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"Es geht darum, die Gemeinschaft zu bereichern"

Nina Roßmann

/ 6 Minuten zu lesen

Dörfer können besonders von der Digitalisierung profitieren und dadurch auch Inklusion stärken, findet Nenja Wolbers von der Stiftung Digitale Chancen. Wie genau das aussehen kann, schildert sie anhand einer Dorf-App im Interview.

Dörfer können besonders von der Digitalisierung profitieren und dadurch beispielsweise Inklusion stärken. Eine Erläuterung anhand einer App. (© Foto: Kristián Valčo Externer Link: unsplash.com)

werkstatt.bpb.de: Was bedeutet gesellschaftliche Teilhabe für den ländlichen Raum und wie kann sie digital gefördert werden?

Nenja Wolbers: Ländliche Räume haben häufig mit infrastrukturellen Herausforderungen zu kämpfen, vor allem in den Bereichen Mobilität und Nahversorgung. Damit sind vor allem Jugendliche und ältere Menschen konfrontiert, die kein eigenes Auto haben, sowie Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Wenn der nächste Supermarkt weit weg ist, kann das bei einem kleinem ÖPNV-Angebot zum großen Problem werden. Es geht also um die Teilhabe an wichtigen Infrastrukturen. Diese kann unter anderem mithilfe digitaler Möglichkeiten aufrechterhalten werden: Mitfahrzirkel lassen sich digital organisieren, und auch die Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliches Engagement können digital unterstützt werden. Gerade auf dem Land, wo teilweise wichtige Strukturen wie Bibliotheken oder auch der Dorfladen ehrenamtlich organisiert sind, ist dies ein sehr wichtiger Punkt. Digitale Kanäle können die Organisation ehrenamtlicher Tätigkeiten erleichtern und auch die Ehrenamtlichen selbst entlasten. Gleichzeitig können Vereine ihre Tätigkeiten digital besser an die Menschen vor Ort kommunizieren, werden so attraktiver und können neue Mitglieder gewinnen.

Wie würden Sie die besonderen Herausforderungen ländlicher Räume mit Blick auf digitale Teilhabe und Inklusion beschreiben?

Das größte Problem ist tatsächlich der Internetzugang. Das hören wir immer wieder, aus allen Projekten, in die wir involviert sind. Der Mobilfunkausbau ist katastrophal, und auch das WLAN zuhause lässt häufig zu wünschen übrig, da in vielen ländlichen Gegenden nur ganz geringe Bandbreiten verfügbar sind. Und wie soll man Apps nutzen, wenn das Internet nicht funktioniert? In Bezug auf digitale Kompetenzen sehe ich dennoch keine Unterschiede zwischen Stadt und Land. Generell halte ich das Klischee vom rückständigen Land für völlig überholt. Das Leben auf dem Land bringt viele Vor- und auch einige Nachteile mit sich – doch die ließen sich durch digitale Lösungen zumindest teilweise beseitigen, sodass die Menschen auf dem Land stärker von der Digitalisierung profitieren können. Zum Beispiel durch die Telemedizin: Hier lohnt es sich für die allgemein eher weniger digitalaffine Personengruppe der Älteren ganz besonders, wenn sie sich digital weiterbildet und solche Angebote nutzen kann.

Wie gestaltet sich die Lern- und Lebenssituation für Menschen mit Behinderung? Spielen digitale Tools und Apps in ruralen Gegenden eine andere Rolle als in den Städten?

