell bewältigen. Peking arbeitet daran, die Technologielücke gegenüber fortschrittlichen Ländern zu verkürzen und Hochtechnologieprodukte wie Automobile, Flugzeuge und Halbleiter selbst zu entwickeln und herzustellen.

In einzelnen Industrien ist es der Volksrepublik bereits gelungen, international den Anschluss zu finden und sich als Taktgeber für Innovationen zu etablieren. In der Telekommunikationsindustrie gehören die Konzerne Huawei und ZTE beispielsweise bereits zu den Weltmarktführern. Auch in anderen Bereichen sind Erfolge zu verzeichnen, wie etwa in der Energietechnologie, insbesondere bei Solarenergie und Windkraft, sowie in der Eisenbahntechnologie, vor allem bei Hochgeschwindigkeitszügen. Ganz vorne mit dabei sind chinesische Unternehmen und Forschungsinstitute auch in Industrien, die erst im Entstehen begriffen sind, so bei der Elektromobilität, Biotechnologie, Nanotechnologie, Big Data oder künstlicher Intelligenz.

Die steigende Bedeutung von Forschung und Entwicklung in China zeigt sich an den riesigen Investitionen, die vom Staat und einzelnen Unternehmen in diesen Bereichen geschultert werden und deutlich schneller angestiegen sind als die Wirtschaftsleistung. Während China im Jahr 2000 lediglich 0,9 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung aufwendete, so stieg dieser Wert bis 2015 auf 2,1 Prozent. Damit nähert sich China Deutschland (2,4 %) und den USA (2,6 %) an und investiert bereits mehr als im europäischen Durchschnitt.

Der Staat als Antriebskraft
Während in Deutschland Innovationen zumeist von Unternehmen veranlasst werden, gehen in China die Impulse vom Staat aus. Chinas Regierung hat sich mit der "Made in China 2025"-Strategie das Ziel gesetzt, die Volksrepublik bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts zu einem globalen Technologieführer zu machen. In umfassenden und langfristig angelegten Plänen definiert die Regierung die Prioritäten für Forschung, Entwicklung und Kommerzialisierung neuer Technologien.

Im Fokus der politischen Strategie stehen allen voran die Zukunftstechnologien, in denen die chinesische Regierung künftig das höchste Wachstumspotenzial erwartet. Hierzu gehören unter anderem die Elektromobilität, die Luft- und Raumfahrt, fortschrittliche Informationstechnologien wie künstliche Intelligenz und Halbleiter sowie erneuerbare Energien und Biotechnologie. Chinas Führung begreift es als Chance, diese Industrien in Zukunft mit chinesischen Unternehmen zu besetzen. Auf Grundlage der offiziellen Technologie-Fahrpläne verteilen die Zentralregierung, Provinzen und Städte großzügig Fördergelder an Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Die Kanalisierung dieser Mittel, die deutlich über die wissenschaftliche Förderung hinausgehen, dient dem Zweck, wettbewerbsfähige Industrien und Unternehmen aufzubauen. Chinas Regierung will sogenannte nationale Champions hochziehen, große Unternehmen, die den heimischen Markt dominieren und im internationalen Wettbewerb neben den etablierten ausländischen Konzernen bestehen können.

In einzelnen Wirtschaftsbranchen haben sich jedoch auch Unternehmen zu wichtigen Innovationstreibern entwickelt. Große Internetfirmen wie der E-Commerce-Riese Alibaba, die Suchmaschine Baidu und der Spiele- und Social Media-Konzern Tencent konnten in den vergangenen Jahren aus eigenem Antrieb wegweisende Geschäftsmodelle und Dienstleistungen hervorbringen, etwa für Suchmaschinen, Messenger Apps und Mobile Payment-Modelle für Smartphones. In der Internetwirtschaft und in der Informationstechnologie haben sich mehrere Innovationscluster gebildet, also regionale Zentren der Forschung und Entwicklung, vor allem in Peking, Shanghai und Shenzhen. Sie bieten einen wichtigen Nährboden für Jungunternehmer und Start-ups mit neuen Geschäftsideen. So ist es für Start-ups leicht, an eine umfassende Finanzierung zu gelangen und innerhalb kürzester Zeit zu wachsen. Eine rasante Entwicklung hat beispielsweise der Technologiekonzern Xiaomi erlebt, der erst 2010 gegründet wurde und anfangs Smartphones und Marketingstrategien von Apple kopierte. Heute ist Xiaomi einer der größten Smartphone-Konzerne der Welt.

