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Demokratie in Zeiten der Digitalisierung

Thorsten Thiel

/ 11 Minuten zu lesen

Politikwissenschaftler Thorsten Thiel erklärt, welchen Einfluss digitale Technologien auf die repräsentative Demokratie haben und welche Bedeutung dem Strukturwandel der Öffentlichkeit dabei zukommt. Er ruft dazu auf, die Digitalisierung aktiv mitzugestalten.

Was an der Digitalisierung verändert was an der Demokratie? (Illustration: Johanna Benz und Tiziana Beck/graphicrecording.cool) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de

Digitalisierung verändert die Demokratie. Diese Diagnose wird in Kommentaren und Leitartikeln seit Jahren gestellt, sie ist ins Alltagswissen eingewandert und lässt sich an immer neuen Beispielen von den Wahlerfolgen des "Twitter-Präsidenten" Donald Trump bis zu den diversen sozialen Bewegungen, die sich um Hashtags gruppieren, erörtern. Aber: Was an der Digitalisierung verändert was an der Demokratie? Und warum ist das Wissen um diese Veränderungen relevant für die politische Bildung?

Im Folgenden sollen die Begriffe "Demokratie" und "Digitalisierung" aufgebrochen werden, um zu zeigen, welche Aspekte digitaler Technologie und der gesellschaftlichen Phänomene, die mit ihr verknüpft sind, aus der Perspektive der Entwicklung liberaler Demokratien besonders relevant sind. Dabei soll die Chancen-und-Risiken-Rhetorik vermieden werden. Stattdessen soll ein Verständnis dafür entstehen, dass die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Demokratie am besten als dynamisches, mehrdimensionales Resultat politischen Handelns zu begreifen sind. Das heißt zugleich, dass man vor der Digitalisierung keine Angst haben, sondern sie aktiv im Sinne demokratischer Prinzipien und zur Unterstützung demokratischer Institutionen und Kommunikationsweisen gestalten sollte.

Ein paar Worte zur Digitalisierung

Wäre dieser Artikel vor zehn, fünfzehn oder gar zwanzig Jahren erschienen, so hätte er sich im Titel wohl kaum auf "Digitalisierung" bezogen. Er hätte vielmehr über das Internet und die Demokratie nachgedacht. Trotz vieler Überschneidungen ist der Wandel der Semantik interessant: zum einen, weil Diskurse über das Internet und Demokratie oftmals kommunikative Vernetzung und Globalität positiv in den Vordergrund stellen, Digitalisierung hingegen einen eher wirtschaftlichen Impetus hat und stärker verwoben ist mit Aspekten wie Souveränität und Kontrolle.

Zum anderen, weil Digitalisierung ein wesentlich umfassenderes (und auch älteres) Konzept darstellt. Die Vorstellung, dass am Digitalen vor allem die Dimension kommunikativer Vernetzung revolutionär ist, muss sich heute den Rang mit der Erkenntnis teilen, dass die kontinuierliche Abbildung der Welt in digitalen Daten sowie deren algorithmische Verarbeitung ebenso einschneidend auf Gesellschaft und Politik wirkt. Auch die Unterscheidung zwischen online und offline, kennzeichnend für den früheren Internet-Diskurs, verliert im Zuge dieser Umstellung an Bedeutung; Digitalisierung ist immer und überall.

Thorsten Thiel (© Esra Eres/Weizenbaum Institut)

Will man Digitalisierung und ihre Folgen debattieren, so ist wichtig, dass man sich der Macht dieses Begriffs, seiner Totalität, nicht ergibt. Digitalisierung als einheitliche und von außen auf Gesellschaft wirkende Kraft unterschlägt, dass abseits der technischen Form das eigentlich wichtige die Ebene realisierter Konzepte - etwa sozialer Netzwerke, Smartphones oder das Internet der Dinge - oder gar die konkrete Umsetzung ist. Digitalisierungsprozesse lassen sich nur in ihrer Verwobenheit mit sozialen Normen und gesellschaftlichem Handeln sinnvoll diskutiere.

Mit dieser analytischen Vorbemerkung also hinein in die konkrete Frage, was die digitale Konstellation für die Demokratie bedeutet. Zwei Themenblöcke sollen hier angeschnitten werden: Der unmittelbare Kontext des Formwandels repräsentativer Politik und der mittelbare Kontext der digitalen Transformation von Öffentlichkeit (ausführlicher: ).

