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Die Epoche des Hochimperialismus | Europa zwischen Kolonialismus und Dekolonisierung | bpb.de

Europa zwischen Kolonialismus und Dekolonisierung Editorial Einleitung Die "Eroberung der Welt" und der Konflikt um universelle Rechte Die Epoche des Hochimperialismus Krisen und Niedergang der europäischen Imperien Die Auflösung der europäischen Imperien und ihre Folgen "Wir" und die "Anderen": europäische Selbstverständigungen Die "Anderen" in den Metropolen Kultureller Wandel und hybride Identitäten Ausblick Literaturhinweise Karten Impressum

Die Epoche des Hochimperialismus

Prof. Dr. Gabriele Metzler

/ 21 Minuten zu lesen

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verdichten und formalisieren die europäischen Staaten die Herrschaft über ihre Kolonialgebiete. An der dort lebenden Bevölkerung wollen sie eine "Zivilisierungsmission" erfüllen. Widerstand beantworten sie mit rücksichtsloser Gewalt, zu der sie sich auch durch die aufkommende "Rassenlehre" und die herrschende Völkerrechtsauffassung ihrer Zeit berechtigt glauben.

Auf der Berliner Konferenz 1884/85 einigen sich die Vertreter europäischer Staaten unter Vermittlung Otto von Bismarcks auf Grundsätze und Verfahren zur Regelung ihrer kolonialen Besitzansprüche. (© ullstein bild)

In den 1880er-Jahren trat die Eroberung und Ordnung der Welt durch die Europäer in eine neue Phase ein. Dies lässt sich in Asien und Afrika genauso beobachten wie in Europa selbst. Erste Anzeichen dafür hatte es schon Ende der 1850er-Jahre gegeben, als Großbritannien nach der sogenannten Great Mutiny von 1857, einem Aufstand des indischen Militärs, sein Reich in Indien neu ordnete und die Macht dort von der East India Company auf staatliche Vertreter Londons überging.

Nun, seit den 1880er-Jahren, gewann Kolonialpolitik eine neue Qualität. Sie schlug sich nieder im Anspruch der europäischen Mächte, die kolonisierten Räume und Gesellschaften nach rationalen Kriterien aktiv zu gestalten. Dazu gehörten groß angelegte Eisenbahn- und Straßenbauprogramme, medizinische Kampagnen zur Bekämpfung der Malaria oder der Schlafkrankheit sowie der Bau von Schulen. Die Wechselbeziehungen zwischen Europa und Außereuropa entwickelten sich nun noch dynamischer und der "Wettlauf um Afrika" zwischen den europäischen Kolonialmächten war der prominenteste Teil davon. Der Historiker Jürgen Osterhammel bezeichnete die europäische Besetzung Afrikas als "einen einzigartigen Vorgang der zeitlich konzentrierten Enteignung eines Kontinents".

"Wettlauf um Afrika" und Ausdehnung imperialer Macht in Asien

Als die Vertreter der europäischen Mächte und der USA am letzten Tag der Berliner Konferenz (15.11.1884 – 26.2.1885) ihre Unterschriften unter die sogenannte Kongo-Akte setzten und das riesige Kongobecken zu einer Freihandelszone erklärten, machten sie nicht nur wirtschaftliche Interessen geltend: Sie legten damit das Fundament des Hochimperialismus. Denn anders als vielfach behauptet, beschlossen sie auf der Berliner Kongo-Konferenz nicht, Afrika untereinander aufzuteilen. Faktisch war der "Wettlauf um Afrika" längst im Gange. Vielmehr verständigten sie sich darauf, dass koloniale Inbesitznahme künftig "effektiv" zu sein hatte, um anerkannt zu werden; und das hieß, dass in der Kolonie zumindest rudimentäre Strukturen eines territorialen Verwaltungsstaates auszubilden waren. Unter Kapitel VI der Akte vereinbarten sie, wie künftig der Anspruch auf europäischen Besitz zu erheben und zu legitimieren war: Wolle man von neuen Gebieten Besitz ergreifen oder auch nur eine "Schutzherrschaft" errichten, so sei den übrigen europäischen Mächten davon Kenntnis zu geben, damit eventuelle Einsprüche geltend gemacht werden konnten. Zudem gehöre zur Inbesitznahme zwingend dazu, eine "Obrigkeit zu sichern, welche hinreicht, um erworbene Rechte und, gegebenenfalls, die Handels- und Durchgangsfreiheit (...) zu schützen" (Art. 35 der Kongo-Akte).

Die Epoche informeller Durchdringung kam damit an ihr Ende, eine stärker formalisierte europäische Herrschaft wurde nun zur Regel. Bis dahin waren es vor allem die "men on the spot" gewesen, die ohne ein politisches Mandat unmittelbar vor Ort in unerschlossene Gebiete vorgedrungen waren und Fakten geschaffen hatten; sei es aus kommerziellem oder wissenschaftlichem Interesse, aus purer Abenteurerlust oder Profilierungssucht. Ihr Einfluss wurde nun zwar nicht völlig verdrängt, aber doch staatlich überlagert. Diese Trendwende bewarben die europäischen Mächte als "Mittel zur Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften", wie sie sich in der Präambel der Kongo-Akte wechselseitig versicherten. Otto von Bismarck, als deutscher Reichskanzler Gastgeber der Konferenz, sah in dieser Aufgabe "ein neues Band der Gemeinsamkeit unter den Kulturvölkern" herausgebildet, wie er in der Schlussrede kundtat.

Wie über die Zukunft des afrikanischen Kontinents in Berlin 1884/85 verhandelt wurde, ist durchaus charakteristisch für die europäische Politik vor dem Ersten Weltkrieg. So waren sich die Vertreter der europäischen Staaten vollkommen einig darin, die Afrikaner selbst an den Beratungen nicht zu beteiligen, ja sie nicht einmal anzuhören oder ihre Interessen zu berücksichtigen. Außer Frage stand für sie zudem, dass die Europäer in der "Zivilisierung" außereuropäischer Völker ihre historische Aufgabe gefunden hätten; und dass sie insbesondere Menschen aus Afrika in jeder Hinsicht überlegen seien, wie es die zur gleichen Zeit dominant werdende "Rassenlehre" suggerierte. Schließlich waren die Berliner Verhandlungen auch ein Beispiel dafür, dass koloniale Ansprüche oder Kolonien als Verfügungsmasse dienten, auf die die europäischen Staaten Zugriff hatten, wenn sie ihre Konflikte untereinander entschärfen wollten.

Die Aufteilung Afrikas

Tatsächlich gelang es bis 1914 immer wieder, Konflikte durch koloniale Zugeständnisse friedlich zu lösen. Selbst wenn sich Konfrontationen zuspitzten, ließen sich koloniale "Ausgleichsgeschäfte" vereinbaren und Interessensphären abgrenzen. So geschah es etwa 1898 bei Faschoda, einem sudanesischen Ort am Weißen Nil, als englische und französische Truppen dort aufeinandertrafen und den jeweiligen Ansprüchen ihrer Regierungen auf Afrika Nachdruck zu verleihen suchten: Frankreich seinen Plänen einer West-Ost-Expansion vom Senegal über den Tschadsee bis zum Nil, Großbritannien einer Süd-Nord-Verbindung von Kairo bis ans Kap der guten Hoffnung. Entschärft werden konnten auch die Konflikte von 1905 bzw. 1911, als deutsche und französische Interessen an Marokko zu wechselseitigen militärischen Drohgebärden geführt hatten.

