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Jüdisches Leben in der Bundesrepublik | Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 | bpb.de

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Jüdisches Leben in der Bundesrepublik

Andrea Sinn Markus Nesselrodt

/ 21 Minuten zu lesen

1950 gründete sich der Zentralrat als Interessenvertretung der Juden in Deutschland. Gleichzeitig bestand antisemitische Vorurteile und Gewalt weiter fort. Das wachsende öffentliche Interesse an der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bestärkte jedoch die jüdische Gemeinschaft zum Verbleib in der "unmöglichen Heimat“ Deutschland.

Bei der Eröffnung des ersten jüdischen Museums am 9. September 1988 in Frankfurt/M. wird der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (2. v. l.) von dem Gründungsdirektor Georg Heuberger (l.) durch die Ausstellung geführt. Das Eröffnungsdatum wurde auf den 50. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 gelegt. (© ullstein bild – BPA)

Neubeginn

Laut einer Volkszählung im Jahr 1950 betrug die jüdische Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin 21.974 Personen und 1954 existierten in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin 70 jüdische Gemeinden, die in 13 Landesverbänden organisiert waren. Eine kleine Gruppe überlebender deutscher Juden sah sich verpflichtet, die jüdische Tradition wieder aufleben zu lassen; andere begründeten ihre weitere Anwesenheit im "Land der Täter" mit ihrem Verantwortungsgefühl für die demokratische Entwicklung Westdeutschlands, sahen das Land aber gleichzeitig nur als vorübergehenden Aufenthaltsort.

Vorgeschichte und Gründung des Zentralrats

Bei Gründung der Bundesrepublik zeichnete sich ab, dass es angesichts verschiedener Formen von Isolation und Stigmatisierung, die Juden im Nachkriegsdeutschland erfuhren, zusätzlich zu den gewählten Sprechern der jüdischen Gemeinden und Landesverbände eine bundesweite Vertretung der Juden brauchte – eine Überlegung, die sich mit dem Wunsch der neuen westdeutschen Regierung nach einem zentralen Ansprechpartner für jüdische Angelegenheiten deckte. Die Etablierung einer deutsch-jüdischen Gesamtvertretung wurde zunächst erschwert durch die Interessenunterschiede zwischen den seit 1945 in Gemeinden organisierten deutschen Jüdinnen und Juden und den in Lagern lebenden jüdischen DPs, deren Zahl zudem ständig schwankte. Jüdische DPs, deutsche Juden und internationale jüdische Organisationen stritten vor allem darüber, ob jüdische Überlebende auf deutschem Boden bleiben oder auswandern sollten (mehr hierzu siehe Interner Link: Neuanfänge).

Im Jahr 1950 hatte sich die Situation im Vergleich zu den unmittelbaren Nachkriegsjahren in einigen entscheidenden Punkten verändert. Zum einen hatte sich mit der Bundesrepublik Deutschland ein neuer demokratischer Staat gebildet, der die Rahmenbedingungen für organisiertes jüdisches Leben schuf. Zum anderen war absehbar, dass nicht alle Jüdinnen und Juden, wie zunächst erwartet, Deutschland verlassen würden. Allerdings erlebten die in Deutschland Verbliebenen eine Isolation im doppelten Sinne: Sie wurden von der Mehrheit der nicht-jüdischen Deutschen mit Missfallen beäugt und waren gleichzeitig von der internationalen jüdischen Gemeinschaft abgeschnitten. Letztere lehnte eine langfristige Fortführung jüdischen Lebens in Deutschland ab.

Neben den Anfeindungen durch internationale jüdische Organisationen und dem Kampf um die Anerkennung als Jüdinnen und Juden in Deutschland rückte die Frage der deutschen Wiedergutmachung für Jüdinnen und Juden zunehmend in den Fokus. In Anbetracht dieser Herausforderungen einigten sich die Delegierten der verschiedenen jüdischen Vertretungsorgane während einer Reihe von Konferenzen, die in den späten 1940er-Jahren von Harry Greenstein (1896–1971), dem Berater der amerikanischen Militärregierung in jüdischen Angelegenheiten, organisiert wurden, eine überregional tätige Interessenvertretung ins Leben zu rufen.

Nach mehreren Vorbereitungstreffen kamen am 19. Juli 1950 insgesamt 25 Vertreter der bis Ende der 1950er-Jahre in Deutschland tätigen DP-Komitees und der in Landesverbänden zusammengeschlossenen jüdischen Gemeinden zu einer entscheidenden Sitzung nach Frankfurt am Main zusammen und gründeten dort den Zentralrat der Juden in Deutschland. Namensgebung und Wahl des Hauptsitzes, Frankfurt am Main, erfolgten einstimmig. Die führenden Positionen des Zentralrats waren fast ausschließlich mit deutschen Juden besetzt, obwohl die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Juden aus Osteuropa stammte.

Entwicklung und Aufgaben des Zentralrats

Unterschiedliche Vorstellungen vom jüdischen Leben in Deutschland sowie kulturelle Unterschiede und Differenzen zum Beispiel in der Religionsausübung und Sprache führten wiederholt zu Missverständnissen und Konflikten zwischen den oft in einer einzigen jüdischen Gemeinde koexistierenden osteuropäischen und deutschen Jüdinnen und Juden. Dennoch entwickelte sich der Zentralrat zu einer einflussreichen Organisation und wurde 1963 als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Ab diesem Zeitpunkt waren die jüdischen Gemeinden der DDR nicht mehr in den Gremien des Zentralrats vertreten, der nach seiner Umstrukturierung nun drei Organe hatte: die Ratsversammlung, der Delegierte aus allen jüdischen Gemeinden angehörten, ein 18-köpfiges Direktorium und einen Verwaltungsrat von sechs Mitgliedern einschließlich des Generalsekretärs.

Zentralrat der Juden in Deutschland (© Aktualisiert auf Basis von Katharina Hoba / Gesa Löbbecke, Judentum, 5. Aufl., Cornelsen Verlag Berlin 2006, S. 102)

Die dauerhafte Einrichtung dieser Interessenvertretung war nicht zuletzt das Ergebnis der erfolgreichen Arbeit der Verantwortlichen in den Führungspositionen. Zu den Begründern des Zentralrats gehörten zwei damals führende jüdische Funktionäre, der Präsident des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Philipp Auerbach (1906–1952), sowie der Sprecher der Juden in der Britischen Zone, Norbert Wollheim (1913–1998). Als Generalsekretär des Zentralrats lenkte der Jurist Dr. Hendrik George van Dam (1906–1973) von der Gründung bis Anfang der 1970er-Jahre die Entwicklung der Organisation. Nach seinem Ausscheiden übernahmen zunehmend die Vorsitzenden oder Präsidenten des Zentralrats, wie der Auschwitz-Überlebende und langjährige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Berlin Heinz Galinski (1912–1992) und der aus Frankreich zurückgekehrte Unternehmer Werner Nachmann (1925–1988), die überregionale Interessenvertretung der jüdischen Gemeinden nach außen.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland sah sich nicht als eine vorübergehende symbolische Institution in Deutschland, sondern kämpfte dafür, national und international als dauerhafte Repräsentanz der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden anerkannt zu werden. Insbesondere die Vertretung der jüdischen Angelegenheiten bei der Bundesregierung und ihren Organen sollte, so die Vorstellung des Direktoriums, ausschließlich Sache des Zentralrates der Juden in Deutschland sein. Für die erfolgreiche Arbeit des Sekretariats war die Nähe zur Regierung in Bonn deshalb von besonderer Bedeutung, weshalb der Zentralrat seine Büroräume Mitte 1952 nach Düsseldorf verlegte.

Zentrale Inhalte seiner Tätigkeit waren unter anderem die Frage der Rechtswiederherstellung, das Verhältnis zur Bundesregierung und zu den ausländischen jüdischen Organisationen, die Unterstützung und Versorgung der Hilfsbedürftigen unter den Gemeindemitgliedern sowie der Kampf gegen Antisemitismus. Vor allem die bereits in der Anfangsphase der Zentralratsarbeit erfolgten Begnadigungen von Kriegsverbrechern, die nach Auffassung der Mitglieder des Direktoriums in der Regel weitgehend einer Rehabilitierung des Verbrechens selbst gleichkamen, und die zunehmende Zahl antisemitischer Vorfälle im Bundesgebiet veranlassten den Zentralrat, sich als mahnende Instanz zu Wort zu melden. Seit Mitte der 1950er-Jahre verstärkte der Zentralrat zudem sein Engagement im Bereich der jüdischen Kulturarbeit.

Schwerpunkte der ersten, stark politisch dominierten Jahrzehnte der jüdischen Gemeinschaft in Westdeutschland waren Wiedergutmachung, Wiedereingliederung und Wiederaufnahme der Beziehungen zur jüdischen Welt. Beispielhaft veranschaulicht der Prozess der Wiedergutmachungsverhandlungen die Herausforderungen, mit denen sich der Zentralrat in den ersten Jahren seines Bestehens konfrontiert sah. Seine Mitglieder waren sich einig, dass nach der systematischen Verfolgung und dem Massenmord an den Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure Restitution und Entschädigung zu den drängendsten Aufgaben gehörten, die sie zu bewältigen hatten. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen war unvermeidlich und von grundlegender moralischer und finanzieller Bedeutung für die jüdischen Gemeinden, während sie darum kämpften, "Heimat" neu zu definieren und jüdische Kultur in Deutschland wiederherzustellen.

