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Wandel der Familienentwicklung: Ursachen und Folgen

Johannes Huinink

/ 17 Minuten zu lesen

In Deutschland werden immer weniger Ehen geschlossen. Das Bild zeigt eine Massentrauung in Seoul. (© AP)

Familienentwicklung im Lebenslauf

Der Familienverlauf von Menschen ist Teil ihres Lebenslaufs. Traditionell wurde er als Aufeinanderfolge einzelner Phasen der Familienentwicklung beschrieben, die in großer Regelmäßigkeit aufeinander folgten und jeweils besondere Anforderungen an die Lebensgestaltung der Individuen stellten (Familienzyklus). Nach dem Kennen- und Liebenlernen eines Paares begann der traditionelle Familienzyklus mit der Heirat und der Gründung eines eigenen Haushalts, sobald der Mann für die materielle Grundlage der Familie sorgen konnte. Die nächste Phase war durch die Geburt des ersten Kindes (Familiengründung) charakterisiert, der die Geburten zweiter und weiterer Kinder folgten (Familienerweiterung). Nach der Zeit des Aufwachsens verließen die Kinder nach und nach das Elternhaus. Die Eltern traten in die nachelterliche Phase ein ("empty nest"-Phase), wenn das letzte Kind aus ihrem Haushalt ausgezogen war. Der Prozess endete mit dem Tod eines der Elternteile. Eine Trennung der Eltern und eine mögliche Re-Organisation durch Wiederheirat oder das Zusammenziehen von Elternteilen waren nicht vorgesehen.

Der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus bzw. deren Eheschließung markierte den Beginn des Familienzyklus in der Kindergeneration. Die Abfolge der Familienphasen wurde daher nahtlos von einer Generation an die nächste weitergereicht. Somit war der Terminus des Zyklus ganz passend. Dem Familienzyklus entsprach im Übrigen eine ebenso klare und verlässliche Struktur im beruflichen Bereich und Einkommenserwerb des Mannes. So ordentlich, wie es dieses Modell des Familienzyklus vorsah, sind Lebensläufe nie mehrheitlich abgelaufen und für die heutige Zeit gilt das schon gar nicht. Historisch charakterisiert das Modell am ehesten die Zeit der 1950er und 1960er Jahre, die schon als das "golden age of marriage" bezeichnet wurde.

Ein Blick auf die Altersphase zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr, die man als Zeit des Übergangs zum Erwachsenendasein betrachten kann, zeigt dies besonders deutlich. Allein schon, dass dafür heute diese große Altersspanne angelegt werden muss, ist bemerkenswert. Es wird immer schwieriger - auch im Selbstverständnis der Menschen - genau zu sagen, ab wann man sich als Erwachsener versteht. Die traditionellen Symbole oder "Marker-Ereignisse" dieses Übergangs, zu denen neben dem Abschluss einer Ausbildung und dem Beginn des Berufslebens eben auch die Heirat und die Geburt eines Kindes gehörten, haben an Bedeutung verloren. Die Familienentwicklung hat ihre ehemals selbstverständliche Verankerung im Lebenslauf eingebüßt.

Drum prüfe, wer sich ewig bindet

Im Unterschied zu den 1950er und 1960er Jahren gibt es häufiger längere Phasen des Alleinlebens, man lebt zeitweilig in einer Paarbeziehung mit getrennten Haushalten, wohnt unverheiratet in einer Paargemeinschaft zusammen oder lebt in Wohngemeinschaften. Einmal aus dem Elternhaus ausgezogen, ziehen Kinder vielleicht auch zwischenzeitlich einmal oder mehrmals wieder zurück. Überhaupt hat das Hin und Her zwischen verschiedenen Lebensformen zugenommen. Paarbeziehungen halten sehr häufig nicht für den Rest des Lebens, auch wenn man geheiratet oder gemeinsame Kinder hat.

Die Abfolgeordnung von Phasen und Ereignissen, wie sie in der traditionellen "Normalbiografie" bzw. im Familienzyklus vorgesehen war, gilt immer weniger. Der Anteil der nichtehelichen Geburten steigt beständig. In Ostdeutschland ist die nichteheliche Familiengründung zum Normalfall geworden. Die Ehe wird also nicht mehr als Voraussetzung für eine Elternschaft angesehen und eine Elternschaft ist immer weniger ein Anlass zu heiraten.

Dem entspricht, dass etwa die Hälfte der nichtehelichen Lebensgemeinschaften in den ostdeutschen Bundesländern 2003 Eltern-Kind-Gemeinschaften waren, in Westdeutschland machten diese nur ein Viertel davon aus - Tendenz steigend.

Das Verhältnis zwischen dem Privatleben und dem beruflichen Bereich ist komplizierter geworden und vor allem für die Frauen im Vergleich zu früher weniger vorgezeichnet. Lebensformen, die das Bestreben beider Partner, erwerbstätig zu sein, gefährden könnten, sind daher unattraktiv. Der Wechsel zwischen Familienphasen und Erwerbsphasen erfolgt bei Frauen immer schneller. Das Drei-Phasen-Modell (Berufsausbildung und Berufstätigkeit - Familienphase - Wiedereinstieg in den Beruf), das Mitte der 1950er Jahre von den schwedischen Sozialwissenschaftlerinnen Alva Myrdal und Viola Klein diagnostiziert wurde, gehört heute weitgehend der Vergangenheit an.

Doch es sind neue Formen von "Familienzyklen" entstanden, die neue Regelmäßigkeiten aufweisen. Das nichteheliche Zusammenleben mit einem Partner ist in vielen Ländern üblich, und die nichteheliche Elternschaft ist vielerorts zu einer Normalität geworden, nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Ländern wie Schweden, Frankreich und Großbritannien. Das Alter, in dem eine Familie gegründet wird, hat sich erhöht. In der Gruppe der Hochqualifizierten ist eine Heirat oder Familiengründung im Alter von 35 Jahren und mehr heute nicht mehr außergewöhnlich. Die Geburt von Kindern erfolgt aber nach wie vor relativ konzentriert innerhalb eines nicht zu großen Altersintervalls. Der freiwillige Verzicht auf Ehe und Familie ist ebenfalls zu einer durchaus normalen Option in Lebensläufen geworden. Die stark verbreitete Ehe- und Kinderlosigkeit vor dem Siegeszug der bürgerlichen Familie war noch eher unfreiwillig und auf gesetzliche Regelungen zurückzuführen gewesen.