Hatte zur Zeit der Berliner Konferenz die europäische Darstellung der Landkarte Afrikas noch weite weiße Flächen im Inneren des Kontinents aufgewiesen, so hatten die Europäer bis 1914 die Landmasse untereinander aufgeteilt. Lediglich Liberia und Abessinien, das Gebiet des heutigen Äthiopien und Eritrea, waren (noch) frei von europäischem Zugriff (Abb. Karte IV).

Afrika beflügelte nun auch die Phantasien der kolonialen "Spätkommer" unter den europäischen Mächten: der beiden jungen Nationalstaaten Deutschland und Italien. Das Deutsche Reich erhob Ansprüche auf Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika sowie auf Kamerun und Togo. Das junge Königreich Italien, selbst erst 1861 entstanden, kontrollierte vor dem Ersten Weltkrieg Libyen und einige Gebiete in Ostafrika (Somaliland, Eritrea); sein Protektorat über Abessinien bestand nur von 1889 bis 1896, blieb aber fortan im Horizont der italienischen Politik.

Damit waren das Deutsche Reich und Italien zwar an der Aufteilung Afrikas beteiligt, doch den Löwenanteil sicherten sich andere: Frankreich nahm sich neben Nordafrika – seit 1830 schon Algerien, das 1881 zum Teil Frankreichs wurde, sowie Tunesien und Marokko – den größten Teil Westafrikas. Tunesien war formal eine Provinz des Osmanischen Reiches gewesen, bis Frankreich dort 1881 zunächst ein Protektorat errichtete und das Land zwei Jahre später ganz in sein Kolonialreich integrierte. 1896 stieß Frankreich dann im Osten des Kontinents mit der Errichtung der Kolonie Französisch-Somaliland (heute Dschibuti) bis an das Horn von Afrika vor, ein Jahr zuvor hatte es die Insel Madagaskar vor der südostafrikanischen Küste vereinnahmt.

Währenddessen dehnte sich die britische Herrschaft vor allem über Südafrika und weite Teile Ostafrikas aus. Selbst das nach europäischem Maßstab kleine Königreich Belgien hatte 1908 die seit der Berliner Konferenz 1885 als Kongo-Freistaat geführte riesige Privatkolonie König Leopolds II. übernommen. Auch die alte Kolonialmacht Portugal erneuerte ihre Herrschaft in Afrika, indem sie Gebiete in West- und Ostafrika (später Angola und Mosambik) sowie an der nordwestlichen Küste Guineas kontrollierte.

Die Kolonisierung Asiens

Auch in Asien bestand die imperiale Herrschaft der Europäer nicht nur fort, sondern wurde vor dem Ersten Weltkrieg noch erweitert. Frankreich baute seine Kolonien in Südostasien aus. Der Schwerpunkt lag auf Tonkin, Annam und Cochinchina (den drei Provinzen des späteren Vietnam) sowie Kambodscha (Union Indochinoise, 1887); 1893 kam Laos dazu. Europäische Supermacht in Asien war freilich Großbritannien, das 1870 Indien, Burma, Ceylon, Malaya, Niederlassungen an der Straße von Malakka ("Straits Settlements"), Singapur und Hongkong beherrschte; bis 1914 kamen weitere kleinere Gebiete dazu. Präsent waren die Briten zudem im Pazifik.

Dort strebte auch das Deutsche Reich nach Kolonialbesitz, der mit Samoa und Neuguinea aber im Vergleich recht bescheiden ausfiel. Auch Portugal hielt einige kleinere Besitzungen im Pazifik (vor allem Macau und Portugiesisch-Timor), während das niederländische Imperium nahezu ganz auf Südostasien (Niederländisch-Ostindien, wo von Java aus weitere Inseln unterworfen wurden) konzentriert war. Mit den Vereinigten Staaten erwuchs den Europäern seit Beginn des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 ein neuer, zunehmend mächtiger Gegenspieler gerade in ihrem alten Herrschaftsraum, der Karibik, und darüber hinaus: So waren die zuvor von Spanien beanspruchten Philippinen von 1902 bis 1946 eine Kolonie der USA.

Europäische Expansion traf auf Widerstand und konnte häufig nur gewaltsam durchgesetzt werden. Aber auch das Verhältnis von Kolonien und Metropole blieb umstritten. Am erfolgreichsten in ihrer Forderung nach Mitsprache waren Weiße Siedlerkolonien. So erlangte Kanada bereits 1867 den Status eines Dominion innerhalb des britischen Empire; Australien, Neuseeland und Neufundland folgten 1907, die südafrikanische Union 1910. Dieser Status war mit der Herauslösung aus unmittelbarer britischer Herrschaft und der weitgehend autonomen Regelung der eigenen inneren Angelegenheiten verbunden.

Territorialisierung und Grenzziehungen in der Hochmoderne

Der in den 1880er-Jahren einsetzende "Wettlauf um Afrika" bezeichnete nicht nur geografisch eine neue Phase europäischer Expansion; zugleich verband sich europäische Herrschaft nun mit einem höheren Grad territorialer Ordnung: Informelle wichen zunehmend formellen Herrschaftsformen. Die Aufteilung Afrikas, die seit der Kongo-Akte unter dem verbindlichen Vorzeichen "effektiver Inbesitznahme" erfolgte, fällt zusammen mit dem einsetzenden Zeitalter der "Territorialität", wie der US-amerikanische Historiker Charles Maier den Zeitraum von den 1860er- bis zu den 1980er-Jahren benannt hat.

"Territorialität" bedeutet eine präzise, verbindliche Festlegung politischer Grenzen, aber auch, Grenzziehung als dominante soziale Praxis zu verstehen. Im Sinne Maiers heißt das, dass die Grenzen politischer Handlungs- und Identitätsräume in eins fallen; dass politische, rechtliche und soziale Infrastrukturen entstehen, auf denen Identität und "Wir"-Bewusstsein beruhen. Für die Menschen in Afrika war dies weithin eine neue Erfahrung, denn die meisten vorkolonialen Staaten dort waren als Personenverbandsstaaten organisiert. Dies bedeutet, dass sich politische bzw. staatliche Organisation nicht an einem festgelegten Territorium orientierte, sondern an einer Gruppe von Personen, die sich zusammenschloss. Was genau als Lebens- oder Siedlungsraum definiert wurde, war für die Existenz solcher Staaten von nachrangiger Bedeutung.

Der Effizienzgedanke und die Rationalisierung von Herrschaft

Der Prozess territorialer Grenzziehungen vollzog sich in Europa wie in den europäischen Kolonien gleichermaßen. "Effektive" Inbesitznahme bedeutete territoriale Konsolidierung, klare rechtliche Absicherung, die Schaffung von Institutionen kolonialer Herrschaft oder Einflussnahme auf bestehende lokale Herrschaftsinstitutionen. Dies war nur möglich, weil sich die Kommunikation zwischen den Kontinenten im späten 19. Jahrhundert merklich verbesserte und beschleunigte. Telegrafen, Unterseekabel, aber auch Eisenbahnen verringerten räumliche Entfernungen, in den Kolonien selbst, aber vor allem auch zwischen ihnen und der Metropole. Die imperialen Räume zogen sich zusammen. Nicht nur symbolisch steht dafür die Übereinkunft von Washington (1884), die mit ihrer weltweiten Orientierung an der "Greenwich Mean Time" eine globale Zeitordnung festlegte.