"Wiedergutmachung"

Der Begriff "Wiedergutmachung" umschreibt all jene Verfahren, die auf einen Ausgleich der Schäden abzielten, die rassisch, religiös und politisch Verfolgte während der NS-Herrschaft erlitten hatten. Die Sprecher der jüdischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik und die Mehrheit der jüdischen Emigrantinnen und Emigranten deutscher Herkunft akzeptierten diesen Begriff. Viele jüdische NS-Opfer waren jedoch von der schleppenden Abwicklung der sogenannten Wiedergutmachung enttäuscht und nicht wenige lehnten es ab, das deutsche "Blutgeld" anzunehmen. Seit den 1980er-Jahren wird der Begriff als Verharmlosung kritisiert. Die Auflösung des Rechts und millionenfacher Mord könne niemals "wiedergutgemacht" werden. In den 1950er-Jahren setzten aber gerade auch diejenigen, die eine Schuld der Deutschen an den Verbrechen der NS-Zeit von sich wiesen und Restitution oder Entschädigungszahlungen an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ablehnten, den Begriff in distanzierende Anführungszeichen.

Karikatur in der Jüdischen Illustrierten, Nr. 19, Juni 1950 zum Thema "Wiedergutmachung"

7a) Rückerstattungswerte unterlagen, soweit Devisenausländer als berechtigt in Frage kamen, aufgrund der Anweisungen der Alliierten, die damit Kapitalflucht aus Deutschland unterbinden wollten, der Sperre des Militärregierungsgesetzes Nr. 53. Insbesondere Geldbeträge waren demnach auf ein Sperrmarkkonto einzuzahlen, Barauszahlungen nicht erlaubt. 16) Als "Ariseure" wurden diejenigen bezeichnet, die während der NS-Zeit enteignetes jüdisches Eigentum übernommen hatten.
20) Vermutlich eine Anspielung auf Leistungsansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz für Kriegsgeschädigte von 1950. Neben Zivilisten kam es auch ehemaligen Wehrmachtssoldaten und Angehörige der Waffen-SS zugute.
25) Veit Harlan (1899–1964) führte in der NS-Zeit Regie bei Propagandafilmen. Nach Kriegsende wurde er im Zuge der Entnazifizierungsverfahren als Entlasteter eingestuft und produzierte weitere Filme. Bei seinem ersten Nachkriegsfilm "Unsterbliche Geliebte" kam es zu Protesten.
27) Die Sozialistische Reichspartei (SRP), (1949–1952 (Verbot)) war eine Partei in der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland, die in Form und Inhalt eine Nachfolgepartei der NSDAP war.

Rückerstattung von geraubtem Vermögen

Zwangsweise entzogenes Eigentum wurde von den westlichen Alliierten bereits unmittelbar nach dem Einmarsch in den besetzten Gebieten beschlagnahmt. So wurde etwa in der amerikanischen Besatzungszone sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands geraubtes Vermögen sichergestellt. Hierzu zählten Firmen, Grundbesitz, Immobilien und Bankguthaben, aber auch Kunstwerke, Wertgegenstände und persönliches Hab und Gut. Als Rechtsgrundlage für die Rückerstattung von Eigentum dienten Militärgesetze der westlichen Alliierten. Diese waren 1947 bzw. 1949 von den Militärregierungen in den drei westlichen Besatzungszonen erlassen worden.

In der Anfangsphase der Bundesrepublik, als nicht nur über Wiedergutmachung ja oder nein verhandelt wurde, sondern auch, um welche Wiedergutmachung und für wen es sich handeln sollte, trafen Restitution und Wiedergutmachung in breiten Kreisen der Politik und Gesellschaft Deutschlands auf eine distanzierte oder ablehnende Haltung. Eine Rückerstattung erfolgte deshalb vor allem unter dem Druck der Besatzungsmächte. Ein langer und oft schmerzhafter Weg erwartete die Verfolgten, die Ersatz für den ihnen zugefügten Schaden und für ihren geraubten Besitz verlangten.

Heftig umstritten war die Frage, wie mit dem während der NS-Zeit zwangsweise entzogenen Vermögen der Ermordeten sowie dem Eigentum der deutsch-jüdischen Gemeinden umzugehen sei. Viele jüdische Organisationen außerhalb Deutschlands waren gegen die Fortsetzung jüdischen Lebens in Deutschland und damit der Meinung, dass nur jene Objekte (provisorisch) erhalten werden sollten, die für die religiösen und kulturellen Aktivitäten der Gemeinden absolut notwendig waren. Der Rest des kommunalen jüdischen Gemeindevermögens in Deutschland sollte nach ihrer Auffassung denjenigen Jüdinnen und Juden zugutekommen, die überlebt und sich weltweit anderswo niedergelassen hatten, beziehungsweise den jüdischen Gemeinden, die für deren Integration zu sorgen hatten.

Folglich erkannten diejenigen, die diese Argumentation befürworteten, die neu gegründeten jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht als Erben an. Sie betrachteten vielmehr die sogenannten Nachfolgeorganisationen – die Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) in der US-Zone Deutschlands, die Jewish Trust Corporation for Germany (JTC) in der britischen Zone und die Branche Française de la Jewish Trust Corporation in der französischen Zone – als einzig legitime rechtliche Vertretungen aller deutsch-jüdischen Ansprüche. Diese Organisationen, die sich 1951 mit anderen jüdischen Organisationen zur Conference of Jewish Material Claims against Germany (Claims Conference) zusammenschlossen, waren in den späten 1940er-Jahren gegründet worden, um die Restitutionsansprüche des "erbenlosen Vermögens" des deutschen Judentums zu vertreten. Dies beinhaltete auch das Vermögen der deutsch-jüdischen Gemeinden vor 1933 sowie den Besitz deutscher Jüdinnen und Juden, die im Holocaust umgekommen waren.

Immer wieder mussten deutsche Gerichte schwierige Auseinandersetzungen zwischen den Nachfolgeorganisationen und Einzelpersonen oder jüdischen Gemeinden, die ihrerseits als rechtmäßige Erben einen Anspruch auf Rückgabe des Vermögens geltend machten, in letzter Instanz entscheiden. Beispiele sind der Prozess zwischen der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) und der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg und die Auseinandersetzungen um die Münchner Reichenbachsynagoge.

Die teilweise widersprüchlichen, regional unterschiedlichen Regelungen wurden durch das Bundesrückerstattungsgesetz (BRüG) im Jahr 1957 ergänzt. So wurde durch diese Ergänzung beispielsweise die Ausweitung der Restitution auf die Raubmaßnahmen des Deutschen Reiches in den besetzten Ländern Europas möglich.

Entschädigung von NS-Unrecht

Im Bereich des Entschädigungsrechts, das die nicht von der Rückerstattung erfassten Personen- und Sachschäden regelt, wurden in der amerikanischen Besatzungszone bereits 1946 Landesgesetze zum Zwecke der Wiedergutmachung erlassen. Sie ermöglichten vorläufige Zahlungen und Leistungen zur Wiederherstellung der Gesundheit, zur Berufsausbildung, zur Schaffung einer wirtschaftlichen Existenz oder zur Abwendung von Notlagen sowie die Auszahlung von Renten an Verfolgte und deren Hinterbliebene.

Im April 1949 erließ der Süddeutsche Länderrat das zoneneinheitliche "Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts", das in Bayern, Bremen, Württemberg-Baden und Hessen im August des Jahres verkündet wurde. Es räumte rassisch, religiös und politisch Verfolgten einen Rechtsanspruch auf Entschädigung für Eingriffe in die Lebenschancen, für den Verlust an Freiheit, Gesundheit, beruflichem Fortkommen und anderem mehr ein. Erst 1953 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein bundeseinheitliches Entschädigungsgesetz, das 1956 durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgelöst wurde.

Insgesamt wurden knapp 4,4 Millionen Anträge gestellt, von denen rund 2 Millionen im Rahmen des BEG anerkannt und etwa 1,2 Millionen abgelehnt wurden. Viele Antragsteller litten sehr unter den obligatorischen ärztlichen Begutachtungen, den langwierigen Prozessen und zahlreichen bürokratischen Hindernissen. Häufig durchlebten die Überlebenden dabei erneut das Trauma der Verfolgung. Erhebliche psychische und physische Belastungen waren die Folge. Vertreibung, Ermordung von Familienmitgliedern, Demütigungen und die traumatischen Erfahrungen der Überlebenden ließen sich nicht "wieder gut machen". Trotz aller Unzulänglichkeiten verhalfen die finanziellen Unterstützungsleistungen dennoch vielen Menschen zu einem Neustart.