QuellentextPacs - eine französische Ehe-Alternative

In Frankreich gibt es eine Alternative zur Ehe, aber auch zur Ehelosigkeit; es ist der vor knapp zehn Jahren eingeführte "Pacs" (pactes civiles de solidarité), und dieser Vertrag erfreut sich einer immer größeren Beliebtheit. Die Steigerungsraten lagen zuletzt bei 30 Prozent pro Jahr. 2007 wurden 266 500 Ehen und 102 000 "Solidaritätspakte" geschlossen. Der Pacs ist ein zivilrechtlicher Vertrag zweier Personen gleichen oder unterschiedlichen Geschlechts, den in der Regel das Amtsgericht bestätigt. Er kann von einer Seite mit einer Frist von drei Monaten aufgelöst werden. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zur Ehe. Ein weiterer ist: Mit ihm wird kein Unterhaltsmodell geschaffen. Beliebt ist der Pacs aber gerade, weil der Gesetzgeber ihn der Ehe angeglichen hat, vor allem in Geldangelegenheiten.
So werden die Partner bei der Einkommensteuer gemeinsam veranlagt, und im Erbfall oder bei Schenkungen gelten die gleichen Steuersätze wie bei Ehepaaren. Prinzipiell gilt die Gütertrennung, für die sich auch die Mehrheit der Ehepartner entscheidet. Wie in der Ehe kann sich ein Pacs-Partner zudem in der Krankenversicherung des anderen mitversichern lassen. Wenn er Beamter ist, gelten für ihn die gleichen Regeln im Falle einer Versetzung wie für Verheiratete. Wenn er mit einem Bahnbeamten liiert ist, kann er kostenlos mit der Staatsbahn fahren. Witwen- oder Hinterbliebenenrente gibt es hingegen nicht. Der Pacs zieht auch kein automatisches Aufenthaltsrecht nach sich, die Partner dürfen außerdem keine Kinder adoptieren, und die Krankenkassen tragen bei ihnen nicht die Kosten einer künstlichen Befruchtung. Sozialhilfeempfänger können in bestimmten Fällen ihren Anspruch auf staatliche Unterstützung verlieren.
Tendenziell ersetzt der Pacs in Frankreich mehr und mehr die Ehe. Im Jahr 2007 kamen in Frankreich erstmals mehr außereheliche als eheliche Kinder zur Welt. [...]

Michael Kläsgen, "Liebe mit Kündigungsfrist", in: Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2008

Es lassen sich also wieder sehr verschiedene in der Bevölkerung etablierte, heute aber in der Regel freiwillig gewählte Muster von Lebensläufen beobachten, unter denen der traditionelle Familienzyklus nur noch ein Modell unter anderen darstellt.

Einflüsse auf den Kinderwunsch

Elternschaft und Familie haben durch den gesellschaftlichen Wandel zugleich an Attraktivität gewonnen und verloren: Die Familie ist ideales Wunschbild für den persönlichen Alltag geblieben und zugleich ein biographisches Problem geworden. Die deutsche Familiensoziologin Rosemarie Nave-Herz bringt diesen Sachverhalt folgendermaßen auf den Punkt: "Die steigende Kinderlosigkeit in Deutschland ist [...] kein Indikator für die Ablehnung einer Familiengründung, sondern für die immer noch hohe Akzeptanz des bürgerlichen Familienideals bei gleichzeitig starker Berufsorientierung der Frauen und fehlenden Infrastruktureinrichtungen für die Betreuung von Kindern."

Der Wunsch nach Kindern ist nach wie vor stark; mindestens 80 Prozent der Bevölkerung wünschen sie sich. Nach neueren Ergebnissen des Eurobarometers halten deutlich weniger als zehn Prozent der Befragten Kinderlosigkeit für erstrebenswert. Schon von einer Kultur der Kinderlosigkeit in Deutschland zu sprechen, ginge daher weit an der Realität vorbei, auch wenn sehr viele der Menschen, die sich Kinder wünschen, letztendlich kinderlos bleiben.

Sollen Fragen nach den Motiven, eigene Kinder zu haben, gut fundiert beantwortet werden, ist zu beachten, dass niemand eine Familie um der Gesellschaft willen gründet. Menschen streben die Elternschaft aus einer sehr persönlichen Motivation heraus an. Sie übernehmen auch nach eigenem Verständnis die Verantwortung dafür und verlassen sich nicht in erster Linie auf den Staat. Menschen gestalten ihr Familienleben, wie im Leben allgemein, im weitesten Sinne nach dem Prinzip, für sich das nach den eigenen Ansprüchen Bestmögliche erreichen und sichern zu wollen. Das bedeutet heutzutage, dass Eltern in der Regel auch für ihre Kinder das Beste wollen - alles andere würde die Gesellschaft auch nicht gutheißen. Der Familiensoziologe Franz X. Kaufmann hat den Begriff der "verantworteten Elternschaft" eingeführt. Er hebt die Bedeutung von normativen, weitgehend geteilten Erwartungen hervor, die die Gesellschaft und die soziale Umwelt an Eltern und ihre Erziehungsleistungen richten bzw.die die Eltern an sich selbst stellen.

Idealer Kinderwunsch von Frauen

In westlichen Industrienationen entscheiden sich Eltern in der Regel nicht aus materiellen Gründen für Nachwuchs, sondern weil er ihnen emotionale Erfüllung und Freude bringt. Die Kinderzahl wird in der Regel beschränkt, um die elterliche Aufmerksamkeit ganz dem Kind widmen zu können. Die Zwei-Kind-Familie ist die am meisten präferierte Familienform. Es wird eher in die "Qualität" von wenigen Kindern als in die "Quantität" (höhere Kinderzahl) "investiert", wie sich der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften (1992) Gary S. Becker ausdrückt. Damit ist ganz gut erklärbar, warum - trotz des steigenden Wohlstandes der letzten Jahrzehnte - die Familiengröße und Kinderzahl abgenommen haben. Die Kosten für Kinder sind ohnehin gestiegen.