In den europäischen Hauptstädten entstanden nun zunehmend eigene Kolonialministerien, die für eine effizientere, mit den Interessen der jeweiligen Kolonialmacht abgestimmte Verwaltung sorgen sollten: in Großbritannien schon 1854 bzw. mit dem wichtigeren India Office 1858, in den Niederlanden 1842/57, in Frankreich 1894, in Belgien 1908, in Portugal 1911 und in Italien 1912. Im Kaiserreich wurde 1890 eine eigene Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt angesiedelt, die dem Reichskanzler unterstellt war. Mit Erlass vom 17. Mai 1907 folgte die Gründung des Reichskolonialamtes mit einem Staatssekretär an der Spitze. Das Amt blieb dem Reichskanzler unterstellt. Im Februar 1919 trat dann das Reichskolonialministerium die Nachfolge des Reichskolonialamtes an.

Die Professionalisierung der Kolonialverwaltung war unterschiedlich stark ausgeprägt, der Anspruch darauf aber nirgendwo zu übersehen. Allerdings wurde aus der Geschichtswissenschaft immer wieder darauf hingewiesen, dass in den europäischen Kolonien fast nirgends wirklich umfassende und effektive Bürokratien entstanden. In der Regel blieben die Institutionen vor Ort schwach und die europäischen Kolonialherren waren zur Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche fast immer auf lokale Vermittlung und Unterstützung angewiesen, angefangen von Dolmetschern bis hin zu einheimischen militärischen Hilfstruppen.

Bemerkenswert ist, dass sich innerhalb des imperialen Raumes ähnliche Entwicklungen in Europa und Außereuropa zeigten. Dies gilt für die Rationalisierung von Herrschaft, also für die Vorstellung, Herrschaft müsse rationalen Kriterien folgen und dürfe nicht willkürlich sein, wenn sie effizient und anerkannt sein wollte. Daher wurden umfassende Planungen angestellt und räumliche Ordnungsvorstellungen durchgesetzt. Es erfolgten technokratische Zugriffe und es wurden, wie der Historiker Dirk van Laak gezeigt hat, "menschenwissenschaftliche" und "menschenökonomische" Kategorien erprobt, welche die Art und den Nutzen von Menschen wissenschaftlich zu begründen suchten. Dies schlug sich gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts in massenhaften Datensammlungen, Kartografierungen, botanischen und anthropologischen Systematisierungen, kurz: Vermessungen aller Art nieder, aus denen dann handlungsrelevantes Wissen, ja Handlungsanweisungen gewonnen wurden.

Wissenschaftler wie der deutsche Mediziner/Pathologe und Anthropologe Rudolf Virchow vermaßen Körper, sowohl in Afrika als auch in großem Stil an deutschen Schulkindern, und suchten dabei Anhaltspunkte für die Existenz verschiedener "Rassen" zu gewinnen. Sozialanthropologie, Eugenik und "Rasseforschung" leiteten daraus eine Hierarchie von "Rassen" ab, die in Europa wie in Außereuropa wissenschaftlich begründete Geltungskraft beanspruchte. Sozialgeografen markierten afrikanische Stammesgebiete genauso wie innerstädtische Armuts- und Kriminalitätszonen in Europa. Grenzen traten deutlicher zutage, nicht nur im politischen Sinne, sondern eben auch Grenzen etwa zwischen "Rassen", zwischen "uns" und "den Anderen".

Gewalt und Völkerrecht

Eine der zentralen Herrschaftstechniken der europäischen Mächte war die Anwendung von Gewalt. Im kolonialen Alltag war sie allgegenwärtig, sei es, indem sie konkret ausgeübt wurde, sei es, dass sie als permanente Androhung präsent war. Europäische Herrschaft war stets gefährdet, ihr wurde (mitunter gewaltvoller) Widerstand entgegengesetzt – und sie wurde von den Europäern auch als gefährdet empfunden. Deshalb erachteten sie es für notwendig, Aufstände brutal niederzuschlagen, Strafexpeditionen durchzuführen und blutige Exempel zu statuieren. Zwangsumsiedlungen waren gang und gäbe, wenn es etwa galt, Epidemien wie die Schlafkrankheit zu bekämpfen; und mit Gewalt wurden unzählige Menschen in den Kolonien zur Arbeit auf Plantagen, zum Abbau von Rohstoffen oder zur Arbeit in Fabriken gezwungen. In vielen Gegenden der Welt hat sich physische Gewalt als Mittel, Macht auszuüben und Herrschaft zu sichern, bis heute erhalten, auch weil sich die Staaten, historisch gesehen, kaum friedlich, sondern meist im Ergebnis gewaltsamer Auseinandersetzungen gebildet haben.

Besondere Härte in einer oftmals als lebensfeindlich empfundenen, fremden Umwelt zu zeigen, gehörte zum Selbstbild europäischer Männer in den Kolonien. Und auch in den europäischen Gesellschaften selbst war weithin anerkannt, dass die zivilisatorischen Aufgaben gegebenenfalls nur durch den Gebrauch von Gewalt erfüllt werden konnten. Während "der bürgerliche Wertehimmel", so der Titel eines Buches des Historikers Manfred Hettling, also das Bündel von Pflichten und idealen Eigenschaften, Europäern Tugenden wie Selbstbeherrschung nahelegte, kamen diese in den kolonialen Gewalträumen nur allmählich zur Anwendung.

Die Haager Konferenzen und die Unterscheidung zwischen "Zivilisierten" und "Kriegern"

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich gut beobachten, wie Europäer im Umgang mit exzessiver Gewalt zwischen sich und "den Anderen" unterschieden. Gerade das Völkerrecht bietet reiche Anschauung dafür. So brachten die beiden Konferenzen, die 1899 und 1907 auf Initiative des russischen Zaren und auf Einladung der niederländischen Königin in Den Haag stattfanden, bedeutende Fortschritte in der Regulierung des Rechts im Krieg (ius in bello): Um die Zivilbevölkerung im Falle eines Krieges vor übermäßigen Folgen militärischer Gewalt zu schützen, wurde in der Haager Landkriegsordnung von 1899/1907 nun sorgfältig zwischen Kombattanten (Angehörigen der regulären Streitkräfte) und Nicht-Kombattanten (Zivilbevölkerung, aber auch Sanitäter) unterschieden; letztere standen fortan unter besonderem völkerrechtlichem Schutz.

Dies freilich galt nur für die Angehörigen "zivilisierter", und das hieß zu dieser Zeit: souveräner, anerkannter Staaten. Schon an den Rändern Europas durften die Menschen kaum auf besonderen Schutz hoffen, wie die Balkankriege 1912/1913 zeigten. Doch vor allem in den kolonialen Räumen war die mäßigende Wirkung des modernen Kriegsvölkerrechts gering. Denn es galt vornehmlich für die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen "gesitteten Staaten", wie es in der Präambel hieß. Nicht in souveränen Staaten organisierten Völkern außerhalb Europas wurde jene Zivilisiertheit abgesprochen, die Anlass zur völkerrechtlichen Einhegung des Krieges gegeben hatte, Kriegsgefangenen einen Anspruch auf rechtmäßige Behandlung und Zivilpersonen Schutzwürdigkeit zuerkannte.