QuellentextEntschädigungsregeln

"In der Zeit vom 1. Oktober 1953 bis 31. Dezember 1987 sind 4 384.138 Anträge auf Entschädigung nach dem Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BErgG) vom 18. September 1953 (BGBl. I S. 1387), nach dem Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz – BEG) vom 29. Juni 1956 (BGBl. I S. 559) und nach dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEGSchlussgesetz) vom 14. September 1965 (BGBl. I S. 1315) gestellt und auf folgende Weise erledigt worden:

Zuerkennungen 2 014.142
Ablehnungen 1 246.571
Sonstige Erledigungen (z.B. Rücknahmen) 1 123.425.

Die Zahl der Antragstellerinnen und Antragsteller ist statistisch nicht erfasst. Sie ist nicht identisch mit der Zahl der gestellten Anträge, weil nach Mitteilung der für die Durchführung des BEG zuständigen Bundesländer jeder Anspruchsberechtigte im Durchschnitt mehr als einen Antrag gestellt hat. Die Anzahl der von der Gesamtheit oder auch einzelnen Antragstellern geltend gemachten Ansprüche ist ebenfalls nicht zu ermitteln. Die Zahl der Anträge und Erledigungen ab dem 1. Januar 1988 bis heute ist rückläufig und gering; sie wird daher statistisch von den Ländern nicht mehr erfasst."

Bundesministerium der Finanzen: Wiedergutmachung: Regelungen zur Entschädigung von NS-Unrecht (Broschüre, Stand: 3. Juni 2021), Externer Link: www.bundesfinanzministerium.de, S. 25–26.

Neben individuellen gab es auch kollektive Formen der "Wiedergutmachung". In diesen Fällen nahmen eine Gruppe oder ein Staat die Rolle des Gläubigers ein. Gemeinsam mit der Claims Conference vertrat der neugegründete Staat Israel Anfang der 1950er-Jahre Forderungen nach Entschädigung und Rückerstattung für das jüdische Volk als Ganzes.

Nach einer Regierungserklärung von Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinem Bekenntnis zur Verpflichtung des deutschen Volkes zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung begannen im September 1951 entsprechende Verhandlungen, die trotz erheblicher innenpolitischer Widerstände nur ein Jahr später, am 10. September 1952, zur Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens führten. Dieses sah eine Globalentschädigung für Israel in Höhe von drei Milliarden DM sowie für die Claims Conference in Höhe von 450 Millionen DM vor und beinhaltete Verbesserungen der Entschädigungsgesetzgebung. Der erfolgreiche Abschluss dieser Verhandlungen förderte die Annäherung an den Staat Israel und leistete einen wichtigen Beitrag zur internationalen Reputation des neuen, demokratischen Deutschlands.

Mit der Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens traten die Beziehungen des Zentralrats zu jüdischen Organisationen im Ausland in eine neue Phase. Im Oktober 1952 wurde der Zentralrat erstmals als Mitglied der Claims Conference anerkannt und konnte sich in die Diskussion über die Verteilung der neu verfügbaren Restitutionsmittel einbringen. Anfang Mai 1953 kam es zu einer ersten Einigung, die es den Juden in Deutschland erlaubte, einen jährlichen Zuschuss für die Arbeit der 1951 gegründeten Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (ZWST) zu beantragen. In der bundesrepublikanischen Anfangsphase zunächst von der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation JOINT mit Mitteln zur Versorgung Bedürftiger ausgestattet, erstreckten sich die Aktivitäten dieser Einrichtung der Freien Wohlfahrtspflege Mitte der 1950er-Jahre über die verschiedensten Bereiche der Sozial- und Flüchtlingshilfe, der Alten- und Jugendarbeit bis hin zur Mitwirkung an der Sozialgesetzgebung.

Mit der Gründung der ZWST war nicht nur eine für die jüdische Minderheit wichtige Sozialeinrichtung entstanden, sondern auch ein deutliches Zeichen gesetzt, dass die jüdischen Gemeinden ihre Existenz nicht (mehr) als vorübergehend betrachteten, sondern begannen, eine längerfristige Organisationsstruktur zur Wahrnehmung der Interessen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland aufzubauen. Zur finanziellen Unterstützung von Seiten der Claims Conference kamen später Zuschüsse von Bund und Ländern, die auch die Arbeit des im September 1955 gegründeten Kulturdezernats ermöglichten, das Kinder- und Jugendarbeit sowie Erwachsenenbildung leistete. Damit war die materielle Basis für den Aufbau einer neuen jüdischen Gemeinschaft und lokaler jüdischer Aktivitäten in Deutschland geschaffen – eine Situation, die von Juden in Deutschland seit fast einem Jahrzehnt sehnlichst herbeigewünscht worden war und oft als wichtiger Schritt zur langfristigen Sicherung der jüdischen Präsenz in Deutschland interpretiert wird.

Darüber hinaus bildete die Beilegung des Streits zwischen den jüdischen Partnern die Grundlage für eine kontinuierliche Verbesserung der innerjüdischen Beziehungen: Ende der 1950er-Jahre stimmten auch der World Jewish Congress und die World Zionist Organization dem Beitritt einer deutsch-jüdischen Vertretung in ihre Organisationen zu. Mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik am 12. Mai 1965 schien das von Vertretern der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland geforderte Ziel der Anerkennung erreicht. Der Zentralrat war sowohl von Seiten der Bundesregierung als auch von den ausländischen jüdischen Organisationen akzeptiert und zu Israel hatte sich das Verhältnis deutlich verbessert (s. Kapitel Interner Link: "Juden in Deutschland und der Staat Israel").

Ambivalenz

Solange die Existenz und das Fortbestehen jüdischen Lebens in Deutschland zur Diskussion gestanden hatten, kämpften die Sprecher der kleinen jüdischen Minderheit vereint für die innere Konsolidierung und Stabilisierung der jüdischen Gemeinschaft. Ende der 1950er-Jahre erschienen die existenziellen Fragen der Anfangsjahre weitestgehend geklärt. Jüdinnen und Juden in der Bundesrepublik wandten sich nun verstärkt der Aufgabe zu, jüdische Identität und jüdisches Leben nach dem Holocaust neu zu definieren. Das "Bewusstsein des Provisorischen" erschwerte es jüdischen Gemeinden und ihren Dachverbänden lange, interne, auf das religiöse, kulturelle und soziale Innenleben ihrer Gemeinschaft gerichtete Ziele zu definieren. Die Bezeichnung "Zentralrat der Juden in Deutschland" veranschaulicht beispielhaft die deutliche Abkehr von der Identität der deutschen Juden vor 1933, die sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens bezeichnet hatten (siehe auch Kapitel Interner Link: "Neuanfänge"). Dennoch prägte eine "Sehnsucht nach Normalität" im Umgang zwischen Juden und Nichtjuden die Beziehungen zur Außenwelt, nicht ohne dabei Probleme der Normalisierung ans Licht zu bringen.

Permanentes Provisorium – auf gepackten Koffern

Alltag und Aufgaben, mit denen Juden in der Bundesrepublik konfrontiert wurden, waren vielfältig und die Ansichten, wie Probleme gelöst oder neue Ideen verwirklicht werden könnten, je nach Erfahrung und Zukunftserwartung unterschiedlich. Oftmals waren es mit nicht-jüdischen Partnern verheiratete und somit vor der Deportation bewahrte deutsche Juden, die die ersten Nachkriegsgemeinden kurz vor Kriegsende oder unmittelbar nach der Befreiung organisierten. Gemeinsam mit den wenigen deutsch-jüdischen Überlebenden und vereinzelten Jüdinnen und Juden, die aus dem Exil zurückgekehrt waren, sorgten sie für Gottesdienste, Beerdigungen, Krankenpflege und Zuteilung von Nahrung. Viele von ihnen lebten in ihrer alten Heimat und mussten trotzdem feststellen, dass kaum etwas so geblieben war, wie sie es gekannt hatten.

Seit 1950 wuchsen viele der wiedergegründeten jüdischen Gemeinden. Zu den neuen Mitgliedern zählten jüdische Familien, die vor dem Nachkriegsantisemitismus in Osteuropa geflohen und durch Kontakte oder Zufall in Städten wie Hamburg, Frankfurt oder Augsburg gelandet waren. Einige waren aufgrund verschiedener Schwierigkeiten aus Israel oder anderen Orten des Exils zurückgekehrt und einzelne waren als Partner oder Kinder aus interreligiösen Ehen zum Judentum übergetreten.

Viele der in Deutschland gestrandeten Juden wagten einen Neuanfang: Sie gründeten Familien, feierten religiöse Feste und organisierten gesellige Zusammenkünfte. Neben der Familie war die Synagoge der Lebensmittelpunkt jüdischen Lebens. Dort trafen sich die Gemeindemitglieder am Schabbat (siehe Kapitel Interner Link: "Religiöse Strömungen und jüdische Feiertage"), begingen gemeinsam die jüdischen Festtage und feierten zusammen Hochzeiten, Beschneidungen und Bar Mizwas. Freundschaften unter den Mitgliedern förderten das Gemeinschaftsgefühl auch jenseits der organisierten Veranstaltungen. Im Lauf der Jahre entstanden zudem Angebote für die Jugend.