Der deutsche Ökonom Lujo Brentano nahm mit seinen Überlegungen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zentrale Aspekte einer fundierten Erklärung des Geburtenrückgangs trotz steigender Wohlfahrt der Menschen vorweg. Er erkannte, dass aufgrund verfügbarer (Verhütungs-)Mittel die Menschen in der Lage sind, willentlich die Zeugung von Kindern zu vermeiden, ohne auf Sexualität verzichten zu müssen. Steigender Wohlstand und höhere Bildung führen nach Brentano zu einer Begünstigung des ökonomischen Denkens in der Lebensplanung. Dazu gehört eine vorsorgliche Planung der Zukunft zur Absicherung bzw. Verbesserung der individuellen Lebensverhältnisse. Mit zunehmendem Wohlstand wächst auch die Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse der Menschen.Brentano schreibt 1909 in seinem Aufsatz "Die Malthussche Lehre und die Bevölkerungsbewegung der letzten Dezennien": "Das aber, was die Abnahme des Zeugungswillens hervorgerufen hat, sind die Zunahme der Konkurrenz der Genüsse und eine Verfeinerung im Gefüge der Kinderliebe". Damit meint er, dass sich das Anspruchsniveau in Bezug auf den eigenen Lebensstandard erhöht hat und dass sich die Beziehung zu den Kindern, beispielsweise in punkto Erziehung, im Vergleich zu früheren Jahrzehnten deutlich verändert hat. Brentano führt schließlich einen Wandel der geschlechtsspezifischen Rollenmuster an, im Verlauf dessen sich die gesellschaftliche Stellung der Frau verändert habe und der eine Verringerung der Heiratshäufigkeiten mit sich gebracht habe.

Nicht nur die Frage der Kinderzahl, auch die Frage, wann und ob man überhaupt eine Familie gründet, wird heute anders beantwortet als früher. Das Alter bei der Familiengründung ist stark gestiegen, und die Kinderlosigkeit hat in vielen Ländern, darunter besonders ausgeprägt in Deutschland, zugenommen.

Auch diesbezüglich spielten bis zu einem gewissen Grade immer schon, spielen aber heute noch viel stärker individuelle Planungskalküle eine Rolle. Seitdem in den 1960er Jahren mit Einführung der oralen Verhütungsmittel (Pille) die "technischen" Möglichkeiten einer Familienplanung außerordentlich verbessert worden sind, ist die zeitliche Steuerung oder Vermeidung einer Familiengründung deutlich sicherer geworden. Die Familienentwicklung ist einer der wenigen Bereiche, der noch weitgehend individuell gestaltet werden kann. Sie ist leichter beeinflussbar, als andere Entscheidungen im Lebensverlauf, wie etwa zu Ausbildung und Berufseintritt.

Die starken, langfristigen Folgen und Bindewirkungen von Ehe und Familie legen es nahe, diese Schritte sorgfältig zu überdenken. Zudem kann kaum genau abgeschätzt werden, was auf einen zukommt. Dieses erklärt sicherlich zu einem großen Teil, warum sich viele junge Menschen gegenüber einer eigenen Familie zurückhalten. Sie schieben die Geburt eines Kindes aus verschiedenen Gründen immer wieder auf. Als Folge steigt das Alter bei der Familiengründung weiter an. Dieser Mechanismus lässt sich als "Verschiebebahnhof" bezeichnen und trifft für verschiedene Bevölkerungsgruppen in unterschiedlich hohem Maß zu.