Entsprechend argumentierten Völkerrechtler bis in die Zwischenkriegszeit hinein immer wieder, dass für Auseinandersetzungen in den Kolonien andere Gesetze gälten. Hier wird ein besonderes Menschenbild erkennbar. Denn ohne dies kritisch zu hinterfragen, ging die Mehrheit der Völkerrechtler zu dieser Zeit davon aus, dass es "wilde" oder auch besonders "kriegerische" Völker gäbe, gegen die "zivilisierte Europäer" nur durch den Einsatz besonderer Gewaltmittel bestehen könnten. Die US-Amerikaner argumentierten im Hinblick auf ihre Eroberung Kubas und der Philippinen ähnlich.

Damit stellten sich westliche Mächte gleichsam einen Blankoscheck aus, durch den sie sich auch zum Gebrauch geächteter Waffen berechtigt sahen. So setzten die Briten zuerst im Sudan 1895, dann gegen vornehmlich nicht Weiße Truppen im zweiten Burenkrieg (1899–1902) Dum-Dum-Geschosse ein, die aufgrund einer nur teilweisen Ummantelung beim Auftreffen auf ein Ziel auseinanderplatzen und besonders schwere Verletzungen zufügen. Und in den 1920er-Jahren kam mehrfach bei "Aufstandsbekämpfungen" Giftgas zum Einsatz.

QuellentextWo der Imperialismus noch wirkt

Frankfurter Rundschau (FR): Herr Anghie, was für ein Verhältnis besteht zwischen internationalem Recht und Kolonialismus?

Anghie: Im 19. Jahrhundert war es völlig legal, in den Krieg zu ziehen, die Völker Afrikas und Asiens und deren Land zu erobern. Im Falle Australiens kam England an, pflanzte eine Flagge in den Boden und beanspruchte einen ganzen Kontinent als sein Hoheitsgebiet. Auch massive Gewalt war völkerrechtlich legal. […]
[A]ußereuropäische Völker wurden nicht als souverän betrachtet, weil sie eine Kultur hatten, die sich von der Zivilisation unterschied, die Europa als dem richtigen Standard entsprechend ansah. Länder, die andere Kulturen oder Regierungssysteme hatten, galten als unzivilisiert. Und da sie unzivilisiert waren, wurde ihnen im 19. Jahrhundert die Souveränität abgesprochen.
Was das Völkerrecht angeht, ist es so: Wenn ein Staat nicht souverän ist, kann er sich nicht an der Gestaltung dieses Rechts beteiligen. Infolgedessen waren die Völker Afrikas und Asiens die Objekte, gegen die sich das Völkerrecht durchsetzen konnte. Als Ergebnis der europäischen Eroberung wurden alle diese Gebiete in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Pazifik unter ein von Europa geschaffenes Rechtssystem gebracht. […]

FR: Hat sich das Völkerrecht seitdem verändert? Wie sieht es heute in Bezug auf die einstigen Kolonien aus?

Anghie: […] Das Völkerrecht funktioniert nicht demokratisch. Hundert Länder könnten sagen, wir sollten Atomwaffen verbieten. Aber wenn die Atomstaaten sagen, dass sie sich dem nicht beugen und ihre Waffen behalten wollen, gibt es nichts, was die anderen Staaten tun können. Im Völkerrecht wie in vielen anderen Bereichen des Rechts sind es die Mächtigen, die das Gesetz erlassen und es den Schwachen auferlegen. Und die Schwachen, selbst wenn sie unabhängige souveräne Staaten sind, können die Mächtigen nicht so leicht dazu zwingen, etwas zu tun, das ihren Interessen entgegensteht.

FR: Sie argumentieren, dass das Völkerrecht bis heute seinen imperialistischen Charakter bewahrt hat. […] Könnten Sie das erklären?

Anghie: […] Wenn wir zum Beispiel den Krieg gegen den Irak [von 2003 unter Führung der USA] betrachten […], können wir sehen, dass dieses Gedankenkonstrukt [der mission civilisatrice, der Zivilisierungsmission der Kolonialmächte] immer noch sehr wirkmächtig ist und sich sogar in angeblich modernen Rechtsdoktrinen ausdrücken kann. […] Mächtige Staaten rechtfertigen die Gewalt, indem sie neue Rechte vorbringen, die "der Zeit angemessen sind" oder neue Versionen der Menschenrechtsgesetzgebung, die derartige Gewaltmaßnahmen erlauben.

Antony Anghie, Jahrgang 1961, ist Professor für Recht an der National University of Singapore und der University of Utah, Salt Lake City. Sein Forschungsinteresse gilt den Bereichen Völkerrecht, Internationales Wirtschaftsrecht, Menschenrechte, Internationale Rechts- und Geschichtstheorie.

"Im Völkerrecht ist es bis heute so, dass die Mächtigen das Gesetz erlassen". Interview von Susanne Lenz mit Antony Anghie, in: Frankfurter Rundschau vom 28. Januar 2018

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Zwischen rechtlicher und moralischer Legitimität

Rechtliche Konsequenzen hatte weder dies noch die Gewalt, die deutsche Kolonialtruppen 1904 bis 1908 im Kampf gegen die Herero und Nama anwandten. 2016, mehr als hundert Jahre später, bewertete die Bundesregierung die Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama als Völkermord, eine Kategorie, die allerdings erst seit 1948 im Völkerstrafrecht verankert ist und daher nach bisheriger Rechtsauslegung nicht rückwirkend geltend gemacht werden kann.

QuellentextBefehl von Generalleutnant von Trotha

Kommando der Schutztruppe Osombo – Windhuk, 2.10.04 J. Nr. 3737.

Ich der große General der Deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero.
Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert erhält tausend Mark, wer Samuel Maherero bringt erhält fünftausend Mark. Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen.
Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.
Dies sind meine Worte an das Volk der Herero.

Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers.

Dieser Erlaß ist bei den Appells den Truppen mitzuteilen mit dem Hinzufügen, daß auch der Truppe, die einen der Kapitäne fängt, die entsprechende Belohnung zu teil wird, und daß das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen. Ich nehme mit Bestimmtheit an daß dieser Erlaß dazu führen wird, keine männliche Gefangene mehr zu machen, aber nicht zu Grausamkeiten gegen Weiber und Kinder ausartet. Diese werden schon fortlaufen, wenn zweimal über sie hinweggeschossen wird. Die Truppe wird sich des guten Rufes der Deutschen Soldaten bewußt bleiben.

Der Kommandeur.
gez. v. Trotha
Generalleutnant

Bundesarchiv R1001/2089

Zur Zeit kolonialer Expansion war das Recht jedenfalls kein verlässliches Instrument, mit dem sich Gewalt einhegen ließ. Im Gegenteil eröffnete es koloniale Gewalträume und legitimierte deren Existenz. Die Europäer nutzten diese historische Chance, ihre "zivilisatorische Überlegenheit" tief in das moderne Völkerrecht einzuschreiben, sich selbst als Subjekte und die Kolonisierten allenfalls als Objekte des Rechts zu markieren – und auf diese Weise ein festes Fundament für asymmetrische Machtbeziehungen zu legen. Stimmen, die aus humanitären Gründen für eine Einhegung kolonialer Gewalt und eine rechtliche Gleichbehandlung der Kolonisierten plädierten, blieben randständig.