Als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachteten die jüdischen Gemeinden die Organisation von jüdischem Religionsunterricht. In ganz Deutschland bestanden Anfang der 1960er-Jahre 75 Gemeinden mit insgesamt 52 Religionslehrern. Die Zahl der Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren, die am Religionsunterricht teilnehmen sollten, gab der Zentralrat 1962 mit 2248 an. Tatsächlich erhielten bundesweit zu diesem Zeitpunkt 1820 Schüler jüdischen Religionsunterricht.

Seit Anfang der 1950er-Jahre entstanden auch wieder Synagogenbauten in Deutschland, die als ein Zeichen der langsamen Konsolidierung der jüdischen Gemeinschaft im Land gewertet wurden. Ein Beispiel ist die als erste auf dem Gebiet der Bundesrepublik 1952 in Stuttgart eingeweihte Synagoge "Beth Knesset".

Zeitgleich ließ sich gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren – allerdings an Orten, an denen sich keine oder sehr viel kleinere jüdische Gemeinden angesiedelt hatten – der Abriss von Ruinen und die Umnutzung von Synagogen beobachten. Beispiele bieten Essen, Worms oder Augsburg. In Augsburg wurde die Synagoge in Kriegshaber von der JRSO an die Stadt verkauft, da die Nachfolgeorganisation es für unnötig erachtete, diese Synagoge angesichts der kleinen Nachkriegsgemeinde zu erhalten; inzwischen ist sie wiederhergerichtet und vor wenigen Jahren zu einer Zweigstelle des Jüdischen Kulturmuseums umgestaltet worden.

Interessanterweise amtierten 1960 nur sieben offizielle Gemeinderabbiner und einige wenige in Osteuropa ausgebildete Rabbiner in Deutschland. Unter Vorsitz des Landesrabbiners von Hessen, Isaak Emil Lichtigfeld (1894–1967), schlossen sich 1957 orthodoxe und liberale Rabbiner (nicht jedoch die traditionellen Rabbiner der osteuropäisch geprägten Gemeinden Bayerns) zur Rabbinerkonferenz in der Bundesrepublik zusammen. Zweck dieser Organisation war es, alle religiösen und sozialen Aufgaben der Rabbiner zu koordinieren. Sie hatte jedoch wenig Handlungsspielraum und stand ständig im Schatten des Zentralrats, der für sich in Anspruch nahm, die jüdischen Interessen in der Öffentlichkeit zu vertreten.

Der Aufbau jüdischen Lebens verlief zunächst von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Juden und Nichtjuden vermieden private Kontakte. Jüdische Zeitungen hingegen berichteten ausführlich über den Aufbau und die Entwicklung der jüdischen Gemeinden und dienten als wichtiges Bindeglied zwischen den in Deutschland verstreut lebenden Jüdinnen und Juden. Das Jüdische Gemeindeblatt für die Nordrhein-Provinz und Westfalen war eines der ersten jüdischen Nachrichtenblätter und Anfang der 1950er-Jahre das einzige überregional erscheinende jüdische Presseerzeugnis. Die 1946 in Düsseldorf gegründete und zwanzig Jahre lang von dem Journalisten Karl Marx (1897–1966; nicht zu verwechseln mit seinem bekannten Namensvetter) herausgegebene Wochenzeitung wechselte mehrfach ihren Namen und erscheint heute als Jüdische Allgemeine in Berlin.

Der weit über die Grenzen der Bundesrepublik bekannte Herausgeber trat nicht nur wiederholt und lautstark als selbsternannter Fürsprecher der in Deutschland lebenden Juden in Erscheinung, sondern gehörte auch zu den aktivsten Förderern der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. 1948 waren in Frankfurt am Main, München, Stuttgart und Wiesbaden die ersten dieser Gesellschaften mit dem Ziel gegründet worden, einen Beitrag zur "Umwertung der geistigen und kulturellen Werte des deutschen Volkes zu leisten". Sieben Jahre später gab es in der Bundesrepublik insgesamt schon 34 solcher Zusammenschlüsse, die "für die Brüderlichkeit aller Menschen ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Herkunft" eintraten.

Wie anderen in der Bundesrepublik bescherte das "Wirtschaftswunder" auch manchem jüdischen Überlebenden geschäftliche Erfolge. Doch vielen, die Verfolgung und Lager überlebt hatten, gelang es nur mühsam und äußerst langsam, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Erschwert wurde dies nicht zuletzt durch das widersprüchliche Selbstverständnis als Juden in Deutschland: Gerade die erste Generation, also die Überlebenden der Shoa, schien durch eine auf der Verfolgungserfahrung gründende kollektive Identität geprägt. Häufig erklärten sie ihr Bleiben im Land der Täter damit, dass sie sich für die demokratische Entwicklung in Westdeutschland verantwortlich fühlten. Dennoch betrachteten sie das Land nur als einen vorübergehenden Aufenthaltsort. Viele fühlten sich schuldig und stellten ihre Anwesenheit in Deutschland nach dem Holocaust in Frage. Zu den als problematisch wahrgenommenen Aspekten der deutsch-jüdischen Beziehungen gehörten insbesondere der wieder aufflammende Nationalismus und der deutsche Antisemitismus. In diesem Spannungsfeld entwickelte sich eine jüdische Jugend, die einerseits zum Symbol für das Leben sowie für die Kontinuität jüdischer Existenz und jüdischer Werte wurde, die aber andererseits Deutschland nicht selten als "unmögliche Heimat" – so der Titel eines Buches von Anthony D. Kauders zur deutsch-jüdischen Geschichte der Bundesrepublik – erlebte.

Unabhängig davon, ob die oft von körperlichen oder psychischen Krankheiten gezeichneten Überlebenden ausführlich über das Erlebte sprachen oder die Vergangenheit verschwiegen, gaben sie das erlebte Grauen in ihrem Verhalten unausgesprochen an die nächste Generation weiter. Diese Familiensituation belastete besonders die Erstgeborenen. Diejenigen, die später geboren wurden, waren tendenziell besser in der Lage, ihr Leben zu meistern. Einige machten Karriere. Dennoch sind auch ihre Biografien von einer Vergangenheit geprägt, die sie nicht erlebt haben.

QuellentextMit den Traumata umgehen – eine jüdische Kindheit in Augsburg

Helena Goldfein geb. Fischel

"Ich geh runter!", rief ich, warf die Tür ins Schloss und rannte die Holztreppe vom zweiten Stock in der Gossenbrotstr. 1 hinunter zu den Kindern, hinaus auf die Straßen des Thelott-Viertels. Die idyllische Gartenstadtkolonie, zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem Vorbild des britischen Stadtplaner Ebenezer Howard mit großzügigen Vor- und Hauptgärten und begrünten Hofflächen von dem Architekten Sebastian Buchegger errichtet, war für uns Kinder in den noch "autoarmen" frühen sechziger Jahren der schönste Spielplatz, den man sich erträumen konnte.

Wir spielten Verstecken, fuhren Rad und Rollschuh, streunten durch den nahe gelegenen Wittelsbacher Park, der mit seinem verwunschenen Teich und den Spielplätzen eine Fundgrube war für geheimnisvolle Abenteuer. Manchmal wurden wir aufgeschreckt durch das laute Donnern einer Panzerkolonne, die durch die Perzheimerstraße rollte. Alle Kinder rannten hin, um zu winken. In mir lösten das unheimliche Gedröhne und der Anblick der dicken Fahrzeuge, trotz der freundlich winkenden Soldaten immer ein Unbehagen aus, das ich nicht einordnen konnte.

Meistens waren einige Kinder draußen zum Spielen. Bei schlechtem Wetter klingelten wir einfach und besuchten uns gegenseitig. In fast jedem der kleinen Häuser wohnten Familien mit Kindern. Bei den meisten gab es eine Oma. Manchmal fragten die Kinder, wo meine Oma sei. "Ich habe keine Großeltern", antwortete ich gerade heraus. "Oh Du Arme", ich mochte die bedauernden Blicke nicht und meinte das besorgte Gegenüber beruhigen zu müssen: "Ich bin es so gewohnt, für mich ist das normal". Normal bedeutete für mich, stets eine Leerstelle zu spüren, die der Holocaust verursacht hatte, wie ich heute weiß.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich erfahren habe, warum ich keine Großeltern hatte und was meine Eltern vor meiner Geburt erlebt hatten. Ich habe nichts gefragt und sie haben nichts erzählt. Ich hatte das Gefühl, seit meiner Geburt über die Schrecken der Shoa informiert zu sein. Wie beeindruckt war ich, als ich viele Jahre später während meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin in einer Studie des israelischen Psychoanalytikers Yossi Hadar las, dass die Kinder der Überlebenden, die "zweite Generation", meist nicht eindeutig sagen könnten, wann sie erstmals vom Holocaust erfahren haben. Während die Überlebenden auf ein Leben "davor" zurückgreifen können, erleben es deren Kinder so, als wären sie "in den Holocaust hineingeboren worden", da sie durch die Nähe zu den Eltern von Geburt an mit dem unsagbaren Grauen in Berührung gekommen sind. Ich spürte immer eine undefinierbare Anspannung und die innere Unruhe meiner Eltern.