Für und Wider der staatszentrierten Innovation
Über die Effektivität des chinesischen Innovationssystems herrscht Uneinigkeit. Viele Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass das staatszentrierte Innovationssystem bahnbrechende Neuerungen behindere und China mit marktbestimmten Prozessen heute schon viel weiter wäre. Andere Fachleute betonen dagegen den großen Beitrag, den das jetzige System für Chinas Aufholprozess geleistet hat. Beide Seiten erkennen Schwächen im chinesischen Innovationssystem. Dazu zählt die ineffiziente Verteilung von Fördergeldern, die häufig nach politischen Prioritäten und nicht nach Unternehmensbedürfnissen erfolgt. Kritisiert wird auch die mangelnde Zusammenarbeit zwischen Industrie und Wissenschaft und die Tendenz des Bildungssystems, am Bedarf der Industrie vorbei auszubilden.

Zu den Stärken des chinesischen Innovationssystems und damit der politischen Steuerung der Wirtschaft gehört dagegen die langfristige politische Planungsperspektive, die zum Teil über mehrere Jahrzehnte reicht. Diese erlaubt es den staatlichen Behörden, wichtige Trends gedanklich vorwegzunehmen und die technologische und wirtschaftliche Entwicklung über lange Zeit vorzuplanen. Außerdem ermöglichen es die umfassenden staatlichen Mittel, die Verbreitung neuer Technologien innerhalb kurzer Zeit zu beschleunigen und selbst kostspielige Großprojekte schnell umzusetzen. Auch die Förderung staatlicher Großkonzerne kann Vorteile bieten, denn durch die staatliche Unterstützung sind diese in der Lage, auf dem Weltmarkt sehr niedrige Preise anzubieten und somit viele internationale Wettbewerber zurückzudrängen, wie etwa bei Solarzellen. Hinzu kommt, dass sich viele neue Internettechnologien in China schneller verbreiten als in Deutschland, weil viele Menschen in China technischen Neuerungen aufgeschlossener begegnen.

QuellentextDas Potenzial künstlicher Intelligenz

Das Computerprogramm von Megvii trifft eine erste Entscheidung: "Männlich, kurze Haare, grünes Hemd und schwarze Hose". So klassifiziert das Programm einen Passanten, der in einer Kameraübertragung aus der Vogelperspektive gerade im Bild auftaucht. Gleich danach erkennt es ein Auto als "Personenfahrzeug".
Zwei Versuche, beide richtig. Die Software der Firma Megvii gilt als eines der weltweit führenden Systeme für die automatische Erkennung von Personen und Gegenständen.

Gesichter erscheinen auf den Bildschirmen in Kästchen eingefasst. Über einigen steht das Geschlecht und ein geschätztes Alter, bei anderen schwebt der Name über dem Kopf. Die sind schon im System gespeichert. Und das Programm erfasst auch Körperhaltungen. Diese werden mit gelben und blauen Strichen nachgezeichnet und gespeichert, um eine Person später an ihrem Bewegungsmuster zu erkennen. [...]
Megvii ist eines von mehreren chinesischen Unternehmen, die auf dem Gebiet der Gesichtserkennung weltweit Respekt genießen. Das Unternehmen spielt damit eine wichtige Rolle im weltweiten Wettlauf um die Entwicklung von künstlicher Intelligenz.

Gesichter zu erkennen ist eine komplexe Aufgabe: Eine Vielzahl von Merkmalen im Gesicht werden erfasst, und sie müssen dabei aus verschiedenen Winkeln und aus der Bewegung heraus erkannt werden. Dann werden sie mit den Informationen in riesigen Datenbanken abgeglichen, in denen bereits bekannte Gesichter gespeichert sind und in die unbekannte Gesichter automatisch hinzugefügt werden. Die Software führt nicht nur laufend solche Abgleiche durch, sondern sie trainiert nebenbei auch, um ihre Erkennungsraten zu verbessern. Sie lernt tatsächlich dazu.