QuellentextTatbestand Vökermord

[…] Deutschland schloss in der neuerworbenen Kolonie [Deutsch-Südwestafrika] Schutzverträge mit einzelnen Stämmen, auch mit den Herero, zunächst aber nicht mit den Nama.
[…]. Die Herero, die sich von den Deutschen eigentlich Schutz vor den Nama […] erhofft hatten, sagten sich 1888 von dem Schutzvertrag los. Zwar wurde das Abkommen zwei Jahre später wieder in Kraft gesetzt. In der Zwischenzeit hatten sich aber die allgemeinen Kräfteverhältnisse zu Lasten der Herero verändert. Zu einer Katastrophe […] wuchs sich 1897 eine Rinderkrankheit aus […]. Etwa 95 Prozent der Tiere verendeten. Fortan mussten viele Herero für die Kolonialmacht arbeiten, da sie sich anders nicht mehr ernähren konnten.

Das Leben in der Kolonie wurde für die Einheimischen zunehmend schwer, da sich die Kolonialherren im Wortsinne immer breiter machten. Siedler beanspruchten immer mehr Wasserstellen für sich, was den einheimischen Viehzüchtern die Lebensgrundlage entzog. Händler betrogen Einheimische. Die Unzufriedenheit wuchs und brach sich schließlich im Januar 1904 blutig Bahn. Die Akten der evangelisch-lutherischen Kirche der Kolonie enthalten ein Eingeständnis der Gründe für den Aufstand: "Bleibt die Wahrheit bestehen, dass der Zündstoff zum Aufstand 1904 zum großen Teil von solchen Weißen zusammengetragen worden ist, die im Bewusstsein ihres Herrenmenschentums das Rechtsempfinden des Herero-Volkes fortgesetzt und ungescheut glaubten mit Füßen treten zu dürfen."Geschrieben wurde das zwar erst […] 1912. Aber für die damalige Zeit ist es doch eine sehr bemerkenswerte Aussage.

[…] Nachdem bis April 1904 die Kämpfe kein eindeutiges Ergebnis gezeigt hatten, stellte Gouverneur Theodor Leutwein die militärischen Operationen vorübergehend ein. Er wollte auf Verstärkung aus Europa warten. Auch danach gedachte Leutwein die Kämpfe so zu führen, dass das Volk der Herero erhalten bleibe. Der neue Oberbefehlshaber der Truppe, Generalleutnant von Trotha, hatte andere Vorstellungen. Afrikaner, so der Offizier […], wichen nur der Gewalt. "Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben war und ist meine Politik", äußerte Trotha.
Er sollte seinen Grundsätzen treu bleiben. Nachdem im Laufe des Monats Juli Verstärkung aus Deutschland in der Kolonie eingetroffen war, stellten sich die Aufständischen im August am Waterberg zur Entscheidungsschlacht. [...]. Die deutschen Truppen schlossen sie ein, wobei sie die Einheiten so aufstellten, dass an einer Stelle ein Ausbruch der Belagerten möglich war. Dieser eine Ausweg führte allerdings in die Omaheke-Wüste, also ins beinahe sichere Verderben. Einzelnen war es, wie sich im Nachhinein auch zeigte, möglich, die Wüste zu durchqueren und das von Großbritannien kontrollierte Gebiet, das heute Botswana heißt, zu erreichen. Aber für Zehntausende reichten die wenigen Wasserstellen keinesfalls aus.

[…] Die deutschen Truppen verfolgten die Herero und trieben sie so tiefer in die Wüste. Sie verlegten den Fliehenden alle Wege, die sie hätten retten können. Diese Sperrung erfüllt aus heutiger Sicht den Tatbestand des Völkermords. Dieser Befund wird noch gestützt durch einen Befehl Trothas vom 2. Oktober 1904. Darin ordnete er an, Frauen und Kinder durch Schüsse über ihre Köpfe aus der Kolonie zu vertreiben, Männer dürften erschossen werden.

[…] Der politischen Führung in Berlin […] war der Eifer ihres Oberbefehlshabers in der fernen Kolonie […] nicht geheuer. […] Nicht zuletzt als Reaktion auf öffentliche Kritik […] veranlasste die Reichsregierung die Aufhebung des Trothaschen Befehls. Das geschah allerdings erst zum 1. Dezember 1905. […] Die Volkszählung von 1911 in Südwestafrika ergab eine Herero-Bevölkerung von 15.130 Personen. Das wäre ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerungszahl von vor dem Aufstand. […]

Die Nama, die alten Rivalen der Herero, starteten ihren Aufstand erst im Oktober 1904. Die Kolonialherren waren überrascht, hatten sie die von ihnen so genannten "Hottentotten" doch für loyal gehalten. Diese allerdings sahen sich, wie die Herero, im eigenen Land von den Siedlern zunehmend marginalisiert. […]

Trotz einer eindeutigen militärischen Überlegenheit zogen sich die Kämpfe mit den Nama über mehrere Jahre hin. […] Sie stellten sich nicht zu irgendwelchen Entscheidungsschlachten, sondern entzogen sich dem finalen Zugriff der Deutschen immer wieder durch rechtzeitigen Abzug. […] Wirklich vorbei war der Kampf erst im Februar 1909. Die Deutschen verloren 676 Mann. 76 Soldaten blieben vermisst, hinzu kamen 90 Verwundete. Die Verluste der Nama sind nicht genau zu beziffern, aber sie waren mit Sicherheit sehr hoch. […]

Peter Sturm, "Tod in der Wüste", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Juni 2016

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Besondere Aufmerksamkeit in der Forschung wie in öffentlichen Debatten Deutschlands hat in diesem Panorama der Gewalt das Vorgehen gegen die Herero und Nama gefunden. Im Anschluss an die Politologin und Philosophin Hannah Arendt formulierte der Historiker Jürgen Zimmerer die These, der deutsche Feldzug in Südwestafrika habe als erster "Vernichtungskrieg" neue Maßstäbe gesetzt, aus denen sich dann im Nationalsozialismus die Politik des Völkermords habe entwickeln können. Vor allem ein Denken in Kategorien ethnischer Vernichtung hätte den Weg von "Windhuk nach Auschwitz" bereitet.

Diese These ist kontrovers diskutiert worden. Die Historikerin Birthe Kundrus wandte dagegen ein, dass die Feldzüge gegen das Volk der Herero und Nama im Unterschied zur Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus kein geplanter Völkermord gewesen seien; andere Historiker wie etwa Robert Gerwarth, Stephan Malinowski und Raphael Gross haben geltend gemacht, dass auch andere europäische Kolonialmächte, vor allem Frankreich und Großbritannien, gewaltvoll agiert, dann aber keinen Völkermord begangen oder faschistische Regime ausgebildet hätten. Dem wiederum ließe sich entgegenhalten, dass Lager und Stacheldraht, vor allem aber die Auffassung, es könne "Endlösungen" geben, durchaus kolonialen Ursprungs waren.

