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Literarische Auseinandersetzungen | Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 | bpb.de

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Literarische Auseinandersetzungen

Alfred Bodenheimer

/ 10 Minuten zu lesen

In beiden deutschen Staaten stieß Literatur zur jüdischen Verfolgungserfahrung zunächst auf wenig Gegenliebe. Es gab nur wenige jüdische Autorinnen oder Autoren. Doch seit den 1990er-Jahren veröffentlichen vermehrt junge jüdische Autorinnen wie Katja Petrowskaja, Olga Grjasnowa und Mirna Funk Literatur zu jüdisch orientierten Themen.

Die literarische Aufarbeitung der Shoah ist in Deutschland zunächst unerwünscht. Edgar Hilsenraths sehr erfolgreiche Satire "Der Nazi & der Friseur", hier eine Generalprobe des Magdeburger Schauspielhauses 2015, erscheint daher zuerst auf Englisch. (© picture-alliance/dpa, Jens Wolf)

In den Jahren der Weimarer Republik, unmittelbar vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, befand sich das jüdische Kulturschaffen in Deutschland in einer nie zuvor erreichten Blüte. In der Literatur und Publizistik sollen exemplarisch nur Namen wie Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin oder Kurt Tucholsky genannt sein, um eine Innovativität und Originalität zu beschreiben, ohne die deutsches Kulturleben undenkbar schien. Doch Verfolgung, Vertreibung und Ermordung waren in den Jahren 1933–1945 das Schicksal jüdischer Literaturschaffender in Deutschland.

Jüdische Autorinnen und Autoren in Ost- und Westdeutschland

Nur wenige emigrierte Autorinnen und Autoren, die schon vor oder während ihres Exils bekannt waren, kehrten nach 1945 zurück, zuweilen mit Vorbehalten. In Westdeutschland war dies etwa Alfred Döblin (der allerdings dann zeitweise wieder nach Frankreich zog), in Ostdeutschland Arnold Zweig und Anna Seghers. Einige jüngere Rückkehrerinnen und Rückkehrer machten sich erst in der Nachkriegszeit literarisch einen Namen, so etwa Hilde Domin oder Grete Weil in Westdeutschland, Stefan Heym und Stephan Hermlin in der DDR. Doch ein beträchtlicher Teil der jüdischen Autorinnen und Autoren deutscher Sprache lebten und schrieben weiterhin in den Gastländern, die sie einst aufgenommen hatten. Das galt, in der älteren Generation, für Lion Feuchtwanger in den USA oder für Nelly Sachs in Schweden, in der nachfolgenden Generation für Paul Celan in Frankreich, Erich Fried in England oder Peter Weiss in Schweden. Auch Hermann Kesten zog, als er aus den USA nach Europa kam, nach Italien (und war von dort aus sogar Präsident des deutschen Poets, Essayists, Novelists-Zentrums (PEN)) sowie später in die Schweiz. Auch Wolfgang Hildesheimer verließ einige Jahre nach seiner Rückkehr aus Palästina Deutschland und ließ sich in der Schweiz nieder.

In beiden deutschen Staaten war zunächst ein Thematisieren der jüdischen Verfolgungserfahrung unerwünscht. Paul Celan etwa, der dies seit den 1950er-Jahren offen tat, erfuhr dafür massive Ablehnung und Kritik. Edgar Hilsenrath, der als Shoahüberlebender erst nach seiner Befreiung über Palästina und Frankreich in die USA gekommen war, feierte mit seiner 1971 erschienenen Shoah-Satire "Der Nazi & der Frisör" zuerst auf Englisch einen Welterfolg, bevor die Übersetzung ins Deutsche und später auch seine Remigration nach Deutschland erfolgten.