Deshalb ist die Gesichtserkennung ein Aushängeschild für die Entwicklung künstlicher Intelligenz. China sei kein Land mehr, das Technologietrends hinterherhechelt, jubelte die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua im vergangenen Dezember. Man setze jetzt selber solche Trends. [...]

In der Firmenzentrale von Jingdong, einem der größten Online-Händler Chinas, steht eine Menschentraube vor einem kleinen Supermarkt. Eine Besuchergruppe aus dem Ausland lässt sich erklären, wie ein Ladengeschäft ganz ohne Angestellte funktioniert. Die Kunden – in diesem Fall die Teilnehmer einer angereisten Delegation – verschaffen sich per Gesichtserkennung Zutritt. Wer hinein will, muss nur die App von Jingdong installiert haben und als Kunde registriert sein.

Weder Telefon noch Kreditkarte und erst recht kein Bargeld sind nötig, um den Laden zu nutzen. Die Kunden legen einfach die elektronisch markierten Waren in den Einkaufskorb. Am Ausgang werden die Waren von einem Sensor erfasst und eine Kamera scannt das Gesicht. Die Rechnung wird automatisch abgebucht. "Das fühlt sich wahnsinnig fortschrittlich an", schwärmt eine Besucherin. Dass der Konzern damit auch sämtliche Einkäufe speichert, beunruhigt hier kaum jemanden. "Für diese Annehmlichkeit ist es nun mal notwendig, dass meine Daten gespeichert werden", sagt einer. "Ich denke, das ist akzeptabel."

China ist ein Land ohne Technik-Skepsis. Fitnessstudios scannen die Gesichter ihrer Kunden und kontrollieren so den Einlass. Professoren versuchen, mithilfe von Gesichtserkennung die Aufmerksamkeitskurven ihrer Studenten zu verfolgen. Schulen testen automatische Aufsatzkorrekturprogramme, die die Bewertung von Stil und Inhalt "objektiver" machen sollen. Und mehrere Städte haben inzwischen Lizenzen ausgegeben, mit denen autonom fahrende Autos am regulären Straßenverkehr teilnehmen dürfen. "Unser Vorteil in China ist: Wir setzen Technologie schnell in der Realität ein", sagt Emily Jian, die Sprecherin von Megvii.

Chinesischen Start-ups stehen inzwischen auch eine Reihe risikofreudiger Geldgeber zur Seite. Megvii erhielt große Teile seiner Anschubfinanzierung von Alibaba, Chinas größtem E-Commerce-Anbieter, der die Software testet, um Zahlungen zu autorisieren. Auch der chinesische Staat hat über mehrere Fonds in Megvii investiert. Chinas Regierung hat das Potenzial der Gesichtserkennung früh erkannt. Inzwischen beliefert Megvii rund 30 Städte, die mit der Software die Bilder öffentlicher Überwachungskameras analysieren. [...]

Für Megvii zahlt sich das aus. Die Firma wurde erst vor fünf Jahren von drei Studenten gegründet. Noch 2014 hatte sie gerade 30 Mitarbeiter. Heute sind es mehr als 1300.
Solche Erfolgsgeschichten kannte die Welt bisher vor allem aus dem Silicon Valley. Deshalb wird Chinas Boom in der künstlichen Intelligenz in den USA auch aufmerksam beobachtet.

[...] In Dokument Nummer 35, einem Strategiepapier zur Entwicklung künstlicher Intelligenz, herausgegeben von Chinas Zentralregierung, heißt es: Erst bis 2030 solle China "bei Technologie und Anwendung von künstlicher Intelligenz weltweit führend" sein. "China wird dann das wichtigste Innovationszentrum für künstliche Intelligenz sein."