QuellentextGegen den Trend: Jung und zwei Kinder

In einer Zeit, in der im Gärtnerplatzviertel in München oder in Hamburg-Ottensen geschätzt jede zweite Mutter eines Säuglings bereits graue Haare hat, sind junge Eltern eine Rarität geworden. Im Geburtsvorbereitungskurs 2007 ist kaum eine Frau unter 35, und die einzige 19-Jährige wird mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis gefragt, wie das denn passieren konnte.
Es hat seine Gründe, natürlich, dass Frauen und übrigens auch Männer heute warten, bis sie sich fortpflanzen. Sie warten darauf, einen Beruf zu haben, in dem sie Geld verdienen. Sie warten vielleicht auch darauf, sich ausgetobt zu haben, im Nachtleben zum Beispiel oder in verschiedenen Liebesbeziehungen. Weil die Biographie einer Frau ihr nicht mehr vorschreibt, zu heiraten und Kinder zu bekommen, versucht sie, keine Freiheit ungenutzt zu lassen - und wartet mit dem dazugehörigen Mann auf den sogenannten perfekten Zeitpunkt. Denn sie beide möchten alles haben: Kinder, Liebe, Arbeit, Spaß. [...]
"Wenn man mit 18 Jahren schwanger wird und mit 19 sein erstes Kind bekommt, denkt man nicht darüber nach, ob man jung Kinder haben möchte oder lieber später. Dann denkt man nur darüber nach, ob man sich das Kind jetzt zutraut." Hanna ist 26, sie hat einen siebenjährigen Sohn und eine zweijährige Tochter. Als sie - trotz Verhütung - mit Ben schwanger war, dachte sie ein Wochenende lang darüber nach, ob sie das Kind bekommen sollte oder nicht. [...] Aber ein Abbruch der Schwangerschaft hätte eben nicht alles rückgängig gemacht. Da wäre auch etwas geblieben. Nach einem Wochenende also beschloss Hanna, sich das Kind zuzutrauen, obwohl der werdende Vater ihr sofort mit allen Mitteln zeigte, dass sie sich auf ihn nicht würde verlassen können. [...] Sobald sie konnte, studierte sie wieder: Sozialwissenschaften. [...]
Seit viereinhalb Jahren ist Hanna mit Sepp zusammen, er ist ein Jahr jünger als sie und studiert auch. Helena ist die gemeinsame Tochter [...]. "Ich sehe keinen Unterschied zwischen mir und einer Mutter, die 35 Jahre alt ist", sagt Hanna. "Es gibt ein Leben mit Kindern, und es gibt ein Leben ohne Kinder, das ist der einzige Unterschied." Und doch fühlt Hanna sich manchmal minderwertig und unsicher. Weil sie fast überall in der Elternwelt mit so großem Abstand die Jüngste ist. Auf Elternabenden in Bens Schule, wo die meisten Eltern Mitte, Ende dreißig sind, hat sie manchmal die Sorge, nicht richtig ernstgenommen zu werden. In die Schublade "junge Mutter" gesteckt zu werden, bei der man sich nicht sicher ist, ob sie das alles auf die Reihe kriegt. "Es macht einen seltsam angreifbar, so jung und schon Mutter zu sein. So ähnlich muss es sich als einzige Frau in einer Männerwelt anfühlen." Manchmal hat sie das Gefühl, dass die Leute sie anschauen wie jemanden, den ein schweres Schicksal ereilt hat. Oder, schlimmer, dass sie innerlich mit dem Kopf schütteln und denken, das muss doch gar nicht mehr sein heutzutage.
[...] "Ich verlange viel von den Kindern. Ben ist das einzige Kind in seinem Alter, das nach dem Hort nicht abgeholt wird, sondern allein nach Hause fährt. Aber es geht eben nicht anders. Dafür ist er schon sehr selbständig und auch stolz darauf." Wenn man so darauf angewiesen ist, dass alle mitmachen, damit das Leben läuft, nehmen sich alle gegenseitig ernst. Hanna sagt, sie sei keine, die sentimental zurückblickt auf Zeiten, in denen Ben noch ein Baby war. Sie findet es gut, dass die Kinder groß werden und man immer mehr mit ihnen machen kann.
[...] Die anderen Studenten führen ein ganz anderes Leben: Sie gehen abends aus, schlafen lange, besuchen die eine Vorlesung, die andere auch wieder nicht.
Hanna beneidet sie nicht um ihre Freiheit. Sie kann sich kaum an das Leben vor den Kindern erinnern. [...] "Manche beneiden uns, lustigerweise", sagt Hanna mit ihrem kleinen Lächeln. "Sie finden es gut, dass wir das so gemacht haben und wie wir leben. Sie haben keine Beziehungen, denen sie das zutrauen würden. Oder sie haben überhaupt keine Beziehungen." Denn es ist immer schwerer geworden, eine Liebe zu leben, die allen Ansprüchen gerecht wird.

Gabriela Herpell, "Glücklich, übrigens", in: Süddeutsche Zeitung vom 13. April 2007

Eine zentrale Ursache liegt darin, dass Familie und Kinder wegen der hohen zeitlichen und psychischen Anforderungen, die damit verbunden sind, zum Engagement in anderen Lebensbereichen in harter Konkurrenz stehen - und umgekehrt. Menschen sehen sich einer ständig zunehmenden Zahl verlockender Konsumangebote und "konkurrierender Genüsse" (nach Brentano) gegenüber. Menschen engagieren sich auch beruflich und streben nach ausreichenden Einkommen, um sich die angebotenen Genüsse, wie im Übrigen auch eine Familie, erst leisten zu können. Die Berufstätigkeit hat heute für Männer und Frauen einen hohen Stellenwert. Individuelle wirtschaftliche Unabhängigkeit, die vormals am ehesten den Männern vorbehalten war, ist heutzutage auch für Frauen bedeutsam und wird von ihnen verwirklicht. In Ostdeutschland ist diese biographische Normalität schon seit DDR-Zeiten etabliert.

Wunsch und Wirklichkeit der familiären Aufgabenverteilung

Der US-Ökonom Gary S. Becker stellt in seiner These der Opportunitätskosten fest, dass die Zeit, die für Kindererziehung aufgebracht wird, kostenträchtig ist. Sie gehe zu Lasten der Zeit für mögliche Erwerbsarbeit (von Frauen) und führe zu Beschränkungen beim Einkommenserwerb. Je höher das Einkommen, das eine Frau, die bislang in der Regel die Kinderziehung übernimmt, verdienen könnte, desto weniger attraktiv sei es für sie, Kinder zu haben.

Ist frau einmal für längere Zeit aus dem Beruf ausgeschieden, fällt der Wiedereinstieg oft schwer oder ist häufig mit Einkommenseinbußen und beruflichen Abstiegen verbunden. Gut ausgebildete Frauen sind oftmals weniger bereit und in der Lage, viel Zeit für Kinder aufzubringen. Sie haben daher weniger Kinder oder verzichten häufiger ganz auf sie als Frauen, deren Einkommensmöglichkeiten beschränkt sind. Mindestens wollen sie so lange warten, bis sie gut im Beruf etabliert sind und die Risiken eines zeitweiligen, möglichst kurzen Ausstiegs beschränkt bleiben. Nicht nur längere Ausbildungszeiten, auch dieser Aspekt trägt zum Aufschub der Familiengründung bei.

Männer achten inzwischen ebenso zunehmend darauf, dass eine Familiengründung ihre beruflichen Chancen nicht zu sehr schmälert und ihr Engagement im familialen Haushalt mit dem Berufsalltag vereinbar ist. Früher, als die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern klar geregelt war, förderte die Familiengründung ihre berufliche Karriere eher als dass sie sie behinderte. In dem Maße, indem Männer aber gleichberechtigt bei der Familienarbeit beteiligt sein sollen, könnte auch für sie Elternschaft unattraktiver werden, weil sie mehr Zeit in die Familie investieren müssen.

QuellentextKinderlos aus Lebensangst?