Zum Formwandel repräsentativer Politik

Wahlen werden oft als das Herzstück der Demokratie bezeichnet. In ihnen vollzieht sich die Mehrheitsbildung wie die Kontrolle der Repräsentierenden. Wenig überraschend waren Wahlen bzw. das Wählen daher auch einer der ersten Aspekte, der in der Debatte über den digitalen Wandel der Demokratie seit den 1990er-Jahren aufgerufen wurde. Die ursprüngliche Erwartung lautete, dass Digitalisierung durch die Unmittelbarkeit von Datenübertragung und -auswertung neue Möglichkeiten demokratischer Beteiligung hervorbringen würde: häufigere oder komplexere Abstimmungen, mehr direktdemokratische Elemente, dazu das Versprechen sich ausweitender Beteiligung durch bequemer integrierbare Abläufe und eine allgemein höhere Informiertheit der Bürger und Bürgerinnen.

Diese Erwartungen wurden in weiten Teilen enttäuscht. Daran zeigt sich exemplarisch, was schieflaufen kann, wenn man Digitalisierung zu einseitig versteht: Der Akt des Wählens ist kein so akutes Problem der Demokratie, als dass es hier dringend einer Lösung bedurft hätte. Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von Problemen mit digitalem Wählen (angefangen bei technischen Aspekten wie der Geheimhaltung und Nachvollziehbarkeit) und ein Mehr oder Häufiger an Wählen bedeutet nicht automatisch ein Mehr an Demokratie. Die Intensivierung von Beteiligungsoptionen verstärkt vielmehr oftmals Ungleichheiten – zum Beispiel weil Partizipationsmöglichkeiten seitens ressourcenstarker Akteure überproportional genutzt werden. So kann ein scheinbares Mehr an Partizipation auch Enttäuschung und Polarisierung befördern, etwa wenn die Komplexität konkreter Politik in Spannung zu Beteiligungsverfahren gerät – was etwa in kommunalen Versuchen, digitale Beteiligungsmöglichkeiten zu integrieren, oft zu Tage tritt. Dies heißt nicht, dass Innovationen am bestehenden System demokratischer Willensübermittlung unnötig wären, wohl aber, dass sie aus der Abwägung und Aushandlung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Problemlagen gedacht werden müssen - nicht vom Entstehen technischer Möglichkeiten her.

Professionalisierung der Zivilgesellschaft

Zweitens verdeckte der Fokus auf Wahlen und Beteiligungsmöglichkeiten lange, dass ein viel weitreichender Formwandel der repräsentativen Demokratie im Gange ist. Dieser wird durch die Entwicklung unserer digitalen Gegenwart noch einmal entschieden verstärkt: die Rekonfiguration des Verhältnisses von Repräsentierenden und Repräsentierten.

Auf Seite der Repräsentierten kommt dies etwa in der Professionalisierung der Zivilgesellschaften zum Ausdruck, in der Ausweitung von Transparenz- und Responsivitätsforderungen (also dem Wunsch von Bürgern und Bürgerinnen nach unmittelbaren politischen Reaktionen) oder einem umfangreichen Petitionswesen – alles Elemente, die durch digitale Möglichkeiten dezentraler Koordination oder der Analyse großer Datenmengen besonders gestärkt werden; versinnbildlicht etwa im Erfolg von Kampagnenplattformen (etwa Externer Link: Campact, Externer Link: Avaaz). Auf die demokratischen Institutionen wächst so der Druck ansprechbar und rechenschaftspflichtig zu sein, sprich: mehr Schnittstellen zu etablieren als Wahlen und die Beobachtung der öffentlichen Meinung.

Auch die Seite der Repräsentierenden verändert sich. Ein Beispiel hierfür ist der Wandel von Parteien. Deren interne Struktur spiegelt in auffälligem Maße die dominante Form öffentlicher Kommunikation. So haben sich Parteien in der Blütezeit des linearen Fernsehens stark an einer Gruppe von Spitzenpolitikern und -politikerinnen ausgerichtet, die Bedeutung der Parteibasis für die Organisation von Stimmen ging zurück. In der Gegenwart hingegen sehen wir einen Trend zu einer stärkeren inhaltlichen Bestimmung von Themen durch aktivistische Teile der Parteibasis, was seinen vielleicht deutlichsten Ausdruck im Entstehen von Plattformparteien findet – in Deutschland etwa die (kurzlebige) Piratenpartei, international das Movimento 5 Stelle (Italien) oder Podemos (Spanien).