Meine Eltern stammten jeweils aus orthodoxen jüdischen Familien in Polen. Beide haben ihre Eltern und die meisten Angehörigen verloren. Beide haben unabhängig voneinander Auschwitz überlebt. Meine Mutter wuchs mit fünf älteren Brüdern und einer jüngeren Schwester in Bendzin, einem kleinen Ort in der Nähe von Kattowitz auf. Die Familie wurde nach dem Überfall der Deutschen auf Polen zunächst in ein Ghetto gepfercht, um dann nach Auschwitz deportiert zu werden, wo meine Großeltern vermutlich sofort ins Gas geschickt worden sind. Meine Mutter sagte oft, dass sie ohne ihre jüngere Schwester Sarah niemals überlebt hätte. Sie wurden zusammen Ende 1944 von Auschwitz zunächst nach Neuengamme bei Hamburg und dann nach Bergen-Belsen transportiert, wo sie 1945 von den Engländern befreit wurden. Von der ganzen Familie mütterlicherseits überlebten nur die beiden Schwestern und der wesentlich ältere Bruder Moshe, der bereits verheiratet gewesen war und seine Frau und zwei Söhne verloren hatte. Seine Tochter Topka hatte sich mit einer Gruppe Jugendlicher mit "arischen" Papieren dank der Hilfe von Partisanen durchschlagen und weitgehend zu Fuß nach Palästina retten können. Ein anderer Bruder meiner Mutter starb kurz nach der Befreiung in Bergen-Belsen.

Die wenigen Teile der Verfolgungsgeschichte erfuhr ich nach und nach, wie isolierte Bruchstücke, denn meine Eltern erzählten, wenn überhaupt, immer wieder dieselben Episoden. Die Erzählung brach immer an denselben Stellen ab, die sich in mir wie dunkle Löcher breitmachten. Heute weiß ich, dass schwer traumatisierte Menschen ihre Geschichte meist nicht in einem chronologischen Narrativ erzählen können, zu schmerzhaft sind die Erinnerungen. Die Psyche schützt sich auf diese Weise vor dem unerträglichen Schmerz der traumatischen Situation. Die Kinder der Überlebenden, denen nichts oder nur weniges erzählt wurde, phantasierten sich unbewusst in die Geschichte der Eltern hinein. Das vergebliche Bemühen, sich die Mosaike der Lebensgeschichte der schweigenden Eltern selbst zusammenzusetzen, nennt die amerikanische Psychoanalytikerin Judith Kestenberg "Transposition".

Durch den älteren Bruder Mosche lernten meine Eltern sich im DP (displaced persons) Lager in Landsberg kennen, wo sie 1947 im "Cafe Tel-Aviv" heirateten. Nach dem Tod meines Vaters 1996, fand ich bei der Augsburger Wohnungsauflösung die Hochzeitseinladung meiner Eltern und die Lagerzeitung mit Hochzeitsglückwünschen.

Von Landsberg aus machten sich meine Eltern schon bald auf, um in Augsburg mit dem Besitzer der Maschinenfirma Eberle Kontakt aufzunehmen – ein Versuch der Gestrandeten, in der fremden Welt Fuß zu fassen. Herr Eberle hätte sich noch gut an meinen Großvater Jakob Gutmann erinnert, den "Herrn mit dem schönen Bart". Ob und wie er tatsächlich geholfen hat, weiß ich nicht. Jedenfalls war dieser Kontakt der Anstoß dafür, dass meine Familie in Augsburg ansässig wurde. Stolz hatte meine Mutter immer von der Baumaterial- und Werkzeugfirma ihrer großen Familie und den Geschäftsreisen ihres Vaters nach Österreich und Deutschland erzählt, vielleicht auch nach Augsburg… Er hätte stets Wertvolles wie z.B. Kaffee nach Bendzin mitgebracht.

Auch bei meinem Vater überlebten aus einer Familie mit sieben Kindern, nur drei Geschwister – er und seine beiden jüngeren Brüder Henniek und Alex. Erst relativ spät erfuhr ich, dass mein Vater vor der Shoa bereits verheiratet gewesen war und seine Frau und eine kleine Tochter – vermutlich sah er sie bei der Selektion an der Rampe zum letzten Mal – in Auschwitz ermordet worden waren. Mein Vater sprach nie darüber, aber ich sah ihn oft nachdenklich und schweigsam auf der Couch sitzen. Ich spürte neben seiner sprachlosen Trauer auch die tiefe Beschämung darüber, so hilflos ausgeliefert und zutiefst gedemütigt worden zu sein. Erstaunlich, dass sich die Opfer für die Gräuel der Täter schämen! Viele Überlebende hatten die Hoffnung und Illusion, ihren Kindern das Wissen und die Gefühle über die schrecklichen Erlebnisse ersparen zu können. "Wir wollten Euch nicht belasten", sagte mein Vater. Als Erwachsene verstand ich, dass er sich wie die meisten Überlebenden in einen "Vorhang des Schweigens", einen individuellen und kollektiven Abwehrmechanismus gehüllt hatte. Ich hörte das Schweigen meiner Eltern und erfüllte den Auftrag, nicht zu fragen, saugte dennoch das unausgesprochene, erlebte Grauen der Eltern "mit der Muttermilch auf" und habe wie viele Kinder von Überlebenden bis heute Schwierigkeiten damit, dieses zu verdauen.

Die Überlebenden sehnten sich nach einem normalen Leben, gründeten sofort nach der Befreiung Familien, so dass in den DP-Camps die Geburtenrate sehr hoch war. Das Leben sollte weiter gehen. Die Trauer über so viele Toten war zu überwältigend und überstieg das menschliche Fassungsvermögen, so dass die Toten letztlich nicht betrauert werden konnten. Die zweite Generation sollte ein Ersatz sein für die Ermordeten, den Familienstolz wiederherstellen, das Trauma quasi ungeschehen machen. Ein verständlicher Wunsch der Eltern und ein Auftrag, den die Kinder unbewusst übernahmen, aber nicht erfüllen konnten. Eine Überforderung, unter der besonders die unmittelbar nach Kriegsende (erst-) geborenen Kinder gelitten haben, wie auch mein Bruder, der als junger Erwachsener schwer psychisch erkrankte und leider bereits mit 42 Jahren gestorben ist. Der Holocaust griff auch die nächste Generation an. Nicht selten werden im Leben der Nachkommen Krisen und Katastrophen inszeniert, die sich so anfühlen können, als ginge es um Leben und Tod. Die israelische PsychoanalytikerinIlany Kogan sagt, die Kinder lebten gewissermaßen das Drehbuch der Eltern, entwickelten andererseits jedoch durch die an sie unbewusst gestellten Anforderungen ein hohes Maß an Kreativität und Intelligenz, mit der sie das Leben oft auch gut meistern würden.

Nachdem sie fast ihre ganze Familie und ihr Zuhause im Holocaust verloren hatte, brachte meine Mutter bereits 1948, also relativ kurze Zeit nach der Befreiung, ihr erstes Kind, meinen Bruder Abraham Jakob, in Augsburg im Wöchnerinnenheim zur Welt. Zusammen mit den beiden Brüdern meines Vaters wohnte die junge Familie zunächst in der Augsburger Innenstadt zur Untermiete, bei einer Familie der sie zugeteilt worden waren. Viele jüdische Überlebenden-Familien hatten in der Nachkriegszeit deutsche Kindermädchen, die bei der Säuglingspflege und Kindererziehung halfen und die vermutlich wie ein "Hilfs-Ich" den innerlich zerbrochenen Überlebenden Halt und Stütze gaben. Im Nachhinein ist mir bewusst, dass es sich um junge Frauen handelte, die aus den Familien der Täter und Mitläufer stammten, was damals, als es ums Weiterleben ging, sicher nicht reflektiert worden ist. Schwester Wally, wie ich sie bis heute nenne, hatte im Wöchnerinnenheim gearbeitet und wurde im ersten Lebensjahr meines Bruders seine Säuglingsschwester. Sensibel und aufmerksam spürte sie die Hilfsbedürftigkeit meiner Eltern und blieb stets freundschaftlich mit meiner Familie verbunden. Es folgten weitere Kindermädchen nach, die mit uns spielten, bis ich zur Schule kam. Meine Mutter hatte das Spielen verlernt.

Um das Ausgeliefertsein in der traumatischen Situation seelisch überleben zu können, schneidet das Opfer seine Gefühle ab, kapselt sie ein. Das Opfer betäubt sich sozusagen selbst, um vom Entsetzen nicht überwältigt zu werden. Ein Schutzmechanismus, der kaum rückgängig gemacht werden kann und seinen Preis fordert. Es bleibt ein "leerer Kreis" zurück, der das Empfindungs- und Einfühlungsvermögen in sich selbst und in andere, auch in die eigenen Kinder, dauerhaft beeinträchtigt, was auch mein Bruder und ich als Kinder deutlich spürten. Meine Mutter schien immer etwas abwesend und überfordert zu sein.