Je nervtötender die Forderung durch die Medien tönt, die Kinderlosen mögen endlich für die Zukunftssicherung des deutschen Volkes zur Zeugung schreiten, desto abschreckender wird diese Vorstellung. Ich kann das in diesem Fall sogar verstehen. Die Nebenwirkung der wiederkehrenden familienpolitischen Hysterie ist, dass Kinder als Problem wahrgenommen werden. Als etwas, was Zeit und Geld kostet, das unsexy macht, unfrei. Gerade Männer bekommen den Eindruck, der Spaß des Lebens sei mit dem ersten Kind schlagartig vorbei.[...]
Die Zahl der kinderlosen Männer ist höher als die der kinderlosen Frauen, zumindest in der Generation der 35- bis 40-Jährigen. Egoismus spielt da sicher eine Rolle, falsch verstandene Selbstverwirklichung, die den Porsche, Freizeit oder die Arbeitswut als wertvoller ansieht. Entscheidender ist aber ein anderes Phänomen. Es erklärt, warum gerade jene Männer (und auch Frauen) seltener Kinder kriegen, die es sich eigentlich leisten könnten. "Gute Gründe, keine Kinder zu bekommen, gibt es natürlich. Manche wollen, viele können keine bekommen, andere finden keinen Partner. Das ist alles wahr und legitim", schrieb Bernd Ulrich [...] Anfang 2005 in der Zeit. "Aber allgemein gesprochen und soziologisch, lautet die Antwort auf die Frage, warum Akademiker in Deutschland keine Kinder bekommen: Sie leiden unter einer bedrückenden Lebensängstlichkeit, die nicht im Materiellen wurzelt." Die These wird vom Ergebnis der rund 20000 Tiefeninterviews gestützt, die das Kölner Forschungsinstitut Rheingold geführt hat. [...]
Die biologische, soziale und moralische Notwendigkeit, Nachwuchs zu zeugen, wird keine Reform, keine Ideologie überwinden können. Das gilt auch für die Tatsache, dass die Frauen einen großen Teil der Erziehungs- und Versorgungsarbeit übernehmen. Trotzdem sollten Männer ihren Anteil daran vergrößern. Das sagt die Forschung, das sagt die Vernunft, das sagen nicht zuletzt alle Väter, die es ausprobiert haben. Aber jene Frauen, die männliche Erziehungsverweigerung beklagen, sollten sich ehrlich hinterfragen, ob sie den Hausmann wirklich wollen. Das Männerbild in dieser Gesellschaft ist ein anderes. Und daran sind weiß Gott nicht nur die Männer schuld. Dieselbe Brigitte, die ihren Leserinnen wider alle Vernunft suggeriert, es sei problemlos möglich, als Frau vier Kinder groß zu ziehen und gleichzeitig einen Konzern zu leiten, findet nichts weniger sexy als Männer, die Socken waschen. Zugleich propagieren Männer-Zeitschriften, es sei für ihre Leser noch mit Mitte Vierzig wirklich wichtig, mit Waschbrettbauch jungen Ladies nachzustellen. "Kinder sind was für Verlierer" heißt die unterschwellige Botschaft - oder nehme ich Werbung, Zeitschriftenschlagzeilen und Klima in diesem Land falsch wahr?
[...] Schön wäre es, wenn die nächste Familiendebatte sich mal ausnahmsweise nicht um Finanzfragen, faule Mütter und egoistische Männer drehte, sondern um Kinder. Und dass diese nicht nur als Problem auftauchen, als Risikofaktor, sondern als das Beste, was einem Menschen - auch einem Mann - passieren kann. [...]

Tobias Kaufmann, "Die Angst vor dem Leben", in:FrauenRat 3/06, S. 26f.

Kinder und Beruf lassen sich aber durchaus vereinbaren, wenn die Kinderbetreuung zum Teil von anderen Personen, Kinderkrippen und Kindergärten übernommen wird. Dafür sind dann allerdings mehr oder weniger hohe finanzielle Beiträge aufzubringen.

Mehr Betreuungsplätze für Kinder unter 3 Jahren

So eindeutig, wie es die These von den Opportunitätskosten suggeriert, ist die Sache also nicht. Ein guter Beruf und ein gutes Einkommen von Männern und Frauen kann die Familiengründung unterstützen und vor Armut schützen. Voraussetzung dafür ist, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Lebensplanung von Menschen fördern, in der Familie und andere Bereiche des Lebens wie Arbeit, öffentliches Engagement und Freizeit miteinander vereinbar sind.

In der Bundesrepublik, vor allem in Westdeutschland, ist im Vergleich zu manchen anderen Staaten ein besonders hohes Maß an "struktureller Rücksichtslosigkeit" der Gesellschaft gegenüber der Familie festzustellen, wie es der Soziologe Kaufmann nennt. Sie macht das Vereinbarkeitsmodell aufwändig, teuer oder nur schwer einlösbar. In nahezu allen Bereichen der Gesellschaft gibt es Regelungen, die einer reibungslosen Familienorganisation entgegenstehen: die geringe Verfügbarkeit von Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren, fehlende Ganztagsplätze in Kindergärten, unregelmäßige und vergleichsweise kurze Schulzeiten, fehlende Ganztagsschulen, zu unflexible Arbeitszeiten, familienunfreundliche Öffnungszeiten von Institutionen und Behörden, eine familienunfreundliche Infrastruktur im Verkehr und in anderen Bereichen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Andere Wohlfahrtsstaaten bieten erfolgreich Lösungen an, die es ihren Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, Beruf und Familie miteinander zu verknüpfen. Die international vergleichenden Zahlen belegen das.

Neben den wirtschaftlichen und strukturellen Bedingungen der Familiengründung muss besonders berücksichtigt werden, dass Menschen eine Elternschaft nicht nur und unter Umständen auch gar nicht rational abwägen. Emotionen, Werthaltungen, familienbezogene Einstellungen und Ansprüche, die auch auf Meinungen und Überzeugungen im eigenen Elternhaus zurückgehen, sind von großer Bedeutung. Sie begründen unter Umständen schon frühzeitig Lebenspläne, so genannte Lebensskripte, der jungen Menschen, in denen eine Familie eine große oder eine weniger große Rolle spielt. Die britische Soziologin Catherine Hakim spricht von "lifestyle preferences" und unterscheidet am Beispiel von Frauen drei Gruppen. Die erste Gruppe (home-centered) verfolgt von vorneherein eine Familienkarriere und legt weniger Wert auf eine Karriere im Beruf, die zweite Gruppe (work-centered) strebt das Umgekehrte an. Die dritte und mit Abstand größte Gruppe von Frauen (adaptive) sucht beides miteinander zu verbinden. Hakims Forschungen aber auch andere lebenslaufbezogene empirische Analysen belegen, dass familienfreundliche Werteinstellungen und traditionelle Geschlechtsrollenorientierungen zu einem höheren Kinderwunsch, einem früheren Start in eine eigene Familie und zu einer höheren Kinderzahl beitragen. Interessanterweise gibt es kaum entsprechende Untersuchungen für Männer.