Literarisches Schaffen in der DDR

Seit den 1970er-Jahren verringerte sich in der DDR die Anzahl jüngerer deutscher Literaturschaffender. Die drei bekanntesten jüdischen Autoren der Generation, die unmittelbar vor oder während des Zweiten Weltkriegs geboren war, überwarfen sich mit der Staatsführung und verließen halb oder ganz unfreiwillig in den 1970er-Jahren die DDR: Wolf Biermann, Jurek Becker und Thomas Brasch. Von den Dreien war der aus Lodz stammende, als Kind durch den Krieg gerettete Becker durch seinen Shoah-Roman "Jakob der Lügner" (1969) und dessen Verfilmung damals am deutlichsten mit dem Judentum befasst. Biermann hat sich erst in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts zu jüdischen Themen geäußert: Er übersetzte das Gedicht "Großer Gesang vom ausgerotteten Jüdischen Volk" des jiddischen Dichters Jizchak Katzenelson, der wie Biermanns Vater in Auschwitz ermordet worden war, ins Deutsche und gab Stellungnahmen zur Verteidigung Israels ab.

Literarisches Schaffen in Westdeutschland

Auch in der Bundesrepublik war in den Jahren vor der Wende die Anzahl jüngerer jüdischer Autorinnen und Autoren dünn gesät. Publizistisch traten dagegen einige sich der politischen Linken zurechnende Autorinnen und Autoren pointiert hervor, allen voran der ebenfalls in Polen als Kind von Shoah-Überlebenden geborene Henryk M. Broder, der mit seinem Buch "Der ewige Antisemit" (1981) auf die Judenfeindschaft in der deutschen Linken hinwies.

Seit den 1980er-, besonders aber in den 1990er-Jahren traten eine ganze Anzahl jüdischer Autorinnen und Autoren, die meist nach der Shoah geboren worden waren, prominent und mit eindeutig jüdisch orientierten Themen ins literarische Rampenlicht, so etwa Barbara Honigmann, Esther Dischereit, Rafael Seligmann, Vladimir Vertlib, Maxim Biller oder Matthias Hermann. Aus Österreich kamen Stimmen wie Robert Schindel, mit dem vielbeachteten Roman "Gebürtig" (1993), sowie Doron Rabinovici und Robert Menasse hinzu. Dennoch erklärte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, selbst ein polnisch-jüdischer Überlebender des Warschauer Ghettos, in einem Vortrag 2003, die Epoche der deutsch-jüdischen Literatur sei seit der Shoah beendet.

Jüdische Literatur heute

Aus einer Distanz von rund 20 Jahren lässt sich Reich-Ranickis Bemerkung neu einordnen. Bis um die Jahrtausendwende nämlich war noch immer ein konservatives Verständnis von "deutscher Literatur", gebunden an Begriffe wie Heimat oder Sprachgemeinschaft, vorherrschend. Aus dieser Perspektive war jüdisches Schreiben in deutscher Sprache notwendigerweise von Außenseitertum und innerer Entfremdung geprägt. Inzwischen aber sind Migration und Vielfalt, sowohl von ihren Möglichkeiten wie von ihren Problemen her, als zentrales Element kultureller Entwicklung erkannt worden, und dies rückt jüdische Autorinnen und Autoren im deutschen Sprachraum geradezu in eine Vorreiterposition.

Wie die Autorin und Journalistin Mirna Funk in einem Interview bemerkt hat, zeichnet sich gerade die Generation jüdischer Literaturschaffender in der Gegenwart durch Diversität und Weltbürgertum aus. Schauen wir auf die Gegenwartsliteratur seit dem Jahr 2000 und dann noch deutlicher seit den 2010er-Jahren, sind dies unter anderem Wladimir Kaminer, Adriana Altaras, Lena Gorelik, Olga Grjasnowa, Sasha Marianna Salzmann und Katja Petrovskaja. Neben ihnen ist durchaus auch eine Gruppe in Deutschland (Ost und West) geborener Literaturschaffender mit jüdischem Hintergrund zu erwähnen, für die hier Oliver Polak, Benjamin Stein und die erwähnte Mirna Funk stehen sollen. Auch sie jedoch zeichnet aus, dass es in ihren Werken in hohem Maße um Fremdheitserfahrungen geht. Und nicht zuletzt hat auch die in den vergangenen Jahren wachsende israelische Diaspora in Berlin in ihrer Annäherung an die deutsche Sprache bemerkenswerte Werke hervorgebracht – als bekanntere Namen sind hier etwa Tomer Gardi und Mati Shemoelof zu nennen.