Eine weitere Facette dieses Wandels zeigt sich darin, dass im Kontext kommerzialisierter sozialer Netzwerke Anreize entstehen, Politik immer kleinteiliger und gezielter zu kommunizieren (Micro-Targeting). Dieses Zuschneiden und Isolieren geht einher mit einem Verlust des Kompromisscharakters demokratischer Politik, einem Verzicht auf inklusive Lösungen zugunsten der Manipulation der Wahrnehmung von Politik – man denke etwa an die extreme Polarisierung der amerikanischen Politik.

Wobei auch hier anzumerken ist, dass diese Tendenz weniger zwingend ist, als es Skandale wie jener um die Datenanalysen des Unternehmens Interner Link: Cambridge Analytica im US-Wahlkampf suggerieren. Die Möglichkeiten der Datensammlung, -auswertung und -nutzbarmachung hängen doch sehr deutlich von rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen - etwa dem Datenschutz oder dem Geschäftsmodell der Plattformen - ab. Unsere heutige Ausprägung der digitalen Konstellation ist eher durch eine unübersichtlich große Vielfalt von sehr unterschiedlich genutzten Möglichkeiten geprägt als durch eine generelle Verengung demokratischer Handlungsräume. Daher ist es wichtig, die Widerstandsfähigkeit demokratisch kompetenter Bürger und Bürgerinnen ebenso wie die Pluralität des Medienkonsums zu schützen und zu fördern.

Alternative Formen politischer Steuerung

Ein dritter Aspekt sei noch erwähnt, der an das Gesagte anschließt, den Formwandel aber gewissermaßen überwölbt: die Veränderungen politischer Steuerungsweisen und Herrschaftsformen. Unsere Vorstellung von Demokratie ist eng verbunden mit der Steuerung durch das Recht, die Formulierung allgemeiner Gesetze, deren Sicht- und Anfechtbarkeit sowie die gleichmäßige Anwendung über alle Bürger und Bürgerinnen hinweg. In der digitalen Gesellschaft nimmt die Vielfalt wie die Effektivität alternativer Steuerungsmechanismen rapide zu. Zunehmend werden unser Handeln und Verhalten automatisiert erfasst und klassifiziert, Sanktionen können unmittelbarer, unsichtbarer und auch für das Individuum weniger nachvollziehbar durchgesetzt werden. Die Erwartung, dass dies Politik effizienter und schneller macht, wird insbesondere mit Blick auf den Bereich der öffentlichen Sicherheit artikuliert – Stichwort: Videoüberwachung und Gesichtserkennung. Sie lässt sich aber auch in weiteren Bereiche beobachten, etwa bei der Kontrolle von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Noch drastischer ist das Beispiel des chinesischen Interner Link: Social-Credit-Systems, wo zumindest dem Anspruch nach sehr weitreichend Verhaltensweisen erfasst, bewertet und einer umfassenden Sanktionierung – oft auch durch die Veränderung von Angebotsstrukturen (z. B. Premiumleistungen) – zugänglich gemacht werden. Bezüglich all dieser Entwicklungen wird die Frage nach der Legitimationsfähigkeit alternativer Steuerungsformen zu stellen sein.

Der digitale Strukturwandel von Öffentlichkeit

Digitale Technologien verändern Öffentlichkeit. (Illustration: Johanna Benz und Tiziana Beck/graphicrecording.cool) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de

Neben den skizzierten unmittelbaren Veränderungen im demokratischen Prozess bekommt noch ein zweiter Bereich große Aufmerksamkeit, wenn es um Digitalisierung und Demokratie geht: der Strukturwandel von Öffentlichkeit. Öffentlichkeit(en) können durch zentrale Merkmale digitaler Kommunikation anders strukturiert, vor allem auf einen permanenten und wechselseitigen Austausch hin angelegt werden. Digitaltechnologie erlaubt nicht nur eine umfassende und ortsunabhängige Vernetzung, sondern auch die hochgradige Differenzierung und Individualisierung von Informationen. Weil digitale Daten immer wieder neu und anders ausgewertet werden können, weil Kommunikation sich synchron wie asynchron, geschlossen in Gruppen oder prinzipiell unbegrenzt – etwa auf Twitter - vollziehen kann und weil alles Gesagte und Geschriebene unmittelbar und automatisiert eingeordnet und dargestellt wird, stellen die heutigen Netzwerköffentlichkeiten einen qualitativen Bruch mit früheren Öffentlichkeitsformationen dar, auch wenn diese natürlich daneben fortbestehen und verschlungen bleiben.