Dabei ist zu beachten, dass sich bei der Frage nach eigenen Kindern in der Regel zwei Menschen einig sein müssen. Es spricht viel dafür, dass ein Teil der in den letzten Jahrzehnten zunehmenden Kinderlosigkeit darauf zurückzuführen ist, dass junge Menschen Paarbeziehungen heute schneller wieder beenden und eine wachsende Zahl von ihnen längere Zeit nicht mit einem Partner zusammenlebt. Doch auch wenn letzteres der Fall ist, müssen beide Lebenspartner "mitspielen". Dazu gehören Gespräche über den Kinderwunsch und über den Zeitpunkt, zu dem der Nachwuchs kommen soll. Differenzen oder Widersprüche in wichtigen, den Nachwuchs betreffenden Wertvorstellungen und Meinungen stehen der Verwirklichung von Kinderwünschen im Wege. Studien zeigen, dass dabei paarinterne Machtkonstellationen nicht unbedeutend sind. Frauen mit einer besseren beruflichen Position können sich eher mit ihren Auffassungen zur Familienplanung durchsetzen bzw. eher einem dominanten männlichen Partner dieStirn bieten.

Die Kinderlosigkeit dürfte bei den Frauen der Geburtsjahrgänge, die nach 1960 geboren worden sind, deutlich über 20 Prozent liegen. Es ist unklar, wie hoch dabei der Anteil der ungewollt Kinderlosen ist. Die Unterscheidung zwischen gewollt und ungewollt Kinderlosen ist sehr schwer zu treffen, weil die Einstellung dem Kinderwunsch gegenüber sich im Verlauf des Lebens ändern kann. Kinderlosigkeit ist somit das Ergebnis eines Prozesses, dessen Ausgang selten von vorneherein bestimmt war, aber auch durch den erwähnten "Verschiebebahnhof" gefördert wird. Menschen, die sich ursprünglich Kinder wünschten, sind mit zunehmendem Alter weniger bereit, von ihrem einmal erreichten Lebensstil abzuweichen und sich noch auf das Abenteuer Familie einzulassen ("Gewohnheitseffekt").

Warum Kinderwünsche unerfüllt bleiben

Der Verzicht auf Kinder kann auch deshalb unfreiwillig sein, weil mit zunehmendem Alter von Frauen und Männern das Risiko einer eingeschränkten Empfängnis- und Zeugungsfähigkeit (Subfekundität oder Infertilität und Sterilität) steigt. Der technische Fortschritt in der Reproduktionsmedizin ist zwar enorm vorangeschritten. Samenbanken erlauben eine Schwangerschaft, auch wenn der Mann zeugungsunfähig ist. Dennoch sind die Erfolgsquoten bei gleichzeitig sehr hohen Kosten und einer enormen psychischen Belastung, die mit einer reproduktionsmedizinischen Behandlung einhergehen, relativ gering.

Als Fazit bleibt, dass es in Deutschland im Hinblick auf die Kinderzahl eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit gibt. Sie dürfte umso größer sein, je höher das Bildungsniveau der Frauen und Männer ist. Doch darf nicht vergessen werden, dass bis heute auch Männer mit einem sehr niedrigen Ausbildungsniveau zu einem vergleichsweise hohen Anteil kinderlos bleiben, weil sie nicht die Gewähr bieten, eine Familie ernähren zu können.

(In)Stabilität von Familien

Ein Kennzeichen des Wandels der Familie ist, dass Paarbeziehungen im Allgemeinen und solche, in denen Kinder leben, häufiger auseinanderbrechen als früher. Die Scheidungsraten sind hoch und steigen weiter. Sie haben dazu beigetragen, dass nichtkonventionelle Lebensformen auch in den späteren Lebensphasen an Bedeutung gewonnen haben. Scheidungen können den Start ins Alleinleben oder Alleinerziehen bedeuten oder in die Bildung so genannter Fortsetzungsfamilien (Stieffamilien) münden, mit denen wiederum alternative, mitunter sehr komplexe Formen von Elternschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen einhergehen.

Eine prominente These, mit der die Instabilität von Ehen begründet wird, hat die Familiensoziologin Rosemarie Nave-Herz formuliert. Sie ist als Emotionalisierungsthese bekannt und klingt auf den ersten Blick paradox. Gerade weil romantische Liebe und emotionale Motive für die Paarbildung ausschlaggebend geworden sind und das partnerschaftliche Zusammenleben oder eine Ehe erstrebenswert machen, sind - so besagt die These - Ehen instabiler geworden. Auf der einen Seite sind die persönlichen Ansprüche an die emotionale Qualität der Beziehung gestiegen. Emotionale Bande sind aber auf der anderen Seite eine unsichere Basis für eine Beziehung, wenn mit zunehmender Beziehungsdauer die romantische Liebe einer nüchterneren Betrachtung des Partners Platz macht und die Toleranz gegenüber dessen Verhalten sinkt.