Festzuhalten ist, dass nebst dem Verfassen von Büchern, Gedichtbänden, Dramen, Hörspielen und Filmdrehbüchern auch eine frühere Tradition der deutsch-jüdischen Literatur wieder aufgenommen worden ist: das Herausgeben kulturbezogener Periodika mit jüdischem Schwerpunkt. Besonders hervorstechend ist dabei die 2017 gegründete Zeitschrift "Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart". Zu deren Initiatoren gehört der Lyriker und Politologe Max Czollek, der vor allem mit seinem Essay "Desintegriert euch!" im Jahr 2018 eine lebhafte Debatte um Akzeptanz und Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland angestoßen hat. Darin schreibt er etwas rüde, aber anschaulich: "Die Juden und Jüdinnen in Deutschland sind dazu da, die Nachkommen der Täter*innen bei der Konstruktion ihrer Identität zu unterstützen. Ich erlebe das regelmäßig. Man sitzt nach einer Lesung in der Kneipe und isst einen Handkäse oder trinkt noch ein Bier, da lehnt sich die Moderatorin oder ein Kollege nach vorn und will sich über den einen oder anderen Text unterhalten. Manchmal erwischt mich das auf dem falschen Fuß, und ich denke, schön, dem oder der geht es wirklich um den Austausch von Gedanken. Aber spätestens, wenn die Person mir von ihrem SS-Opa erzählt, verstehe ich, dass die Gegenseite gerade ihren Lieblingskanal bei Jewporn eingeschaltet hat. Nach jedem dieser Kneipengespräche fühle ich mich so leer, als hätte nur mein Gegenüber Spaß gehabt, während ich den Impuls unterdrücke, ihm oder ihr hinterherzurufen: Mach es dir beim nächsten Mal doch alleine." (S. 30)

Oder, programmatischer und theoretischer: "Die Idee der Integration von allem und allen ist nicht nur eine frei verfügbare Projektionsfläche für deutsche Phantasien kultureller Dominanz – die ihr zugrunde liegende Vorstellung eines gesellschaftlichen Zentrums macht es auch unmöglich, die radikale Vielfalt der deutschen Gesellschaft anzuerkennen, die heute schon Realität ist. Dagegen hat die Benennung des neuen Antisemitismusbeauftragten 2018 noch einmal unterstrichen, dass der deutsche Staat sich nach wie vor nur als Partner der Juden denken kann. Und nicht als ein unter anderem jüdisches Land. Solange dieses Integrationsdenken den politischen Mainstream bildet, wird es eine Allianz mit meinen Freund*innen und mir nicht geben können. Sie ist aber nötig." (S. 188)

In der Folge sollen anhand von drei Beispielen Formen, Inhalte und Tendenzen der Gegenwartsliteratur aufgezeigt werden, die mit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland verbunden werden kann. Es handelt sich dabei durchweg um Publikationen der vergangenen zehn Jahre, die eine breite mediale und teilweise auch wissenschaftliche Rezeption erfahren haben. Sie alle sind stark autobiografisch geprägt und spiegeln gerade darin die Vielfalt und Komplexität jüdischen Schreibens innerhalb der deutschen Gegenwartsliteratur – und in vielen Fällen prägt sie auch die Suche nach dem, was sich als jüdisches Selbstverständnis positiv formulieren ließe.

Katja Petrowskaja: "Vielleicht Esther"

Es ist ungewöhnlich, dass der Ingeborg-Bachmann-Preis, einer der renommiertesten deutschsprachigen Literaturpreise, an eine Autorin geht, die erst als Erwachsene in näheren Kontakt mit der deutschen Sprache kam. So geschah es, als im Jahr 2013 Katja Petrowskaja, geboren 1970 in Kiew und nach Studien in Estland, den USA und Russland erst seit 1999 in Berlin lebend, einen Auszug aus ihrem Werk "Vielleicht Esther" vortrug. In dem Buch, das ein Jahr später erschien, folgt Petrowskaja den Spuren ihrer mütterlichen und väterlichen Vorfahren und deren Familien. Einzelne Gegenstände, Schriftstücke, Erzählungen, Reisen und Erinnerungen versucht sie zu einem aus Bruchstücken zusammengesetzten Bild zusammenzufügen, unterlegt mit etlichen Vermutungen, Rückschlüssen, aber auch inneren Lücken und Widersprüchen.