Repolitisierung der Demokratie oder Fragmentierung und Polarisierung?

Mit Demokratie wird dieser Wandel von Öffentlichkeit zumeist in der Weise verbunden, dass eine bestimmte Form von Öffentlichkeit als Bedingung für Demokratie präsentiert wird: Entweder in der Variante, dass Demokratie einer aktiven und lautstarken Öffentlichkeit bedarf, oder in der Vorstellung, dass Öffentlichkeit in einer bestimmten Weise geeint und aufeinander bezogen zu sein hat.

Für eine aktive Öffentlichkeit spricht neben der Ermöglichung der sogenannten Many-to-Many-Kommunikation (also des horizontalen Austauschs einer Vielzahl von Personen untereinander) insbesondere, dass im Rückgriff auf etablierte digitale Kommunikationsformen kollektive Aktionen vom Protest (s. Hashtags wie #MeToo oder #BlackLivesMatter) bis zur konstruktiven Partizipation (etwa der #WirVsVirus-Hackathon im Zuge der Corona-Krise) sehr schnell und mit niedrigeren Transaktionskosten durchzuführen sind. Bürger und Bürgerinnen sind dadurch deutlich weniger auf Organisationen, deren Ressourcen und Professionalität angewiesen (wenn diese auch von großem Wert gerade bei der Verstetigung politischer Anliegen sind). Die seit mindestens zehn Jahren zu beobachtende Repolitisierung der Demokratie kann zumindest auch mit diesem Wandel der Möglichkeiten und Handlungsformen in Verbindung gebracht werden und stellt aus der Perspektive vieler Demokratietheorien einen Gewinn dar.

Umgekehrt kann hier aber auch die Gegendiagnose einer der Demokratie abträglichen Fragmentierung und Polarisierung ansetzen. Digitale Öffentlichkeiten ermöglichen eine Vielzahl paralleler Diskurse, erweitern Mobilisierungschancen und schwächen dadurch, zumindest teilweise, klassische Gatekeeper – wie den professionellen Journalismus. Zugleich verstärkt das hybride Setting der Medien und der Fokus auf Aufmerksamkeitserzeugung insbesondere sozialer Medien die Selektion polarisierender Nachrichten und Einordnungen, wie es etwa in der Twitter-Nutzung Donald Trumps und den Schwierigkeiten etablierter Medien diese zu berichten und einzuordnen deutlich wird. So lässt sich argumentieren, dass der digital vermittelte öffentliche Diskurs den Demokratien Möglichkeiten des Ausgleichs und der rationalen Selbstreflexion raubt.

Die Frage, welche der beiden Tendenzen dominant ist, muss nicht entschieden werden. Wichtiger ist, dass beide Diagnosen sich durchaus auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: Die enorme Bedeutung nämlich, die die strukturelle Ausgestaltung der kommunikativen Infrastruktur hat. Diese ist nicht durch die technischen Eigenschaften determiniert, sondern wird vor allem durch Nutzungsgewohnheiten und -anreize konstruiert - und sie ist höchst veränderlich. Die derzeit dominante Logik einer Aufmerksamkeitsökonomie, welche durch die privatwirtschaftliche Bereitstellung und auf Datensammlung ausgerichtete Öffentlichkeit, insbesondere durch die großen sozialen Netzwerke (Facebook, Instagram, Twitter etc.), geprägt ist, gerät dabei in vielerlei Hinsicht in Spannung zu den Möglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen, inklusive und demokratische Prozesse herbeizuführen - trotz umfangreicher Möglichkeiten subversiver Nutzung, die etwa darin zum Ausdruck kommt, dass Kritik und Protest gegen diese Machtfülle gerade in sozialen Netzwerken artikuliert wird. Hier muss und kann emanzipatorische Veränderung ansetzen, da es gilt, die Rahmenbedingungen des öffentlichen Diskurses - etwa durch die Regulierung sozialer Netzwerke - nachhaltig zu stärken, ohne das Prinzip horizontaler, stark selbstorganisierter Kommunikation aufzugeben. Politische Bildung und das Vermitteln eines reflektierten Umgangs mit den Möglichkeiten und Eigendynamiken verschiedener Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten sind nötige Elemente, um diesen Veränderungsprozess in Gang zu setzen.