QuellentextEhe-Experten im Gespräch

DIE ZEIT: Frau Gidion, Frau Klein, Herr Marry, Sie alle haben mit Ehepaaren in verschiedenen Stadien zu tun - bei der Hochzeit, in der Krise, vor der Scheidung. Raten Sie zur Ehe?
Anne Gidion, 36, Pastorin in Hamburg: Ja, wenn Menschen so weit sind, dass sie sich mehr oder weniger exklusiv füreinander entschieden haben. Dann sage ich: Traut es euch doch! [...]
Anne Klein, 53, Scheidungsanwältin und Notarin: [...] Noch vor wenigen Monaten hätte ich zumindest jungen Frauen mit Kinderwunsch zugeraten, weil der Ehevertrag des Familienrechtsgesetzbuchs doch einige Sicherheiten für Mütter und Ehefrauen geboten hat. Inzwischen, nach der Reform des Unterhaltsrechts?
ZEIT: ?die finanzielle Ansprüche von geschiedenen Ehepartnern begrenzt?
Klein: ?bin ich eher skeptisch und denke, dass die Ehe, zumindest materiell betrachtet, fast keinerlei Vorzüge für Frauen mehr hat. Eher im Gegenteil. Dank ihrer Gebärfähigkeit sind die Frauen Kern der Familie, was sie zu einer neuen Doppelrolle verdammt: grundsätzliche Eigenverantwortung plus Verantwortung für die von ihnen gewünschten Kinder. Die Verantwortung des Mannes tritt in den Hintergrund.
Edouard Marry, 61, Diplom-Psychologe: [...] Fakt ist: Trotz der sehr hohen Scheidungsraten heiraten die Leute. Es gibt eine Zeit, in der die Ehe sehr schön ist, und es gibt eine Zeit, in der sie fürchterlich ist. Die Frage ist, ob man durch diese Zeit zusammen hindurchgeht. Ich mache die Erfahrung: Man kann aufhören und neu anfangen, aber dann sitzt man vier Jahre später wieder bei mir in der Therapie, mit einem anderen Partner und demselben Problem.
Gidion: [...] Als Pfarrerin erlebe ich Menschen, bevor sie sich entscheiden oder wenn sie entschieden sind und nun über die Gestaltung der Hochzeit nachdenken. Und da hat sich etwas verändert: Kein Mensch muss heute mehr heiraten, weder aus rechtlichen noch aus moralischen oder religiösen Gründen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen sich mit der Ehe eine Art von magischem Schutz geben wollen. Und viele Paare wollen noch einmal blühen; die meisten heiraten nicht zu Beginn ihrer Beziehung, es ist kein Initiations-, sondern mehr ein Vergewisserungsritual. [...]
ZEIT: Soll der Staat die Ehe schützen oder nur die Kinder? Dann müsste beispielsweise das Ehegattensplitting verändert werden.
Klein: Ich halte die Institution Ehe an sich nicht für schützenswert, sondern die Familie, also alle Beziehungen, in denen Kinder leben und erzogen werden. Alle Gesetze, die eine Unselbstständigkeit von Frauen bewirken, sollten abgeschafft werden, nicht nur das Ehegattensplitting. Wie die Binnenverhältnisse zwischen Mann und Frau geregelt werden, ist zweitrangig.
Gidion: Das sehe ich anders: Wir brauchen Schutz nicht nur für die Familie, sondern auch für die Ehe. In einer Gesellschaft, die tendenziell auseinanderfliegt, sollte der Staat es generell unterstützen, wenn Menschen sich binden und Verantwortung füreinander übernehmen. [...]
Marry: Ich bin auch dafür, dass nicht nur die Familie, sondern auch die Ehe geschützt wird. Aber in erster Linie sollte der Staat alleinerziehenden Müttern helfen. Besser als das Ehegatten- oder Familiensplitting fände ich deshalb ein Erziehungsgehalt, das jeder bekommt, der Kinder erzieht. [...]

Das Gespräch führten Tina Hildebrandt und Elisabeth Niejahr

"Viele Paare wollen noch einmal blühen", in: Die Zeit Nr. 39 vom 20. September 2007

Die Ehestabilität hängt somit immer stärker davon ab, wie hoch für einen oder für beide Partner die wahrgenommene Qualität ihrer Beziehung ist, aber auch wie attraktiv im Vergleich dazu das Alleinleben oder die Beziehung zu einem anderen Partner bewertet werden. Es ist unmittelbar einsichtig, dass homogame Ehen stabiler sind, als Ehen von Partnern, die sich in wichtigen Eigenschaften unähnlich sind oder verschiedene Auffassungen zu zentralen Themen der Beziehung haben. Es verwundert dann auch nicht, dass früh geschlossene Ehen eher wieder geschieden werden als Ehen zwischen älteren Partnern, deren biographische Perspektiven weitgehend geklärt sind. Die Dauer der Beziehung spielt ebenso eine Rolle. Individuelle Erfahrungen anderer Art scheinen auch wichtig zu sein. Kinder geschiedener Eltern unterliegen selbst eher einem höheren Scheidungsrisiko als Nachkommen von Eltern, die ihr Leben lang zusammengeblieben sind. Zweit- und Drittehen sind instabiler als Erstehen.

Im Gegensatz zu individuellen eher psychologischen Faktoren spielen ökonomische Hindernisse und Zwänge für eine Scheidung eine immer geringere Rolle. Die Partner, insbesondere die Frauen, sind wirtschaftlich unabhängiger und damit auch weniger aneinander gebunden. Die Forschung bestätigt, dass Ehen, in denen beide Partner vollerwerbstätig sind, einem höheren Scheidungsrisiko unterliegen als Ehen, in denen das nicht der Fall ist. Das gilt auch für Ehepaare, bei denen die Frau ein höheres Bildungsniveau hat als der Mann; generell belegen lässt sich dagegen nicht, dass sich hochqualifizierte Partner eher scheiden lassen als weniger gut ausgebildete Partner. Umgekehrt sind Ehen, in denen viel gemeinsamer Besitz vorhanden ist ("ehespezifisches Kapital"), zum Beispiel ein gemeinsames Haus, weniger scheidungsanfällig.

Die sozialen Lebensbedingungen sind ebenfalls für die Dauer von Ehen wichtig. Partner mit einem größeren gemeinsamen Freundeskreis lassen sich vergleichsweise seltener scheiden. Vor allem Paare mit gemeinsamen Kindern sind besser gegen ein Scheitern ihrer Ehe gefeit als kinderlose Ehepaare. Bei alledem muss man allerdings berücksichtigen, dass in befriedigende und daher vermutlich stabilere Beziehungen auch mehr investiert wird. Paare, die mit ihrer Beziehung zufrieden sind, haben auch eher ein gemeinsames Haus, gemeinsame Kinder oder ein gut funktionierendes soziales Umfeld. Der Wirkungszusammenhang ist also wechselseitig.