Es ist nicht das erste Mal, dass China große Pläne und große Summen mobilisiert, um die Technologieführerschaft in einer Branche zu erreichen. Seit den siebziger Jahren versucht die chinesische Regierung, eine international konkurrenzfähige Automobilindustrie heranzuziehen. Staatskonzerne bekamen Kredite, um Werke aufzubauen. Ausländische Hersteller wurden in Joint Ventures mit diesen Konzernen gezwungen, die so die Technologie erlernen sollten. Aber bis heute dominieren ebendiese Joint Ventures mit ausländischer Technologie den chinesischen Markt, während keine einzige chinesische Marke den Sprung auf den Weltmarkt geschafft hat. [...]

Ein Grund, sich zurückzulehnen, sei das für die westliche Wirtschaftselite keineswegs, sagt Christer Ljungwall, ein Schwede, der mit seiner Firma ENC ausländische Investoren im chinesischen Tech-Sektor berät. "Künstliche Intelligenz ist anders als traditionelle Technologien", glaubt er. "Man muss nicht den gesamten technologischen Lernprozess nachholen, man braucht nur ein paar smarte Leute und kann beginnen, etwas Großes auf die Beine zu stellen." [...]

Und doch gibt es einen großen Unterschied zum Westen. Megvii und ein Dutzend andere Firmen, die sich auf künstliche Intelligenz spezialisiert haben, konnten vor allem deshalb so schnell wachsen, weil sie mit Chinas Sicherheitsbehörden einen Kunden mit gigantischen Budgets und einer unersättlichen Kontrollwut haben. Und Chinas Bürokraten haben trotz ihrer Abneigung gegen "chaotische Märkte" verstanden, dass sie die Kreativität und Initiative der Start-up-Unternehmer brauchen. Ob Medizintechnik, fliegende Taxis oder Blockchain-Anwendungen: Förderungswürdig ist, was Fortschritt verspricht. Solange die Partei darin keine Bedrohung ihrer Macht sieht.

Mathias Bölinger "Erfinder nach Plan", in: Die Zeit Nr. 26 vom 21. Juni 2018

Geistige Eigentumsrechte und Technologietransfer

Steigende Verhandlungen von Patent- und Markenverletzungen an Chinas Gerichten - 2005 bis 2016 (© State Intellectual Property Office of China (SIPO) 2017)

Die ausländische Wirtschaft stellt Chinas Aktivitäten vor vielfältige Herausforderungen.
Peking schirmt den einheimischen Markt gezielt vor ausländischer Konkurrenz ab und leistet umfassende Subventionen an die eigene Wirtschaft. Teilweise müssen sich ausländische Unternehmen den Marktzugang durch einen Transfer von Kerntechnologie an die chinesische Konkurrenz "erkaufen". Außerdem ist der Schutz geistigen Eigentums, also von Patenten und Markenrechten, nach wie vor unzureichend. Immer wieder kommt es vor, dass chinesische Unternehmen Markenrechte verletzen, indem sie ausländische Produkte eins zu eins kopieren und unter eigenem Namen vermarkten.

Patentanmeldungen - nach Herkunft des Patenteigentümers, Zahlen aller Patentbüros weltweit (© World Intellectual Property Organization (WIPO) 2017)

Insgesamt hat sich der Schutz des geistigen Eigentums jedoch verbessert. Auch chinesische Unternehmen mit wachsenden technologischen Fähigkeiten sind daran interessiert, ihr Wissen besser zu schützen. Als Folge ist es zu einem deutlichen Anstieg von Patent- und Markenrechtsstreitigkeiten gekommen. (vgl. Grafik)
China steht derzeit an einer Wegscheide: Das Land muss sich zu einem globalen Technologieführer entwickeln, wenn es langfristig ein hohes Wirtschaftswachstum aufrechterhalten will. Dazu ist es jedoch wichtig, die wirtschaftliche Liberalisierung weiter voranzutreiben. Gelingt der Volksrepublik der Übergang zu einer innovationsgetriebenen Wirtschaft, dann wird sie bis Mitte des Jahrhunderts zu den führenden Industrienationen gehören. Hochwertige Hightechprodukte aus China werden dann ganz selbstverständlich sein.