Details verstehen und Rahmenbedingungen gestalten

Das Panorama der aufgezeigten Veränderungen, welches selbstverständlich nur einen kleinen Teil der Entwicklungen abdeckt, verdeutlicht, dass die Transformation der Demokratie im Kontext der digitalen Konstellation vielgestaltig und in der Gesamtschau ungerichtet ist.

Will man sich für die Herausforderungen wappnen, gilt es, Details zu verstehen und nicht allein von den technischen Möglichkeiten her zu denken, sondern politische, rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie gesellschaftliche Nutzungsgewohnheiten in die Betrachtung einzubeziehen. Demokratie sollte dabei nicht einfach institutionell als Regierungssystem begriffen werden, sondern umfassender von der Idee kollektiver Selbstregierung her gedacht werden. Es gilt zu verstehen, wie plurale und in vielerlei Hinsicht fragmentierte, zugleich aber kommunikativ eng verbundene und zur anhaltenden Selbstreflexion ermächtigte Gesellschaften lernen können, den Stress zu bewältigen, den ihr sehr offener, sehr umfangreicher Möglichkeitshorizont erzeugt.

Eine aktive Gestaltung der Institutionen von Demokratie und Technik ist hierfür eine wichtige Bedingung. Die klassischen Themen politischer Bildung – vom Gemeinsinn bis zum Verstehen politischer Prozeduren oder historischer Bedingtheiten – sind deswegen im Kontext der Digitalisierung von ebensolchem Wert wie der kompetente Umgang mit den sich wandelnden Formaten medialer Kommunikation.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mau, Steffen (2017): Das metrische Wir: Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Suhrkamp Verlag; Nassehi, Armin (2019): Muster: Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck.

  2. Berg, Sebastian/Rakowski, Niklas/Thiel, Thorsten (2020): Die digitale Konstellation. Eine Positionsbestimmung. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 30 (2), 171-191.

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  5. Kreiss, Daniel (2016): Prototype Politics: Technology-Intensive Campaigning and the Data of Democracy. New York, NY: Oxford University Press.

  6. Bennett, W. Lance/Segerberg, Alexandra/Knüpfer, Curd B. (2018): The Democratic Interface: Technology, Political Organization, and Diverging Patterns of Electoral Representation. In: Information, Communication & Society, 21 (11), 1655–1680; Manow, Philip (2020): (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Berlin: Suhrkamp Verlag.

  7. Spielkamp, Matthias (2019): Externer Link: Automating Society. Taking Stock of Automated Decision-Making in the EU. Berlin: Algorithm Watch / Bertelsmann Stiftung.

  8. Bennett, W. Lance/Pfetsch, Barbara (2018): Rethinking Political Communication in a Time of Disrupted Public Spheres. In: Journal of Communication, 68 (2), 243–253; Neuberger, Christoph (2017): Erwartungen der Gesellschaft an das Internet und ihre Erfüllung. In: MedienJournal, 41 (2), 45–60.

  9. Ritzi, Claudia (2019): Politische Öffentlichkeit zwischen Vielfalt und Fragmentierung. In: Hofmann, Jeanette/Kersting, Norbert/Ritzi, Claudia/Schünemann, Wolf J. (Hrsg.), Politik in der digitalen Gesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag, 61–82.

  10. Lischka, Konrad/Stöcker, Christian (2017): Digitale Öffentlichkeit - Wie algorithmische Prozesse den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.

  11. Zuckerman, Ethan (2014): New Media, New Civics? In: Policy & Internet, 6 (2), 151–168.

  12. Hofmann, Jeanette (2019): Mediatisierte Demokratie in Zeiten der Digitalisierung – Eine Forschungsperspektive. In: Hofmann, Jeanette/Kersting, Norbert/Ritzi, Claudia/Schünemann, Wolf J. (Hrsg.), Politik in der digitalen Gesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag, 27–46.

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Weitere Inhalte

Dr. Thorsten Thiel ist Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe "Digitalisierung und Demokratie" am Weizenbaum Institut für die vernetzte Gesellschaft. Er sitzt im "Steering Committee" des Internet Governance Forums Deutschland und ist Mitglied der interdisziplinären Arbeitsgruppe "Verantwortung: Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Demokratietheorien, Digitalisierung und Politik sowie internationaler politischer Theorie.