Der Lebensmittelpunkt meines Vaters war neben der Familie, zum einen seine Textilfirma Fa. Fischel & Co., die lange Zeit im Stadtzentrum Augsburgs in der Steingasse, über dem Cafe Bertele lag, zum anderen die Synagoge in der Halderstraße, in der er viele Jahre Vorbeter und Synagogendiener war. Im Cafe Bertele trafen sich an Werktagen nachmittags oft die jüdischen Frauen zum Kaffee. Ich mochte die lebendige Atmosphäre, wenn alle zusammenkamen. Die jüdische Gemeinschaft war wie eine Ersatzfamilie und die Gemeinde und Synagoge in der Halderstraße wie ein erweitertes gemeinsames Wohnzimmer.

Die Kraft und Lebensfreude der Überlebenden, die es trotz der traumatischen Erlebnisse in den Familien gab, sind beeindruckend. Wir haben die jüdischen Feiertage, die sich wie ein roter Faden durch das Jahr zogen zu Hause und in der Gemeinde gefeiert. Die lebensbejahende jüdische Tradition gab Halt und Kraft. An den Feiertagen zog Licht ein in die Leere der Verdrängung. Ich spürte die Trauer und Überforderung meiner Mutter besonders in diesen sensiblen Momenten – und verbat mir, ihr dies zu zeigen, um sie nicht noch mehr zu belasten.

Mein Bruder und ich wurden, entsprechend der jüdischen Tradition, nach Verstorbenen – in unserem Fall nach den ermordeten Großeltern – benannt. Die Namen meiner beiden Großmütter Chaja und Deborah erschienen meinen Eltern, so kurz nach der Verfolgung, wohl als "zu jüdisch". Lieber nicht auffallen! Die Angst davor, wieder verfolgt zu werden, war stets präsent und "steckte in den Knochen". Und so wurde Chaja Deborah in Helena Dorothea übersetzt, was ich wiederum als zu Deutsch empfunden habe. Wie fühlt man sich als einziges jüdisches Kind in der Wittelsbacher Volksschule im Augsburg der sechziger Jahre? Immer ein bisschen fremd, trotz der beiden deutschen Vornamen, nicht nur während des Morgengebets, bei dem ich als einzige nicht die Hände faltete und während des katholischen Religionsunterrichts, bei dem ich hinten saß und hören musste, dass die Juden das Jesuskindlein ermordet hätten. Trotzdem gefielen mir die Weihnachtslieder und die Stimmung während der Weihnachtszeit. Die Nachbarn im Haus legten an Weihnachten und Ostern immer kleine Geschenke für meinen Bruder und mich vor unsere Wohnungstür. Wir freuten uns sehr darüber. Wie enttäuscht waren wir, als wir die Ostereier wegen des oft zeitgleichen Pessachfestes erst eine Woche später essen durften. Bei uns zu Hause gab es nur koscheres Fleisch, das wir per Expresspost aus der koscheren Metzgerei aus München geschickt bekamen.

Meine Eltern sprachen fehlerhaftes Deutsch mit jiddisch-polnischem Akzent und konnten mir wenig helfen in der Schule, in einer Zeit als der Begriff Migrationshintergrund noch kein gesellschaftlicher Konsens war. Die Überforderung meiner Eltern übertrug sich auf mich, so dass ich vor allem in der Grundschule immer Angst hatte, in der fremden Welt zu versagen. "Wir sind anders, wir haben unsere eigene Religion", erfuhr ich nicht nur zu Hause, sondern auch im jüdischen Kindergarten der Gemeinde und später im jüdischen Religionsunterricht, der zu meinem Leidwesen immer am Nachmittag stattfand. Nachmittage, an denen ich nicht unten mit den anderen Kindern spielen konnte.

Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest, und Jom Kippur, der Versöhnungstag, sind die höchsten Feiertage des jüdischen Kalenderjahres. Kaum hatte die Schule im September begonnen, wurden wir vom Unterricht befreit, um mit den Eltern festlich gekleidet, während außen herum der ganz normale Alltag stattfand, in die Synagoge zu gehen. "Wieso feiert ihr Neujahr schon im Herbst, Sylvester ist doch erst im Winter". Jedes Jahr dieselbe Erklärungsnot und das Gefühl, wieder viel in der Schule zu versäumen. Während die Eltern an den Feiertagen in der Kleinen Synagoge beteten – die große war damals noch baufällig und wir durften nicht hinein – spielten wir Kinder im Innenhof an dem schönen Brunnen "Kaiser wie viel Schritte darf ich gehen". Wir waren ca. zwanzig Kinder in allen Altersstufen, mehr Jungs als Mädchen und kannten uns von klein auf. Zur Bar Mizwa Feier meines Bruders flog meine Familie nach Israel, um diesen großen Tag mit den Verwandten dort zu feiern. Ich war damals sieben Jahre alt und konnte es nicht fassen, dass alle Menschen in Israel Juden sein sollten und kein Leben in der Minderheit führten wie wir.

An Rosh Haschana ist es Brauch, symbolisch die Sünden des alten Jahres in einen Fluss zu werfen. Aus diesem Anlass kam alljährlich, am Nachmittag des ersten Rosh Haschana Tages fast die ganze Augsburger Gemeinde zu uns nach Hause. Welche Aufregung und Freude einerseits, wie peinlich andererseits, als viele Männer in dunklen Anzügen mit Hüten und Frauen in Festtagskleidern wie Fremdkörper an einem gewöhnlichen Wochentag durch "mein Viertel" zur nahegelegenen Wertach zogen, während die nichtjüdischen Kinder auf der Straße spielten und verwundert schauten. Meine Eltern hatten keine deutschen Freunde, zu tief saß der Stachel. Im Sommer fuhren wir nach Italien und im Winter nach Seefeld (in Tirol), wo auch jüdische Familien aus anderen Städten – München, Frankfurt und Berlin – Urlaub machten. Heute verstehe ich die innere Aufruhr und latente Angst einzuordnen, die stets bei meinen Eltern hochkam, als die Pässe vorgezeigt werden mussten. Welche Höllenszenarien mochten sich in solchen Momenten in ihnen abgespielt haben. Der Holocaustüberlebende Jean Améry sagte: "Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. […] Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang […] eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen." 6 In den über viele Jahre lebensbedrohlich Verfolgten und zutiefst gedemütigten Holocaustopfern entstand eine innere Welt des völligen verlassen Seins. Die traumatische Realität zerstörte das Urvertrauen in die Mitmenschlichkeit. Wen wundert also, dass auch ein Streit mit den Kindern auf der Straße, bei dem mein Bruder als "Saujude" beschimpft wurde, in meinem Elternhaus wie ein Weltuntergang empfunden wurde.

Für meine Mutter war der D-Zug nach München, wo die Brüder meines Vaters inzwischen Familien gegründet hatten, schon immer der Weg hinaus aus der Enge Augsburgs in die Großstadt, wo sie stets jüdische Bekannte traf. Als Jugendliche sollten mein Bruder und ich auch zu den jüdischen Partys und Bällen nach München fahren. Das Spielen mit den Kindern auf der Straße war vorbei, es begann eine sehr schwierige Zeit. Wir durften uns nicht einfach so verlieben wie es alle Jugendlichen auf der Welt machen, es waren schließlich die Kinder der Täter oder Mitläufer. Ab jetzt galt es, den Spagat zu meistern, im Spannungsfeld zwischen der alten Tradition, die die Eltern uns vermittelt hatten, und dem Bedürfnis und der seelischen Notwendigkeit, sich als junger Mensch in der Umgebung, in der man aufwächst, zu integrieren, um ein normales Leben führen zu können.

Wenn Eltern sehr gelitten haben, ist es schwer für Kinder, sich zu widersetzen. Man könnte die schwer belasteten Eltern schließlich erneut verletzen, nach all dem Leid, das sie bereits haben aushalten müssen. Kein leichtes Unterfangen, wenn für die Persönlichkeitsentwicklung bereits im Trotzalter zwischen drei und fünf Jahren und später in der Adoleszenz Aggression und Auflehnung, die allzumal in den 68er Jahren auf der Tagesordnung standen, überlebensnotwendig und identitätsstiftend sind. Die Kinder der zweiten Generation hatten oft das Gefühl, die "Eltern ins Grab zu bringen". Wir befürchteten, die Eltern würden die Auseinandersetzungen nicht verkraften und so nahmen wir uns aus Schuldgefühlen den ehemals verfolgten Eltern gegenüber oft selbst zurück, auch in der eigenen Lebensplanung, um die Eltern zu schonen.

Nach dem Abitur ging ich nach Israel, um nicht mehr in der Minderheit leben zu müssen. In Deutschland war ich immer die Jüdin gewesen. Auch im Gymnasium, im Stetteninstitut, waren wir über viele Jahre nur zwei jüdische Mädchen und wurden häufig als solche betrachtet. In Israel war ich plötzlich die Deutsche und fühlte mich, wie viele Menschen in der Migration erst einmal "Lost in Translation" 7. Kein Zufall, dass ich dort einen deutschen Juden heiratete und mit meinem damaligen Mann zurückging nach Deutschland – wenn auch nach München. Der Kontakt zur Augsburger Gemeinde blieb dennoch bestehen, so dass wir die Bar Mizwas der beiden Söhne in den neunziger Jahren in der mittlerweile restaurierten Synagoge in der Halderstraße feierten. Bei der Bar Mizwa meines Bruders, die ja in Israel stattgefunden hatte, schien das noch nicht möglich gewesen zu sein.