QuellentextPatentweltmeister China

Die Zahl der Patentanmeldungen gilt als wichtiger Indikator für die Innovationstätigkeit eines Landes. Je mehr Patente ein Land anmeldet, desto aktiver forscht es an wichtigen technologischen Neuerungen. Außerdem garantieren Patente dem Eigentümer für eine begrenzte Zeitspanne ein exklusives Anrecht auf die Vermarktung der Erfindung.

Auf dieser Grundlage fördert Chinas Regierung vehement die Anmeldung von Patenten und setzt großzügige Anreize für Unternehmen. Das hat zu einem massiven Anstieg der Patentanmeldungen in China geführt. Noch 2005 hatten Chinesen lediglich rund 20.000 Patente weltweit angemeldet, 2015 waren es bereits fast 280.000. Damit liegt China weltweit auf Platz eins.

So beeindruckend diese Zahlen sind, gilt doch eine wichtige Einschränkung: Viele chinesische Patente sind von vergleichsweise niedriger Qualität und geben nur begrenzt Aufschluss über die Innovationsaktivitäten. Denn viele Unternehmen melden möglichst zahlreiche Patente an, um so mehr staatliche Fördergelder zu bekommen. Dahinter stehen aber eher selten bahnbrechende Erfindungen. Es ist daher oft von einer "Patentschwemme" aus China ohne grundlegende Innovationsaktivitäten die Rede. Inzwischen steuert die chinesische Regierung um und will vor allem Patentanmeldungen hoher Qualität bei internationalen Patentbehörden fördern. Mit dieser neuen Strategie der "Klasse statt Masse" möchte man im weltweiten Wettbewerb um die besten Erfindungen den Durchbruch schaffen

Wie steht es um Chinas Umwelt?

Björn Conrad

Jahrzehnte des hohen Wirtschaftswachstums, angetrieben von rasanter Industrialisierung und billiger Kohlekraft, haben in China große ökologische Opfer gefordert. Die Metropolen des Landes liegen unter dichtem Smog, der Großteil der Flussläufe ist hochbelastet, Teile der Böden sind verseucht. Umweltverschmutzung und Raubbau an natürlichen Ressourcen war in der Volksrepublik lange der akzeptierte Preis für ungehemmte wirtschaftliche Entwicklung.

QuellentextSmog

Was ist Smog und was ist daran so gefährlich? Smog ist eine Mischung aus Ruß, Feinstaubpartikeln und Nebel. Feinstaubpartikel (Particulate Matter, PM) mit einem Durchmesser von weniger als zehn Mikrometern (PM10) sind besonders gefährlich für die menschliche Gesundheit. Partikel mit weniger als 2,5 Mikrometern (PM 2,5) können aufgrund ihrer geringen Größe bis tief in den Atemtrakt und sogar in die Lungenbläschen gelangen.

Ist ganz China vom Smog betroffen? In allen Teilen des Landes sind Städte vom Smog betroffen. Allerdings sind drei Regionen besonders intensiv beeinträchtigt: die nordostchinesische Region Peking-Tianjin-Hebei, das Yangtse-Delta und das Perlfluss-Delta. Am stärksten leidet die Region Peking-Tianjin-Hebei. Peking wird an bis zu 60 Prozent des Jahres von Smog umhüllt, Shanghai, das geographisch günstiger gelegen ist, hingegen nur zu 30 bis 50 Prozent. In der Region Peking-Tianjin-Hebei ist die Schwerindustrie besonders stark vertreten und geografische Faktoren kommen erschwerend hinzu.

Welche Ursachen sind für den Smog verantwortlich? Es besteht weitgehende Übereinstimmung, dass Kohleverbrennung, Industrieproduktion und Autoabgase die hauptsächlichen Ursachen des Smogs in China sind. Uneinigkeit besteht allerdings darüber, wie hoch der jeweilige Anteil der unterschiedlichen Quellen an der Smogbildung ist. Wissenschaftler der Universität Minnesota weisen Kohlekraftwerken und Autos 70 Prozent der Verantwortung zu. Ein Bericht der Chinesischen Akademie für Wissenschaften sieht hingegen die zentralen Quellen für den Smog bei Rußgasen und der Industrieproduktion (50 Prozent). Das steht im deutlichen Gegensatz zu Ergebnissen des Pekinger Umweltbüros. Dieses misst Autos 22 Prozent, Kohle aber nur 17 Prozent zu. Die fortbestehende Unklarheit über die relative Bedeutung der einzelnen Verursacher führt zu großer Verunsicherung über die tatsächliche Effektivität der zu ergreifenden Gegenmaßnahmen.