Zwischen Verherrlichung und Protest: der Umgang mit kolonialer Gewalt in Europa

Werke der zeitgenössischen deutschen Jugendliteratur popularisierten den Krieg in Südwestafrika und konnten zur Folge haben, dass Heranwachsende in einer besonderen Gewaltkultur sozialisiert wurden. Literarische Verarbeitungen, ja Verherrlichungen kolonialer Gewalt blieben bis in die 1950er-Jahre gerade in Deutschland beliebt. Zu den bekanntesten und über Jahrzehnte gelesenen Büchern dieser Art zählt der Roman "Peter Moors Fahrt nach Südwest" von Gustav Frenssen, der 1906 erstmals erschien, mehrere Auflagen mit insgesamt mehreren Hunderttausend Exemplaren erreichte und 1953 erneut aufgelegt wurde. Der Roman handelt von dem Jungen Peter Moor, der sich als Marinesoldat für den Krieg gegen die Herero meldet und über seine Kriegserlebnisse berichtet. Aus der Sicht dieser Romanfigur erscheint der Ausgang des Krieges nur als gerecht: "Diese Schwarzen haben vor Gott und den Menschen den Tod verdient. [...] Gott hat uns hier siegen lassen, weil wir die Edleren und Vorwärtsstrebenden sind", heißt es beispielsweise in diesem für ein jugendliches Lesepublikum verfassten Buch.

Allerdings wurde koloniale Gewalt in den europäischen Gesellschaften vor dem Ersten Weltkrieg nicht ausschließlich als Normalität bewertet oder gar verherrlicht. Zwar blieben rechtliche Konsequenzen (vorerst) aus, doch gab es am Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus gesellschaftliche Gruppen, die sich im humanitären Sinne engagierten. Daher stießen die Feldzüge gegen die Herero und Nama in Deutschland und in den Nachbarstaaten auch auf öffentliche Kritik. Doch wie bereits im Rahmen der Anti-Sklaverei-Bewegung des 19. Jahrhunderts waren es dann vor allem wieder britische Aktivistinnen und Aktivisten, die gegen die zeitgenössisch so genannten KongoGräuel eine breitere europäische Öffentlichkeit zu mobilisieren suchten.

Das Schreckensregime des belgischen Königs Leopold II. im Kongo stellte in der Tat eine besonders grausame Form europäischer Herrschaft in Afrika dar. Speziell mit der Kautschukernte war eine extreme Ausbeutung der kongolesischen Arbeiter verbunden. So wurden beispielsweise Familienangehörige als Geiseln genommen und getötet, wenn die geforderte Erntemenge nicht abgeliefert wurde. Mit brutalen Strafen wurde auch gegen jene vorgegangen, die sich dem Regime zu widersetzen versuchten. Dass sich dagegen in den europäischen Gesellschaften Protest formierte, belegt, dass die Sensibilität gegenüber kolonialer Gewalt zunahm. Es zeigt aber auch, wie durch verbesserte Kommunikation und besonders durch das Aufkommen der Massenpresse koloniale Missstände in Europa skandalisiert werden konnten. Eindrückliche Fotografien, die in der Presse veröffentlicht wurden, sorgten dafür, dass die europäischen Gesellschaften Anteil nahmen, wenn sie die "Leiden anderer betrachteten", um eine Formulierung der US-Publizistin Susan Sontag zu gebrauchen. Eine breite Protestwelle führte dazu, dass der Kongo-Freistaat aus dem Privateigentum des belgischen Königs in eine Kolonie des belgischen Staates überführt wurde.

Wirtschaft in der Globalisierung

Das späte 19. Jahrhundert erlebte eine weltweite Vernetzung, die in Ausmaß und Tiefe erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vergleichbar erreicht wurde. Internationale Verbindungen verdichteten sich; Personen, Waren, von Menschen geschaffene oder bearbeitete (Kunst-)Gegenstände (Artefakte), aber auch Ordnungsvorstellungen zirkulierten in globalem Maßstab. Dies hatte zuallererst mit verbesserter Kommunikation zu tun. Nicht nur Nachrichten verbreiteten sich nun schneller zwischen den Kontinenten, sondern auch die Handelswege erfuhren eine rasante Beschleunigung. Nachdem der Suez-Kanal ab 1869 dem Schiffsverkehr offenstand, verkürzte sich beispielsweise die Reisezeit von London ins indische Mumbai um 41 Prozent. Die alten Segelschiffe wurden nun zunehmend durch die schnelleren und windunabhängigen Dampfschiffe verdrängt. Benötigten Reisende von Amsterdam nach Java in den 1850er-Jahren noch drei bis vier Monate, so waren sie um 1900 nur noch einen Monat lang unterwegs.

Transporte wurden billiger: Die Frachtraten sanken zwischen 1870 und 1913 um 50 Prozent. Moderne Kühltechnik an Bord erlaubte bald auch den Transport verderblicher Waren. Erst dadurch wurde der globale Handel, beispielsweise mit Fleisch oder Bananen, in großem Stil möglich. Einzelne Regionen der Welt setzten vor diesem Hintergrund bald vorrangig auf die Erzeugung von Agrarprodukten wie etwa Neuseeland, Kanada und Australien als Hauptlieferanten Großbritanniens. Insgesamt wuchs der Welthandel zwischen 1850 und 1913 um das Zehnfache.

Europäische Nachfrage nach Rohstoffen

Westeuropa war eingebunden in den weltweiten Handel, in dem vor dem Ersten Weltkrieg die Amerikas eine herausragende Rolle spielten. Doch auch die europäischen Kolonien waren in einzelnen Bereichen bedeutsam. Die sogenannte zweite industrielle Revolution in Westeuropa, die sich in Elektrifizierung, Mechanisierung und Massenproduktion niederschlug, weckte einen neuen Bedarf an Rohstoffen. Nun waren es nicht mehr nur Baumwolle oder Kohle, sondern beispielsweise Kupfer für elektrische Leitungen, bald auch Erdöl, die die modernen europäischen Ökonomien benötigten. Vor allem die Erdölvorkommen im Mittleren Osten – in Persien, dem heutigen Iran, wurden 1908 Ölfelder entdeckt – wurden zum Schmierstoff im Getriebe des Imperialismus nach dem Ersten Weltkrieg. Hand in Hand mit multinationalen Ölkonzernen suchte die britische Regierung ihren Einfluss in der Region zu sichern. Allen voran kooperierte sie mit der British Petroleum (BP), hervorgegangen aus der Anglo-Persian Oil Company. Erst ab den 1950er- und 1960er-Jahren gelang es den selbstständig werdenden Staaten zunehmend, ihre eigenen Interessen bei der Ölförderung durchzusetzen.

Die beginnende Automobilisierung in den westlichen Ländern ließ auch den Bedarf an Kautschuk in die Höhe schnellen. In Süd- und Südostasien entstanden mit britischem und niederländischem Kapital riesige Kautschukplantagen, die von indischen und chinesischen Kontraktarbeitern bewirtschaftet wurden, während der Kautschuk-Boom im Kongo zu einer beispiellos brutalen Ausbeutung lokaler Arbeitskraft führte. Gleiches gilt für den Abbau anderer Mineralien, etwa von Gold und Diamanten.

Im Lebensmittelsektor wurden ehemalige Luxusprodukte nun in wachsenden Mengen aus den Kolonien nach Europa gebracht und dort zu geringeren Preisen für breitere Bevölkerungsschichten zugänglich. Auch hier waren die Haupthandelspartner die Amerikas. Doch Zucker aus Java, Kaffee aus Kenia, Uganda, Äthiopien, Angola und Java, dann auch von der Elfenbeinküste, Tee aus Indien, Ceylon und Java, Kakao aus Trinidad, Surinam, der Goldküste, Nigeria, der Elfenbeinküste, Kamerun und Togo spielten für die europäischen Konsumenten ebenfalls eine wichtige Rolle. In Deutschland vermarkteten "Kolonialwarenhändler" diese Produkte. Die bis heute bestehende Supermarktkette Edeka wurde 1898 als "Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin" ("E.d.K.") gegründet.

