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Russland-fremder Nachbar im Osten? | Russland | bpb.de

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Russland-fremder Nachbar im Osten?

Hans-Henning Schröder

/ 3 Minuten zu lesen

Matrioschkas - aus Holz gefertigte und bunt bemalte, ineinander schachtelbare, eiförmige Puppen - sind weltweit als russische Souvenirs beliebt. (© Wikimedia)

Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen", schrieb der russische Diplomat und Dichter Fjodor Tjutschew im Jahre 1866. Und im Oktober 1939 bekannte Winston Churchill, damals Großbritanniens Erster Seelord, er könne die Handlungsweise der Sowjetunion nicht voraussagen, sie sei "ein Rätsel, umhüllt von einem Mysterium, verborgen in einem Geheimnis".

Beide Sätze werden noch heute gern zitiert - als Entschuldigung für die Weigerung, sich mit dem großen Land, seiner Bevölkerung, seiner Sprache und seiner Geschichte ernsthaft auseinander zu setzen. Das Wissen über Russland ist meist gering, ebenso wie das öffentliche Interesse. Berichte über Russland und die anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion finden nur noch selten Platz in den Medien. Gäbe es nicht Reportagen von Journalisten wie Klaus Bednarz, Gerd Ruge und Dirk Sager, dann würde das Bild des Landes wohl aus zufälligen Meldungen über Gipfeltreffen und Korruptionsaffären gewonnen. Das ist insofern erstaunlich, als die künstlichen Barrieren, die in der Zeit der Ost-West-Konfrontation Kontakt und Kommunikation erschwert haben, gefallen sind. Informationen aus Russland sind frei zugänglich, sofern die Sprache beherrscht wird, und Reisen können heute auch in Regionen wie Workuta, Archangelsk oder Nischnij-Nowgorod unternommen werden, die früher für ausländische Personen gesperrt waren.

Was bleibt, sind Ressentiments. In dem Stück "Verstand schafft Leiden" (1824) legt der russische Dichter Alexander Gribojedow seinem Helden den Satz in den Mund: "Neue Häuser - alte Vorurteile". Vorurteile können jedoch nur durch Annäherung und Kennenlernen überwunden werden.

Russland ist nicht rätselhafter als Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. Es ist eine europäische Macht, ein Partner europäischer Politik. Seit dem 19. Jahrhundert hat das Land eine große Wegstrecke zurückgelegt, doch es ist auch einen schwierigen Pfad gegangen. Bauernbefreiung und nachholende Industrialisierung haben die innere Ordnung nach 1860 in Bewegung versetzt, die Revolution von 1917, die Errichtung der Sowjetmacht und Stalins forcierte Industriepolitik sprengten die Gesellschaft auseinander und brachten die Wirtschaft auf einen Kurs, der sich letztlich als Sackgasse erwies. Jetzt durchläuft Russland einen schmerzhaften Transformationsprozess, es kehrt auf den Entwicklungsweg zurück, den Westeuropa und die USA seit langem gehen.

Das Potenzial dazu ist hoch. Das lässt sich gerade an den Widersprüchen verdeutlichen, die die Situation des Landes kennzeichnen: Auf einem Territorium von der 47fachen Größe der Bundesrepublik Deutschland leben noch nicht einmal doppelt so viele Menschen. Russland verfügt über große Ressourcen - neben Saudi-Arabien ist es der größte Ölförderer, sein Anteil an der Weltproduktion von Erdgas beträgt 25 Prozent, bei Aluminium 15 Prozent, bei Nickel und Platin 20 Prozent -, doch das Bruttoinlandsprodukt liegt unter dem der Niederlande, während die deutsche Wirtschaftsleistung beinahe sechsmal größer ist als die russische.

In dieser Differenz zwischen Ressourcen und volkswirtschaftlicher Leistung liegt eine Entwicklungschance, die in der europäischen Zusammenarbeit aktiviert werden kann. Die Disparität macht aber auch deutlich, welche Schwierigkeiten noch zu überwinden sind. Eine bessere Kenntnis Russlands, seiner Geschichte und seiner Potenziale erleichtert es, die Probleme des Landes zu verstehen und eine realistische Vorstellung von seinen Entwicklungsperspektiven zu erhalten.