Welche Ziele setzt sich China in der Smogbekämpfung? Das Umweltministerium beschloss Ende 2012 erste moderate Ziele für die leichte Reduzierung der PM 2,5-Konzentration um fünf Prozent bis 2015. Die anhaltende Unzufriedenheit der Bevölkerung bewegte den Staatsrat jedoch dazu, zusätzlich einen deutlich ambitionierteren Zehn-Punkte-Aktionsplan mit ehrgeizigen Zielen gegen den Smog zu verabschieden. Viele der Ziele wurden seither erreicht. So lag die durchschnittliche Konzentration von PM5 im Jahr 2017 in 74 chinesischen Großstädten bei 48 μg/m3, was einem Rückgang von über 30 Prozent im Vergleich zu den Werten von 2013 entspricht. Auch bei den PM 2,5 Werten geht der Aktionsplan des Staatsrates für einige Regionen deutlich weiter als der Plan des Umweltministeriums. In den drei Kernregionen Peking-Tianjin-Hebei, Yangtse-Delta und Perlfluss-Delta sollte demzufolge die PM 2,5-Konzentration um jeweils 25, 20 und 15 Prozent sinken. Die Stadt Peking erfüllte ihre Zielvorgaben im vergangenen Jahr: Die durchschnittliche PM 2,5-Konzentration lag 2017 bei 58 μg/m3, was einer Reduktion von über 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht.

Versprechen die Maßnahmen baldige Besserung? Selbst bei voller Einhaltung der gesteckten Ziele wird Smog mittelfristig ein großes Problem in chinesischen Städten bleiben. Das Umweltministerium hat 2012 erstmals verbindliche Luftqualitätsstandards (35 µg/m3) für die Feinstaub-Konzentration festgelegt. Selbst wenn Peking jedes Jahr seine Feinstaub-Konzentration um 25 Prozent senken würde, könnten diese nationalen Standards erst im Jahr 2031 erreicht werden. Kurzfristig sind also aller Voraussicht nach lediglich leichte Verbesserungen zu erwarten. Der Smog wird noch für viele Jahre ein großes Problem für Chinas Städte bleiben, den Zorn der Einwohnerschaft erregen und damit auch weiterhin Druck auf die politische Stabilität des Landes ausüben.

Jost Wübbeke und Elena Klorer, Smog-Spezial, MERICS Web-Spezial, 2014

Mit Beginn des Jahrtausends begann die chinesische Regierung jedoch, ihre Umweltpolitik grundlegend zu verändern. Die politische Führung beschwört seither die Vision eines sowohl ökonomisch als auch ökologisch nachhaltigeren Wirtschaftsmodells. Vor allem zwei Aspekte haben den Umweltschutz zu einer politischen Priorität der Regierung gemacht. Zum einen wächst die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Umweltbelastung und den Verlust an Lebensqualität. Die Menschen fordern Lösungen von der chinesischen Regierung und machen Umweltschutz damit zu einem Gradmesser für die Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der politischen Führung.

Umweltproteste und Umweltgesetzgebung in China (© bpb)

Energieverbrauch verschiedener Energieträger 2000–2016 (© BP Statistical Review of World Energy 2018)

Zum anderen hat die chinesische Regierung die wirtschaftlichen Chancen erkannt, die sich aus einer aktiven Umweltpolitik ergeben. Das Ziel einer grundlegenden Reform des chinesischen Wirtschaftsmodells, basierend auf höherer Wertschöpfung durch technologische Innovation, führt ökonomische und ökologische Interessen zusammen. Umweltschutz eröffnet Möglichkeiten zur Förderung neuer Technologien auf globalen Wachstumsmärkten. China hat bereits einige Märkte für Umwelttechnologien für sich erobert, von Solarmodulen bis zur Batteriefertigung für Elektrofahrzeuge.