Ich lebe heute mit meinem jüdischen Lebenspartner in München, bin niedergelassen als Psychoanalytikerin, beschäftige mich auch beruflich mit dem Holocaust und der NS-Zeit, z.B. mit der Geschichte der Psychoanalyse in der NS-Zeit und mit Traumatheorie und -behandlung. Meine mittlerweile erwachsenen Kinder, eine Tochter und zwei Söhne, leben in Israel. Meine Tochter ist mit einem Israeli verheiratet und im Februar dieses Jahres wurde ich Großmutter eines israelischen Enkelkindes.

Dipl.Psych Helena Goldfein war bis zu Ihrer Pensionierung 2020 als Psychoanalytikerin in eigener Praxis niedergelassen und lehrte als Dozentin am Ausbildungsinstitut für Psychoanalyse MAP in München.

© Helena Goldfein
Zukunft im Land der Täter: Jüdische Gegenwart zwischen "Wiedergutmachung" und "Wirtschaftswunder", 1950–1969. Katalog der gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben vom 17. April 2013 bis 15. September 2013, herausgegeben von Benigna Schönhagen.

Intensivere Kontakte zu Nichtjuden ergaben sich für die gut behütete zweite Generation meist erst mit der Einschulung. An den Volksschulen wurden sie erstmals mit Vorurteilen konfrontiert und erlebten antisemitische Beleidigungen und Beschimpfungen durch Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler. Erst zu Beginn der 1960er-Jahre machte sich langsam ein Wandel im Verhältnis zueinander bemerkbar. Oft waren es gemeinsame Interessen oder die Mitgliedschaft in Vereinen, die Juden und Nichtjuden miteinander in Kontakt brachten.

Dauerhafter Aufenthalt – Normalisierung?

Bis Ende der 1980er-Jahre blieb die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in der Bundesrepublik stets unter 30.000 und war mit einem Anteil von 0,05 Prozent an der Gesamtbevölkerung eine im Alltag kaum wahrnehmbare Gruppe. Nach zwei Jahrzehnten, in denen für die jüdischen Gemeinden die wirtschaftliche und soziale Integration ihrer Mitglieder im Vordergrund gestanden hatte, sollten in den folgenden Jahren unterschiedliche Inhalte, Fragen und Anschauungen das Miteinander prägen und einen langsamen Wandel des geistigen Klimas innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik einläuten. Neben die Vorstellung von einer provisorischen Existenz in Deutschland schob sich die Idee eines dauerhaften Aufenthalts.

Zu Beginn der 1960er-Jahre hatte eine erhebliche wirtschaftliche und politische Konsolidierung zu einer Stabilisierung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland beigetragen. Zugleich bedrohten Antisemitismus und Neonazismus (siehe Kapitel Interner Link: "Antisemitisms in Deutschland nach 1945") die Normalisierung. Beeinträchtigt wurde sie auch durch die fehlende Bereitschaft der großen Mehrheit nicht-jüdischer Deutscher, sich zur deutschen Verantwortung für den Völkermord an den Jüdinnen und Juden Europas zu bekennen. Zwar thematisierten einzelne westdeutsche Politiker die Verbrechen des NS-Regimes, verurteilten den fortbestehenden Antisemitismus und betonten, aus der Vergangenheit Lehren ziehen zu wollen. Das Augenmerk der Bundesregierung richtete sich Anfang der 1950er-Jahre jedoch vor allem auf die Entwicklung eines neuen Deutschlands. Nicht durch Aufarbeitung, sondern mittels einer gezielten "Vergangenheitspolitik" – einem heute als zu milde beurteilten Verhalten der jungen Bundesrepublik gegenüber NS-Mitläufern bei gleichzeitig harter Verfolgung weniger Haupttäter – bemühte sich die neu gewählte demokratische Führung, die Westintegration der Bundesrepublik und den Zusammenhalt der Bevölkerung abzusichern. Erst nach einer Reihe von Skandalen und spektakulären Prozessen gegen NS-Verbrecher – allen voran der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt ab 1963 – setzte in den 1960er-Jahren eine Diskussion um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein.

Das Gefühl der Juden in Deutschland, sich ständig vor sich selbst und vor den Juden im Ausland rechtfertigen zu müssen, warum sie mit ihrer Präsenz in der Bundesrepublik den Eindruck von wiederkehrender Normalität zwischen Deutschen und Juden erweckten, erschwerte die eigene Identitätsfindung. Das Fortbestehen antisemitischer Gewalt, die neben Aktionen wie Friedhofsschändungen, Schmierereien an Synagogen und Gemeindegebäuden seit den 1970er-Jahren auch Bomben- und Brandanschläge sowie Attentats- und Entführungsdrohungen beinhaltete, waren deutliche Warnungen, nicht voreilig von einer "Normalität" im Umgang zwischen Juden und Nichtjuden auszugehen. Vor allem aber verstärkten diese Vorfälle das Gefühl der Bedrohung und führten zur Einführung von Sicherheitsmaßnahmen. Panzerglas, Zäune, Kameras, Alarmanlagen, Wachleute und Polizeischutz prägen bis heute jüdische Einrichtungen und den Alltag von Jüdinnen und Juden in der Bundesrepublik.

Antisemitische Propaganda und Gewalt verstärkten das Bedürfnis nach "Sicherheit" und nicht zuletzt deshalb war Israel ein wichtiger Bezugspunkt für die meisten in der Bundesrepublik lebenden Jüdinnen und Juden (siehe auch Kapitel Interner Link: "Juden in Deutschland und der Staat Israel"). Nahezu alle solidarisierten sich mit dem 1948 gegründeten jüdischen Staat und spendeten Geld für ihn. Im Frühjahr 1967 rückte das Land ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit, als Provokationen der arabischen Nachbarn Ägypten, Jordanien und Syrien den Frieden im Nahen Osten bedrohten und schließlich im Sechs-Tage-Krieg eskalierten. Angesichts dieser Bedrohung Israels interessierten sich nicht-jüdische Deutsche zum ersten Mal merklich für den jüdischen Staat und zollten den Juden in Deutschland plötzlich Aufmerksamkeit, die sie in den Anfangsjahren nicht erhalten hatten.

Obwohl die jüdische Gemeinschaft klein und ihre politische Macht begrenzt war, hatte sich die Sensibilität gegenüber jüdischen Belangen im Laufe der Zeit erhöht. Das verstärkte öffentliche Interesse an Israel und der jüngeren deutsch-jüdischen Geschichte veränderte sowohl die Stellung der jüdischen Gemeinschaft in der deutschen Gesellschaft als auch das jüdische Selbstbewusstsein. Die jüdische Gemeinschaft von 1970 lebte nicht länger in Abgeschiedenheit vom Rest der Gesellschaft. Auf der Suche nach einem neuen jüdischen Selbstverständnis hinterfragte insbesondere die kritische jüdische Jugend – von der "68er"-Bewegung angesteckt – das Leben auf gepackten Koffern und die Voraussetzungen für jüdisches Leben in der Bundesrepublik.

Zeitgleich begann die junge Generation nicht-jüdischer Deutscher, angeregt durch eine zunehmende Medienpräsenz des Holocausts, ihre Eltern und Großeltern nach ihrer Rolle während der NS-Zeit zu fragen. Obwohl einzelne Theaterstücke und Filme bereits seit Mitte der 1950er-Jahre das jüdische Schicksal während der NS-Zeit thematisierten, etablierte sich der Begriff "Holocaust" in Deutschland erst 1979 infolge der Ausstrahlung der gleichnamigen amerikanischen Serie durch die dritten Fernsehprogramme.

Bürgerinitiativen und Schülerwettbewerbe widmeten sich der Rekonstruktion der jüdischen Vergangenheit zahlreicher Orte. Deutsche Städte luden ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger ein, ihre alte Heimat zu besuchen, und Denkmäler für die ermordeten Juden wurden aufgestellt. Neben das Interesse für die Zeit der Vernichtung trat auch die Beschäftigung mit der reichen jüdischen Geschichte und den Resten des jüdischen Lebens in der Gegenwart, welche später die Gründung jüdischer Museen und neuer universitärer Einrichtungen zur Erforschung jüdischer Geschichte und Kultur inspirierte.

Dass die kleine jüdische Gemeinschaft erste Schritte aus den sprichwörtlich gewordenen Hinterhöfen hinauswagte, belegt nicht nur die Tatsache, dass sie offener über eine Zukunft des Judentums in Deutschland sprach. Von einem neuen Selbstbewusstsein zeugten auch die Gründung einer Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg 1979, die Rabbiner und Religionslehrer ausbilden sollte, und die Entstehung liberaler jüdischer Gemeinden, in denen eine Gleichberechtigung der Frauen im Gottesdienst gegeben ist. Letztere bestehen seit den 1980er-Jahren neben den in den frühen Nachkriegsjahren gegründeten orthodox geprägten Gemeinden (mehr zu Strömungen im Judentum siehe Kapitel Interner Link: "Religiöse Strömungen und jüdische Feiertage").