QuellentextExotik im Tante-Emma-Laden

Bis in die siebziger Jahre hießen Tante-Emma-Läden noch Kolonialwarenläden – und wer weiß heute noch, dass die Abkürzung der Supermarktkette Edeka (gegründet 1898) für "Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin" steht? Produkte aus den Kolonien wurden hier feilgeboten: Kaffee aus Brasilien oder Tee aus Kenia, Zucker aus Kuba oder Reis aus Vietnam, Kakao von der Westküste Afrikas oder Zigarren aus Indonesien.
Auf diese Spezereien waren die Händler stolz. Die Jagd nach den exotischen Gewürzen und Genussmitteln hatte schon Kriege ausgelöst und Entdecker- wie Abenteurertum entfacht. Vasco da Gama war nicht nur aus Neugier nach Indien aufgebrochen.

Viele folgten seinen Spuren. Als der deutsche Steuermann Joachim Nettelbeck 1773 von seinem holländischen Sklavenschiff nahe Surinam an Land gehen musste, um ein Leck reparieren zu lassen, kam er ins Schwärmen: "Flugs wirbelte in mir auch dieser letztere Umstand im Kopf herum: der preußische Patriotismus ward in mir lebendig, und ich sann und sann, warum denn nicht mein König hier eben so gut, als England und Frankreich, seine Kolonie haben und Zucker, Kaffee und andere Kolonialwaren eben, wie Jene, anbauen lassen sollte?"

Der Begriff Kolonialwarenladen überlebte noch die Kolonialzeit. Nach und nach aber setzte er Patina an und wurde vom Supermarkt oder dem Feinkostgeschäft ersetzt. Nur wenige Geschäfte wie der Bremer Kolonialwarenladen Wilhelm Holtorf nennen sich immer noch so. 1976 wurde er sogar preisgekrönt – aber schon nicht mehr als Kolonialwarenladen, sondern als "Deutschlands schönster Tante-Emma-Laden ’76".

Thilo Thielke, "Exotischer Genuss: Der Kolonialwarenladen", in: SPIEGEL GESCHICHTE Nr. 3/2013, S. 110

Die Händler betonten den exotischen Charakter der Waren und verbanden sie auf diese Weise werbewirksam mit Vorstellungen kolonialer Welten. Bilder exotisch wirkender Menschen, mit denen für verschiedene Produkte geworben wurde, verfestigten langlebige Bilder von fremdländischen "Anderen" und rassistische Stereotype.

QuellentextDie Geschichte: Banania

Linda Lô, eine französische Journalistin, deren Eltern aus dem Senegal und Kamerun stammen, erzählt von ihrem zwiespältigen Verhältnis zu Banania:

Banania ist mir vertraut und gleichzeitig suspekt. Vertraut, weil es ein beliebtes Getränk ist, das von einer Figur angepriesen wird, die schwarz ist, wie ich. Suspekt, weil es ein Frankreich voller überholter Klischés symbolisiert. Denn in Banania, das zu Beginn des ersten Weltkriegs im Sommer 1914 auf den Markt kam, steckt nicht nur Kakao, sondern auch viel Kolonialgeschichte.
Die Zutaten laden zu einer Reise auf die Antillen oder nach Schwarzafrika ein: Bananenpulver – daher der Name – Kakao und Rohrzucker. Als er dieses Kakaopulver erfand, benützte Pierre Lardet als Markenzeichen eine Frauenfigur von den Antillen. Ab 1915, also zu Kriegszeiten, wird daraus ein "tirailleur sénégalais", ein Senegalschütze.

Etwas Geschichte: 1857 gründet General Louis Faidherbe, Gouverneur der französischen Kolonie Senegal, ein Soldatenkorps, die "tirailleurs sénégalais", Senegalschützen. Eine Kolonialarmee, die bald überall in West- und Französisch-Äquatorialafrika Soldaten rekrutiert. […] Um sich bei den Soldaten verständlich zu machen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, bringt man ihnen vereinfachtes Französisch bei, Tirailleur-Französisch.

Doch zurück zu Banania. Seit 1915 ziert also dieser berühmte "Senegalschütze" Lardets gelbe Dosen. Drei Merkmale: Die rote Chechia, die typische Kopfbedeckung der Moslems, das breite Lächeln und der Slogan: "Y’a bon Banania", Tirailleur-Französisch für "C’est bon, le Banania", "Banania schmeckt gut". Angeblich soll das ein Senegalschütze nach dem ersten Schluck Banania am Fabrikausgang gesagt haben. Als Reklame für das Kakaopulver werden 14 mit Banania beladene Wagons zu den Soldaten an die Front gebracht, damit diese "force et vigueur", Kraft und Stärke tanken. Ein Erfolg.
Und schon bald hält die Dose in die französischen Haushalte Einzug. Im Ersten Weltkrieg können "Kraft und Stärke" die Soldaten dieser Kolonialarmee leider nicht verschonen, einer Armee, in der Zwangsrekrutierte aus allen Teilen des Kolonialreiches dienen müssen, mit dem klaren Ziel: Das Leben der weißen Soldaten zu schonen. General Mangin schreibt von "schwarzen Streitkräften, die vor dem Winter verbraucht werden müssen, da sie keine Kälte vertragen". Mit den Schwarzafrikanern schickt man tausende Soldaten aus dem Maghreb, von den Antillen und aus Neu-Caledonien für Frankreich an die Front. Von den ungefähr 200.000 afrikanischen Soldaten, die von 1914 bis 1918 für Frankreich kämpfen, fallen mehr als 30.000.

Im Zweiten Weltkrieg zeichneten sich die Senegalschützen erneut aus, sterben auf dem Schlachtfeld oder in Konzentrationslagern. Ein trauriges Ereignis leitet das Ende der Senegalschützen ein: Das Massaker von Thiaroye. Am 1. Dezember 1944 wird in einem Lager bei Dakar im Senegal auf Senegalschützen, die ihren Sold einfordern, das Feuer eröffnet. Offiziell kamen 35 Soldaten um, 4 Tage später ist in einem Bericht von 70 Opfern die Rede. Doch der Senegalschütze sagt auf den Bananiadosen weiterhin "Y’a bon Banania". Erst 1977 schafft die Marke den Slogan, der oft zu rassistischen Zwecken verfremdet wird, ab. Zugegeben, das breite naive Lächeln und ein Spruch, der das vereinfachte Französisch karikiert, sind wirklich überholt. Heute sind die Gegenstände mit dem Kopf des Senegalschützen Sammlerobjekte. Gegenstände, die diesen Helden der französischen Geschichte zumindest ein Gesicht verleihen.

Linda Lô, "die Geschichte: Banania", arte – Karambolage 345 vom 16. November 2014

Zwangsarbeit als Teil der europäischen "Zivilisierungsmission"

Wenig thematisiert wurde in den europäischen Gesellschaften, dass der koloniale Handel mit massenhafter Zwangsarbeit einherging. Zwar war der Sklavenhandel seit dem frühen 19. Jahrhundert offiziell abgeschafft, doch bestand Sklaverei in Form der "indentured labour" (Kontraktarbeit) in weiten Teilen der Welt fort. Gerade die kolonialen Plantagenwirtschaften, die Bergwerke und Minen waren angewiesen auf billige Arbeitskräfte, die häufig aus China stammten. Der chinesische "Coolie (Kuli)" war der prominente Typus eines Arbeiters, der – häufig gewaltsam – rekrutiert und nach Afrika, Südamerika oder Südostasien gebracht wurde, wo er die Kosten seiner Überfahrt "abarbeiten" musste, deshalb nur geringen Lohn erhielt und unter zumeist elenden Bedingungen lebte. Diese Praxis bestand bis weit in die Zeit zwischen den Weltkriegen hinein.