Der Startschuss für den Wandel in Chinas Umweltpolitik fiel mit dem 10. Fünfjahr-Plan (2001–2005) der Regierung, der umfassende Zielvorgaben für die Luft- und Wasserqualität festschrieb. Die folgenden Fünfjahr-Pläne führten diese Entwicklung fort, begleitet von neuer Umweltgesetzgebung. Die Befugnisse des chinesischen Umweltschutzministeriums wurden schrittweise ausgeweitet, die Kapazitäten zur Überwachung und Durchsetzung von Umweltvorgaben kontinuierlich gestärkt. Ein Meilenstein war das umfassend revidierte Umweltschutzgesetz, das 2015 in Kraft trat. Das im Vorfeld umkämpfte Gesetz weitet die Kompetenzen der Umweltbehörden weiter aus und erlaubt nun hohe Strafen gegen Umweltsünder. Auch in der internationalen Umwelt- und Klimapolitik übernimmt China zunehmend Verantwortung. Die nationalen Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Klimaschutzabkommens von 2014 wird China voraussichtlich bereits vorzeitig erfüllen können.

Die chinesische Regierung unternimmt weitreichende Anstrengungen, um die schwierige Umweltsituation in den Griff zu bekommen. Doch die Wurzeln der chinesischen Umweltprobleme sitzen zu tief, alsdass kurzfristige Lösungen greifen könnten. Bisherige Maßnahmen wirken daher teilweise wie der Tropfen auf den heißen Stein. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf die Abhängigkeit des Landes von der Kohlekraft. Seit Jahren investiert die Volksrepublik massiv in den Ausbau alternativer Energiequellen, insbesondere in die Windenergie: 2006 hatte China gerade einmal 2,6 Gigawatt installierte Windkraftkapazität, etwa ein Achtel der installierten Kapazität im damals führenden Deutschland. Ende 2015 lag die installierte Kapazität in China bei 145,1 Gigawatt, mehr als in der gesamten Europäischen Union (141,6 GW).

Doch trotz dieses beispiellosen Ausbaus erneuerbarer Energien macht Kohlekraft weiterhin fast zwei Drittel des chinesischen Energiemixes aus. Fundamentale Wandlungsprozesse wie die Veränderung von Industriestruktur und Energiemix brauchen Zeit. Auf lange Sicht gibt es durchaus Grund zum Optimismus. Kurzfristig jedoch dürfte der Smog auch weiterhin in Peking und andernorts für Beunruhigung in der Bevölkerung sorgen.

QuellentextElektrobusse im Kampf gegen den Smog

Eine Bushaltestelle in Peking, direkt an der Chang’an-Magistrale, die Chinas Hauptstadt von West nach Ost durchschneidet: Im Minutentakt halten die großen, kastenförmigen Gelenkbusse, die man aus allen Weltstädten kennt, gefüllt bis auf den letzten Sitzplatz. Es ist laut, es stinkt, wer in der Warteschlange steht, tritt unwillkürlich einen Schritt zurück.

Dann kommt ein Bus der Linie 1, die seit 1950 hier entlangführt, fast genauso lange, wie die Volksrepublik China besteht. Dieser Bus sieht anders aus: Rot-weiß lackiert, vorn und hinten windschnittig abgerundet, wie ein Delfin auf Rädern. Ein lautloser Delfin.

Denn die neuen Busse der Linie 1 werden nicht mehr mit Diesel oder Erdgas angetrieben, sondern mit Strom aus Lithium-Titan-Batterien. Mehr als ein leises Surren ist nicht zu hören, wenn sie anfahren.

Im Herbst 2017 gingen die ersten der neuen Busse auf Linie 1 in Betrieb. Im Jahr 2020 sollen 10.000 von ihnen unterwegs sein, rund ein Drittel des Fuhrparks der 20-Millionen-Stadt wäre dann elektrisch. Gut möglich, dass es schneller geht. Mehr als 4000 Elektro- und Hybridbusse sind schon jetzt unterwegs.