Ein neues politisches Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinschaft findet seit den 1980er-Jahren seinen Ausdruck in der Bereitschaft, sich in öffentliche Debatten einzubringen, gerade auch im Hinblick auf Konflikte um die "Normalisierung" des Verhältnisses zur deutschen Geschichte. Ausschlaggebend dafür waren der Generationswechsel unter den Juden in Deutschland und in der Führung des Zentralrats, aber auch ein grundlegender Wandel in der politischen Kultur des Landes. Hatten Mitglieder des Zentralrats die Wahl des CDU-Politikers Kurt Georg Kiesinger trotz seiner "braunen Vergangenheit" zum deutschen Bundeskanzler 1966 weitgehend unkommentiert gelassen, reagierte die jüdische Gemeinschaft 1985 mit öffentlichen Protestaktionen gegen den Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf dem Friedhof von Bitburg, auf dem sich auch Gräber von Mitgliedern der Waffen-SS- befanden.

QuellentextKampf um die Erinnerung am Frankfurter Börneplatz

Der große Erzähler und kritische Chronist Ludwig Börne wurde am 6. Mai 1786 im jüdischen Getto in Frankfurt am Main geboren, unter dem Namen Juda Löb Baruch. […] Vom späten Mittelalter an und lange danach waren die Juden in Frankfurt in diesem Getto zusammengepfercht. Im Frühjahr 1987 rückt diese weithin verdrängte Vergangenheit plötzlich wieder in den Fokus. Es entbrennt in Frankfurt eine Auseinandersetzung, die in ganz Deutschland und in den europäischen Nachbarländern Aufmerksamkeit findet. Bei Ausschachtungsarbeiten für ein geplantes Kundenzentrum der Stadtwerke stoßen die Bauarbeiter mit ihren Baggern auf die Überreste des alten jüdischen Gettos.

Es war 1885 von der Stadt endgültig abgerissen worden. Die von der Jüdischen Gemeinde im Jahre 1882 errichtete Synagoge war am 9. November 1938 in Brand gesteckt und zum großen Teil vernichtet worden – wie viele andere Synagogen in dieser Pogromnacht auch. Der Platz des Gettos und der Synagoge hieß bis 1979 (!) so, wie ihn die Nationalsozialisten benannt hatten: Dominikanerplatz. Erst dann erhielt er den Namen Ludwig Börnes.

Und jetzt, durch die Baugrube für das Kundenzentrum der Stadtwerke, kommt die verdrängte Vergangenheit wieder hoch. Die Fachleute überrascht das nicht. Historiker und Archäologen wussten, dass man in einigen Metern Tiefe auf die Reste der Judengasse stoßen würde. […]

Im April 1987 werden die ersten Überreste des Gettos entdeckt. Im Mai finden die Archäologen sechs Meter unter der Erdoberfläche eine gut erhaltene Mikwe aus dem 15. Jahrhundert, ein Ritualbad für jüdische Frauen. […] Der Gemeindevorsitzende Ignatz Bubis fordert die Erhaltung der Mikwe vor Ort.

Der Konflikt, der jetzt entbrennt, wird von großer Bedeutung für die Juden in ganz Deutschland. Zum zweiten Mal demonstrieren sie ein neu gewachsenes Selbstbewusstsein. Die Überlebenden des Holocaust und ihre Nachfahren zeigen, dass sie gewillt sind, in Deutschland zu bleiben und für ihre Rechte, ihre Kultur zu kämpfen. Zum ersten Mal war das im Herbst 1985 geschehen, als Mitglieder der Jüdischen Gemeinde mit Bubis an der Spitze die Bühne des Schauspiels Frankfurt besetzt hatten – sie verhinderten so die Uraufführung des Stückes "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder, das sie als antisemitisch verurteilten.

Und jetzt also der Börneplatz. Nach und nach werden die Fundamente alter Getto-Häuser freigelegt. "Steinernes Haus", "Sperber", "Lamm" und "Widder". Vor dem Bauzaun drängen sich die ersten Demonstranten. […] Die Demonstranten fordern die Erhaltung der Überreste und rufen Parolen wie: "Macht Geschichte nicht zunichte" und "Diskutieren statt betonieren". […]

Doch 1987 lässt der wachsende Protest [den] Oberbürgermeister […] zunächst kalt. Er besteht darauf, dass das Kundenzentrum der Stadtwerke wie geplant gebaut wird. Es könne und dürfe nur an dieser zentralen Stelle der Innenstadt stehen. […] Die Zeitungen in ganz Deutschland greifen die Auseinandersetzungen auf. […] Der sogenannte Kompromiss sieht so aus: Ein Drittel der noch unbebauten Fläche am Börneplatz wird für eine Dependance des geplanten Jüdischen Museums reserviert. So kommt es zum Museum Judengasse. Fünf Keller von früheren Häusern des Gettos bleiben erhalten. Zwei Ritualbäder werden am originalen Ort wiederhergestellt.

Im Sommer 1987 zieht der Streit immer weitere Kreise. Der damalige bekannte Lektor des Suhrkamp-Verlages in Frankfurt […] schreibt in der Wochenzeitung "Die Zeit" am 10. Juli 1987 eine Polemik zum Umgang mit den Überresten des Gettos unter dem Titel "Das Loch von Frankfurt". Doch die […] Mehrheit im Stadtparlament bleibt hart. Am 20. August 1987 setzt sie den "Kompromiss", der nur die Erhaltung einiger Fundamente vorsieht, im Stadtparlament […] durch. […]

Am Donnerstag, den 27. August, beginnen Bagger wichtige Grundmauern des Gettos zu planieren und abzuräumen. Das Aktionsbündnis und Gruppen, die für den Erhalt kämpfen, rufen daraufhin für Samstag, 29. August, zur Kundgebung unter dem Motto "Rettet den Börneplatz!". An diesem Tag geschieht, was schon lange in der Luft lag, 800 Protestierende besetzen die große Baugrube. Der Polizei gelingt es nicht, das Tor zur Baustelle zu verteidigen. […] Die Besetzung gerät zum Volksfest. In der Menge erklingt Klezmermusik, es werden Gedichte und andere Texte rezitiert. […]

Nach drei Tagen und Nächten setzt [der] Oberbürgermeister […] das Hausrecht der Stadt durch und lässt die besetzte Baugrube des Börneplatzes von der Polizei räumen. […] Das Stadtwerke-Gebäude wird errichtet, ebenso das kleine Museum Judengasse. 1996 wird die Gedenkstätte "Neuer Börneplatz" eröffnet, die an die 12.000 Frankfurter Opfer der NS-Vernichtungspolitik erinnert. […]

Die Geschichte besitzt noch eine bittere Pointe. Die Stadtwerke ziehen später vom Börneplatz weg, die Holding hat ihren Sitz heute in der City West außerhalb der Innenstadt. Im Stadtwerke-Gebäude ist nun das Städtische Planungsdezernat untergebracht.

Claus-Jürgen Göpfert, "Kampf um die Erinnerung", in: Jüdisches Leben in Frankfurt. Reihe Frankfurter Rundschau Geschichte, Bd. 9/2019, S. 1034 ff.

Insgesamt war das "neue deutsche Judentum" nach 1945 eine äußerst heterogene Gruppe. Am Vorabend der deutschen Wiedervereinigung saßen nicht (mehr) alle Juden in Deutschland auf gepackten Koffer, bei den meisten waren sie längst ausgepackt. Unterschiedliche Interessen und gegensätzliche Positionierungen unter den Mitgliedern führten aber auch dann zu Spannungen und Konflikten im Innern der jüdischen Gemeinschaft. Nicht jeder fühlte sich vom Zentralrat adäquat vertreten. Manche warfen dem Zentralrat Entfremdung von den von ihm repräsentierten Juden in der Bunderepublik einerseits und Anbiederung an das deutsche politische Establishment andererseits vor. Andere beschrieben ihr Lebensgefühl als "fremd im eigenen Land." Zudem war die jüdische Gemeinschaft überaltert und ein Fortbestehen der Gemeinschaft nicht selbstverständlich. Entscheidende Veränderungen und neue Herausforderungen kamen mit dem Fall der Mauer 1989 und der Öffnung der Sowjetunion.

Prof. Dr. Andrea Sinn ist O’Briant Developing Professor and Associate Professor am Department of History and Geography der Elon University in North Carolina sowie seit 2017 Direktorin des an der Universität angesiedelten Zentrums für jüdische Studien. Sie beschäftigt sich mit deutscher und jüdischer Geschichte, promovierte 2014 mit einer Arbeit zu jüdischer Presse und Politik in der Bundesrepublik Deutschland und hat neben einer Monographie zu diesem Thema weitläufig zu jüdischem Leben in Deutschland nach dem Holocaust publiziert.