Die Zunahme der Scheidungshäufigkeit geht mit einem kulturellen Wandel einher. Die Vorstellungen zu Ehe und Familie sind immer weniger durch traditionelle und religiös begründete Normen geprägt. Unter den Konfessionslosen ist die Scheidungsrate sehr viel höher als beispielsweise unter den Katholiken. Ehen von Großstädtern weisen ein höheres Scheidungsrisiko auf als Ehen von Personen aus ländlichen Regionen, was darauf beruht, dass kulturelle Barrieren und die soziale Kontrolle in den anonymeren sozialen Strukturen der Städte weniger stark sind. Die Scheidung ist heute aber landesweit ein normaler Vorgang und wird in unserer Gesellschaft nicht mehr sozial geächtet.

Dazu haben nicht zuletzt die Reformen des Scheidungsrechts beigetragen. Sie haben Scheidungen vereinfacht und erleichtert und damit gleichzeitig deren weitere Enttabuisierung befördert. Während die entscheidende Gesetzesänderung, die das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzte, in der alten Bundesrepublik erst im Jahr 1976 vorgenommen wurde, war dieses in der DDR im Familiengesetzbuch bereits 1965 erfolgt.

Je mehr Paare außerhalb der klassischen Ehe zusammen leben, umso stärker geraten neben den Scheidungen auch Trennungen zwischen unverheirateten Partnern in den Blick. Generell trennen Nichtverheiratete sich mit einer deutlich größeren Wahrscheinlichkeit als Verheiratete. Für diesen Fall gibt es keine gesetzlichen Regelungen. Das Paar kann diesem Umstand mit einem notariell beglaubigten Partnerschaftsvertrag begegnen, in dem das Paar wichtige Aspekte des Verhältnisses zueinander, aber auch gegenüber der Außenwelt verabreden, Eigentumsverhältnisse festgelegen und Vereinbarungen für den Fall der Auflösung der Lebensgemeinschaft treffen kann.

Von Scheidungen ist eine bis 2001 zunehmende, danach aber maßvoll zurückgehende Zahl von minderjährigen Kindern betroffen, im Jahr 2007 waren es etwa 145 000. Die Zahl der Kinder, deren unverheiratete Eltern sich pro Jahr trennen, ist unbekannt.

Trennungen bzw. Scheidungen gehen an Kindern nicht spurlos vorüber. Die Folgen dieses Ereignisses sind darüber hinaus von den Auswirkungen der neuen familiären Lebensbedingungen (Ein-Eltern-Familie, Stiefelternfamilie) auf die Entwicklung der Kinder zu unterscheiden. Eine Scheidung führt oft zu einer Verschlechterung der materiellen Situation und/oder zu wirtschaftlichem Abstieg - vor allem für die Mütter mit den meist bei ihnen verbleibenden Kindern. Allein dies beeinträchtigt die Entwicklungsbedingungen, das Wohlbefinden und den Bildungserfolg der Kinder. Umstritten ist, welche Auswirkungen die Scheidungserfahrung allein hat. Soziologische Studien, die den sozialstrukturellen Hintergrund der Eltern berücksichtigen, zeigen, dass das Wohlbefinden von Kindern im Schulalter nachweisbar gestört wird, wenn es nach der Scheidung anhaltende Konflikte zwischen den Eltern gibt. Kam es in der elterlichen Beziehung bereits vor der Scheidung oder Trennung häufig zu Auseinandersetzungen oderStreit, kann eine Trennung der Eltern dagegen das Wohlbefinden und die Entwicklung des Kindes sogar fördern.

Familienpsychologische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder aus Scheidungsfamilien im Vergleich zu anderen Kindern eher Verhaltensauffälligkeiten, psychosomatische Störungen, Schulprobleme und "unterlegenes" Sozialverhalten zeigen. Auch diese Unterschiede können in erster Linie auf andere Faktoren, wie etwa die schwierige wirtschaftliche Lage der Scheidungsfamilie, zurückgeführt werden. Ebenso ist das Alter der Kinder entscheidend dafür, wie sie den Scheidungsprozess verarbeiten.

Die Vorgeschichte und der Verlauf des Trennungsprozesses sind also von großer Bedeutung, und die sozialen Kompetenzen der Eltern spielen eine wesentliche Rolle. Wichtig scheint aus der Sicht der Kinder zu sein, dass ihre Eltern zu einvernehmlichen Vereinbarungen gelangen, dass sie darin unterstützt werden, die neue Statuspassage zu bewältigen, und dass sie nicht in Loyalitätskonflikte gestürzt werden. Das gilt auch dann, wenn das Elternteil, bei dem die Kinder leben, eine neue Paarbeziehung eingeht.

Zwischenfazit

Die Familie ist nach wie vor für die meisten Menschen und für die Gesellschaft eine unverzichtbare Institution und damit höchst erstrebenswert. Sie steht weiterhin im Zentrum gesellschaftlicher Entwicklung. In ihr gewinnen Individuen die ersten grundlegenden Erfahrungen mit der Gesellschaft, dort bilden sie sich zu handlungsfähigen Akteuren mit eigenen Vorstellungen und Orientierungen heran. Familien stellen somit einen wichtigen sozialen Rahmen für Kontinuität und Wandel in einer Gesellschaft dar.

Familie hatte immer schon einen Doppelcharakter: als private Lebensorganisation, in der die Menschen Glück und Geborgenheit suchen, ihren Alltag gemeinsam organisieren und für einander einstehen, und außerdem als zentrale gesellschaftliche Institution, die im Sinne kollektiver Ziele (und mit der Schaffung von Grundrechten auch individueller Rechte) beeinflusst wurde. Dies geschah und geschieht im Rahmen von Familienpolitik.

ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt "Theorie und Empirie der Sozialstruktur" am Institut für empirische und angewandte Soziologie der Univer-sität Bremen. Seine Forschungsgebiete sind die Sozialstruktur-forschung und die Soziologie des Lebenslaufs, insbesondere die Soziologie der Familie und der Lebensformen.

Kontakt: huinink@embas.uni-bremen.de