Es ist die schiere Not, die China ins Zeitalter der E-Busse treibt – und auf dem lukrativen Zukunftsmarkt in die Führungsposition manövriert hat. Die städtische Bevölkerung erträgt die Luftverschmutzung nicht mehr, die Regierung will den Smog weghaben. Ein probates Mittel dafür ist die Elektrifizierung der öffentlichen Busse, die bisher bis zu 30-mal mehr Sprit verbrauchen als ein durchschnittlicher Pkw.

Nach Angaben des Branchendienstes Bloomberg New Energy Finance (BNEF) sind weltweit inzwischen rund 385.000 E-Busse unterwegs, gut 99 Prozent davon in China. Fast jeder fünfte Bus in der Volksrepublik fährt heute ohne Verbrennungsmotor. Tendenz: stark steigend.

Die Volksrepublik nimmt damit eine Entwicklung vorweg, die in westlichen Großstädten erst allmählich beginnt.
[...] Shenzhen, Chinas Hightech-Metropole im Süden, hat vor einem halben Jahr Vollzug gemeldet: Dort sind bereits alle Busse auf reinen Elektrobetrieb umgestellt, 16.359 Fahrzeuge insgesamt. 2,85 Millionen Kilometer legen sie täglich zurück.

Der Hersteller BYD verschickt in regelmäßigen Abständen Pressemails, in welche Städte rund um den Globus er gerade wieder E-Busse verkauft. Im Dezember gingen 23 Modelle in die italienischen Städte Novara und Turin. Im Januar schickte BYD zwei E-Busse nach Norwegen.
Schon vor sieben Jahren hatte BYD auf einer Branchenkonferenz in Belgien das Modell eines E-Busses vorgestellt. Damals hielten viele Kritiker dies noch für einen Witz. "Alle lachten uns aus, weil sie dachten, wir hätten ein Spielzeug gebaut", sagte Isbrand Ho, die Europachefin von BYD [...]. Heute habe fast jeder Hersteller einen solchen Bus im Sortiment.

Die chinesischen Firmen haben es deutlich leichter, das große Rad zu drehen, als ihre europäischen Kollegen. Immerhin werden sie von der Regierung massiv subventioniert. In Shenzhen zum Beispiel soll der Staat rund die Hälfte der anfallenden Kosten zur Umstellung der Busflotte übernommen haben.
Die chinesische Großoffensive hat allerdings noch einen weiteren positiven Effekt. Dank sicherer Absatzmärkte lohnt sich der Einstieg in die Massenproduktion. Und das wiederum senkt die Herstellungskosten. [...]

Gleichzeitig zementieren die Chinesen ihre Marktmacht. 2017 wurden rund 90.000 Busse verkauft, fast alle davon wurden von chinesischen Produzenten hergestellt. [...]

Stefan Schultz / Bernhard Zand, "Ohne Volldampf in die Verkehrsrevolution", in: Spiegel online vom 25. Juni 2018

Wirtschaftsdaten kompakt (© Wirtschaftsdaten kompakt. VR China. Mai 2018 © Germany Trade & Invest 2018)

Max J. Zenglein leitet den Programmbereich Wirtschaft am MERICS. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die sektorspezifische und makroökonomische Wirtschaftsentwicklung in China, die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen sowie Arbeitsmarkt und Beschäftigung in China.

Jost Wübbeke ist Senior Analyst bei der Beratungsagentur Sinolytics in Berlin. Von 2014 bis 2018 war er am MERICS für den Bereich Innovation und Umwelt zuständig. Zu seinen Schwerpunkten zählen Chinas technologische und digitale Transformation sowie Chinas Umwelt- und Energiepolitik.

Björn Conrad ist Geschäftsführer und Mitbegründer der Beratungsagentur Sinolytics in Berlin. Von 2014 bis Anfang 2018 leitete er den Forschungsbereich Wirtschaft, Innovation und Umwelt am MERICS und war stellvertretender Direktor Forschung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Chinas technologische und digitale Transformation sowie Chinas Umwelt- und Energiepolitik.