Ein Beispiel für die Komplexität überlieferter Erinnerung, die das Buch durchzieht, ist die Bedeutung einer Fikus-Pflanze, die in den Erzählungen des Vaters der Autorin eine entscheidende Rolle spielt. Diesen Fikus nämlich hat Petrowskajas Vater immer erwähnt, wenn er von seiner Rettung vor den vorrückenden Nazis aus Kiew erzählte. Ihr Großvater habe ihn von der Ladefläche eines Lastwagens entfernt, auf dem flüchtende Jüdinnen und Juden auch ihren Hausrat unterbrachten, und damit erst Platz für seine Familie geschaffen. Als ihr Vater später seine Erinnerungen an diese Flucht niederschreibt, gibt es diesen Fikus, dem die Autorin jahrzehntelang sein Überleben und ihre Existenz zu verdanken glaubte, dort plötzlich nicht mehr. Dieses Detail erschüttert die Autorin, und ihr Vater tröstet sie, manchmal sei es "gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht".

Das Gesamtbild einer Suche – die nach möglichst vielen historischen Hinweisen im Leben der Familie strebt, aber auch erkennt, dass gewisse Dinge der Erinnerung der Überlebenden selbst unzugänglich sind – wird zu einem neuen literarischen Umgang mit dem Trauma, das seine eigenen Narrative schafft, tröstende und verstörende, die im Falle dieser Familie auch verschiedene Quellen haben: die Shoah und der stalinistische Terror, später auch die bleierne Decke der poststalinistischen Sowjetunion. Dass der biografische Druck des Aufwachsens in einem unfreien System ihr nachhaltige Angst vor dem Gebrauch ihrer russischen Muttersprache als Literatursprache eingeflößt habe und sie deshalb ins Deutsche ausgewichen sei, betonte Petrowskaja denn auch, als sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

Olga Grjasnowa: "Der Russe ist einer, der Birken liebt"

Kam Petrowskaja als promovierte und profilierte Publizistin nach Deutschland, so wanderte die 1984 geborene Olga Grjasnowa als Kind 1996 mit ihren Eltern aus Aserbeidschan ein. Mascha, Ich-Erzählerin ihres Romandebüts, trägt denn auch kein familiäres, sondern ein persönliches Kriegstrauma in sich, nämlich das des Konflikts zwischen Aserbeidschan und Armenien innerhalb der Sowjetunion der späten 1980er-Jahre. Zugleich zeigt sich im Schicksal ihrer Familie die Vielfalt von Motiven, die jüdische Familien zur Emigration nach Deutschland führten. So schreibt Olga Grjasnowa in ihrem Roman: "Offiziell gehörten wir zum Kontingent jüdischer Flüchtlinge, die jüdische Gemeinden in Deutschland stärken sollten. Aber unsere Auswanderung hatte nichts mit dem Judentum, sondern mit Bergkarabach zu tun.” (S. 44)

Im multikulturellen Berlin des 21. Jahrhunderts wird die polyglotte Übersetzerin Mascha durch den unerwarteten Tod ihres deutschen Freunds Elischa zurückgeworfen auf Fragen des adäquaten Trauerns. Auf ihrer Suche nach Zerstreuung, Trost und über den Tod hinausgehender Treue zu dem Verstorbenen fährt sie auch zu ihrer Verwandtschaft nach Israel und spricht an der Klagemauer das jüdische Totengebet Kaddisch für Elischa – am Ende gerät sie in Palästina zwischen die Fronten und wird verletzt. Die Germanistin Martina Kofer sieht in Mascha und auch in vielen der Personen, die sie umgeben, hybride Figuren, die sich einheitlichen Identitätszuschreibungen entziehen. Sie erklärt, "dass das zentrale Thema des Traumas und der Trauer im Roman einhergeht mit Fragen kultureller Zugehörigkeiten und einer kritischen Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Nation‘, ‚Heimat‘ und ,Religon‘".Dass Mascha an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, unterläuft teilweise das gängige postmoderne Feiern pluraler Identitäten.