Zur europäischen "Zivilisierungsmission" gehörte die Vorstellung, dass die Arbeiter in den Kolonien "zur Arbeit erzogen" werden müssten. Klagen über ihre vermeintlich mangelnde Arbeitsmoral und Effizienz bestimmten den Diskurs in den europäischen Metropolen. Der Historiker Sebastian Conrad hat gezeigt, wie aus der kolonialen Begegnung mit den Menschen in den Kolonien und deren Missionierung überhaupt erst Vorstellungen von "deutscher Arbeit" gewonnen wurden. Hier tritt eine Abgrenzung zutage, auf deren Existenz und Einhaltung gerade auch die erstarkenden europäischen Arbeiterbewegungen pochten, um den Wert europäischer, besser: Weißer Arbeit zu unterstreichen. Die Idee globaler Solidarität gewann in der Arbeiterbewegung nur allmählich Zuspruch, und im Grunde war es erst die kommunistische Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg, die dieser Vorstellung größeres politisches Gewicht beimaß.

Kapitalexport als Wesenskern des Imperialismus

Die wirtschaftlichen Verbindungen Europas zu den Kolonien hatten große Bedeutung, obwohl der Anteil kolonialen Handels am Wirtschaftsleben der europäischen Staaten vor dem Ersten Weltkrieg höchst unterschiedlich ausfiel. Während er in Großbritannien durchaus signifikante Anteile erreichte, blieb er für das Deutsche Reich, Italien oder Spanien ökonomisch nahezu unbedeutend.

Relativer Anteil des Kolonialhandels für die Mutterländer und für die Kolonien im Jahr 1913. (© The Cambrideg Economic History of Europe, Band 8. The Industrial Economies: the Development of Economic and Social Policies, hg. von Peter Mathias/Sidney Pollard, Cambridge/New York/New Rochelle/Melbourne/Sidney 1989, S. 127)

Gerade im britischen Fall kommt hinzu, dass das Land seine kolonialen Verbindungen weniger als Produzent, Importeur oder Exporteur von Waren nutzte, sondern vor allem Kapital in die Kolonien exportierte bzw. britisches Kapital dort direkt investierte. Bevorzugt ging es in die "weißen" Siedlerkolonien Australien, Kanada und Neuseeland, außerdem nach Südafrika sowie in das informelle "Freihandelsimperium", das die Briten vor dem Ersten Weltkrieg in Lateinamerika aufrechterhielten. Viele der dortigen, formal unabhängigen Länder waren wirtschaftlich abhängig vom Handel mit dem britischen Königreich.

Gestützt wurde die Dominanz Londons in der Weltwirtschaft dadurch, dass das britische Pfund Sterling – gebunden an den Goldstandard – als internationale Leitwährung fungierte. Diese finanzkapitalistische Durchdringung der Welt wurde schon von Zeitgenossen als Wesenskern des Imperialismus gesehen – und kritisiert. Der britische Ökonom John Atkinson Hobson formulierte 1902 eine erste Imperialismus-Theorie, in der er die Notwendigkeit, Anlagemöglichkeiten für Kapital zu finden, als Triebkraft des britischen Ausgreifens in die Welt identifizierte. Der Staat erschien in dieser Sicht nur als Garant und Stabilisator von außereuropäisch angelegtem Kapital.

Auch spätere Theoretiker von Rosa Luxemburg bis W. I. Lenin sahen im Kapitalismus die Haupttriebkraft für den Imperialismus. Nicht-marxistische Historiker verwiesen darüber hinaus auf den Nutzen imperialistischer Strategien zur Abfederung innenpolitischer und innergesellschaftlicher Konflikte. Hans-Ulrich Wehler etwa vertrat in den 1970er-Jahren mit dem Begriff des "Sozialimperialismus" die These, dass die imperialistische Politik des Kaiserreichs Konflikte, die sich aus sozialer Lage und Forderungen der Arbeiterschaft nach politischer Teilhabe ergaben, systematisch in die kolonialen Räume und in ein Streben nach Weltmachtgeltung abgelenkt habe.

Imperiale Wirtschaftspolitik – Fluch oder Segen?

Der asymmetrische Charakter des Kolonialismus, der die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und seinen Kolonien von Anbeginn geprägt hatte, setzte sich in der Epoche des Hochimperialismus fort. Ungleiche Verträge, die Durchsetzung westlicher Vorstellungen von Eigentumsrechten und der Schutz europäischer Händler und Investoren durch die kolonialen Verwaltungen sorgten dafür, dass die wirtschaftlichen Interessen der Einheimischen denen der Kolonialmächte nachgeordnet wurden. Gleiches lässt sich für die westliche "Politik der offenen Tür" gegenüber China sagen, in deren Rahmen sich die westlichen Großmächte gewaltsam freien Zugang zum chinesischen Markt verschafften. Auch setzte sich der "ökologische Imperialismus" (Alfred Crosby) fort, der wenig Rücksichten darauf nahm, wie mit lokalen natürlichen Ressourcen umgegangen wurde. Dies galt erst recht für die europäischen Kriegswirtschaften, vor allem für Großbritannien und Frankreich, die während des Ersten Weltkriegs in erheblichem Maße auf Rohstoffe und Arbeitskräfte aus den Kolonien zugriffen.

Die Deutung, die europäischen Kolonialmächte hätten die außereuropäische Welt nur ausgebeutet, greift freilich zu kurz. Ohne den "Nutzen" oder gar "Segen" europäischer Herrschaft überzeichnen zu wollen, wie dies lange und häufig in der europäischen Selbstwahrnehmung der Fall war, so ist doch festzuhalten, dass in vielen Regionen der Welt der europäische Einfluss wichtige Entwicklungen in Gang gebracht oder zumindest verstärkt hat. Der Historiker Wolfgang Reinhard hat in seinen Forschungsergebnissen diesen Nutzen für die globale Weltgemeinschaft unterstrichen.
Als Beispiel ließe sich die Verbreitung der modernen Technik in Gestalt von Dampfmaschinen, Dieselmotoren und Elektrizitätsversorgung nennen. Aber auch wissenschaftliche Errungenschaften – etwa die Erschließung, Standardisierung und Verbreitung indigener Sprachen wie der Bantu-Sprache Swahili (Kishuaeli) – lassen sich anführen, medizinische Erkenntnisse und Versorgungseinrichtungen, Verkehrsnetze, das Schulwesen und schließlich politische und gesellschaftliche Leitvorstellungen – etwa hinsichtlich der Gleichstellung der Frauen –, welche die Europäer in ihrem Einflussbereich verbreitet haben.

ist Professorin für Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktorin des An-Instituts Centre Marc Bloch.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Wandel von Staatlichkeit seit 1945; Staat und Terrorismus sowie Geschichte der westeuropäischen Gesellschaften in der Erfahrung der Dekolonisation.