Mirna Funk: "Winternähe"

Die 1981 in Ost-Berlin geborene Mirna Funk zählt zu den jüngeren Autorinnen der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur, die in Deutschland sozialisiert wurden. Stark autobiografisch geprägt ist auch ihre Romanfigur, die Fotografin Lola, die Geburtsort und -jahr mit der Autorin teilt. Anders als Grjasnowas Mascha, deren jüdische Mutter ihre religionsgesetzliche Zuschreibung zum Judentum garantiert, ist Lola eine "Vaterjüdin" mit nicht-jüdischer Mutter, was religiös gesehen ihre Konversion zum Judentum erfordern würde. Die Dissonanz zwischen Selbstwahrnehmung und Nichtakzeptanz durch die jüdische Religionsgemeinschaft wird noch überlagert dadurch, dass sie in Deutschland eine Reihe antisemitischer Erfahrungen macht, und zwar in ihrer eigenen liberalen, jungen und urbanen Community. Diese Frustration und die Sehnsucht nach ihrer israelischen Bekanntschaft Schlomo hat zur Folge, dass Lola nach Tel Aviv fliegt – just am Vorabend des Gazakriegs von 2014, den sie zwischen Besuchen bei ihrem Großvater, der Liebe zu Schlomo, dem Horror vor Raketenalarm und dem Erschrecken über die israelfeindliche Stimmung in Deutschland verbringt.

Lolas jüdische Identität ist durch die deutsche Geschichte geprägt – der Antisemitismus, der ihr in Deutschland entgegenschlägt, ist für sie eine unmittelbare Folge des innerlich über die Generationen hinweg nie eingesenkten Verständnisses für die unendliche Schuld an der Vernichtung des europäischen Judentums. Zugleich kämpft sie mit der Gegenwart, hin- und hergerissen zwischen Schlomos linker Identifikation mit Palästinenserinnen und Palästinensern und dem Widerstand gegen die Anti-Israel-Agitation in Deutschland. Die Literaturwissenschaftlerin Luisa Bank sieht in der Neuprägung des Titelworts "Winternähe", das einerseits das Symbol des Toten im "Winter", andererseits das Versprechen von "Nähe" enthält, das Einfassen des Grundkonflikts in diesem Roman: die Versuche, das Misslingen und die potenziell weiterbestehenden Möglichkeiten des Zusammenfügens von Identitäten und Lebensmöglichkeiten.

War die deutsch-jüdische Literatur seit 1945 ununterbrochen durch die Erfahrung von Fremdheit, durch Migration, durch erlittene Verfolgung oder durch das Totschweigen der Geschichtslast geprägt, so ist im Schreiben jüdischer Autorinnen und Autoren der Gegenwart diese Fremdheit definitiv Programm geworden. Dies kann in Form von Czolleks Desintegrationsforderung, Petrowskajas Suche nach Bruchstücken der Familiengeschichte, Grjasnowas Thematisierung transmigrantisch fortwirkender Traumata oder Funks global erfahrener Heimatlosigkeit geschehen. Damit schafft diese Literatur für das deutsche Lesepublikum die Herausforderung, aber auch die Möglichkeit, sich der Komplexität, in Deutschland jüdisch zu sein, neu anzunähern.

Prof. Dr. Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel und Autor. Er hat zahlreiche Werke zur deutsch-jüdischen Literatur wie auch zu religionshistorischen und religionspolitischen Themen veröffentlicht, wie beispielsweise die Monografien "Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative und Traditionsbildung" und "Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte (beide 2012). Zudem ist er Autor einer Reihe von Kriminalromanen.