Das Internet und gerade soziale Medien bieten eine Chance für Menschen mit Einschränkungen, da sie, ohne stigmatisiert zu werden, Kontakte schließen und an Gemeinschaften teilhaben können. Der Kontakt zur eigenen Community kann sehr wertvoll sein, gerade auf dem Land, wo es weniger Angebote für reale Treffen gibt. Online-Tutorials bieten für Menschen mit kognitiven Einschränkungen beispielsweise tolle Möglichkeiten im eigenen Tempo zu lernen. Um diese Möglichkeiten nutzen zu können, müssen die Menschen digital kompetent sein: also zum Beispiel wissen, wie sie sich datensparsam im Internet bewegen oder dass nicht alle neuen Kontakte nur ihr Bestes wollen. Medienbildung ist ein Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe – das gilt jedoch längst nicht nur für Menschen mit Einschränkungen. Hier geht es einerseits um das Verfolgen gesellschaftlicher Debatten und das Erkennen von Fake News, andererseits aber auch um den Zugang zu ganz grundlegenden Diensten: Behördentermine werden teilweise nur noch übers Internet vergeben, Bankfilialen werden geschlossen und ich muss Online Banking nutzen. Gerade bei so wichtigen Vorgängen reicht es nicht nur aus, dass ich weiß, wie ich das mache. Ich muss auch erkennen, wenn etwas nicht funktioniert.

Nenja Wolbers ( privat /
bearbeitet )

Wenn eine Person mit eingeschränkter Mobilität eine wichtige Meldung, etwa über eine neue Baustelle, direkt aufs Handy bekommt, ist das für sie vorteilhafter als wenn die Meldung im Dorfschaukasten hängt. Auch von digital organisierter Nachbarschaftshilfe können Menschen mit Beeinträchtigung profitieren. Allerdings ist das in der Stadt genauso. Vielleicht sogar mehr noch als auf dem Land, wo man sich kennt und die Leute eher um die Probleme ihrer Mitmenschen wissen. Meiner Meinung nach sind die meisten Dörfer sehr inklusiv und kümmern sich. Die Digitalisierung kann helfen, das noch zusätzlich zu unterstützen. Was jedoch wichtig ist – egal ob auf dem Dorf oder in der Stadt: Menschen mit Beeinträchtigung müssen an der Entwicklung digitaler Angebote unmittelbar teilhaben. Bei der Entwicklung einer Dorf-App haben wir beispielsweise mit interessierten Dorfbewohnerinnen und -bewohnern zusammengearbeitet. Einer von ihnen ist blind und hat uns an einigen Stellen wichtige Hinweise gegeben, um die App möglichst barrierefrei zu halten.

Mit dem erwähnten Projekt wollen Sie die Teilhabe und den Zusammenhalt im Dorf Bremke in Niedersachsen mithilfe einer App erhöhen. Wie genau kann die App die Dorfbewohnerinnen und -bewohner digital voranbringen?

Die App hat mehrere Funktionen. Zum einen geht es darum, Informationen in die Breite zu streuen: Die Feuerwehr meldet, dass ein Baum umgefallen ist und diese Information bekommen dann alle gleich aufs Handy. Aktuell nutzt die Bürgermeisterin die App dazu, die neuesten Corona-Meldungen zu verbreiten. Zum anderen sollen sich die Bürgerinnen und Bürger auch untereinander austauschen. Hier gibt es eine Rubrik Suche/Biete, eine Mitfahrbörse und Chat-Rooms für Vereine, in denen man sich in geschlossenen Gruppen organisieren oder auch in offenen Gruppen Aktivitäten kommunizieren kann.

Die App wird sehr gut angenommen: Von den 800 Bremkerinnen und Bremkern nutzen sie aktuell knapp 300. Die Akzeptanz zu fördern war uns von Anfang an sehr wichtig. Daher haben wir die App gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern entwickelt. Damit keiner digital ausgeschlossen wird, werden die Nachrichten aus der App auch auf einem digitalen Schaukasten abgespielt, der sich im Dorfladen befindet. Dieser ersetzt den analogen Schaukasten, wo auch in Bremke bisher noch wichtige Mitteilungen ausgehängt wurden. Ehrenamtliche Digital-Lotsinnen und -Lotsen unterstützen interessierte Bremkerinnen und Bremkern im Umgang mit der App. So möchten wir die digitale Teilhabe auch derjenigen erhöhen, die vielleicht ein Smartphone haben, aber noch nicht so genau wissen, wie sie damit umgehen sollen. Und natürlich möchten wir mit der App das Dorf besser vernetzen. Dahinter steht der Gedanke, dass wir die strukturellen Engpässe zwar nicht beheben, aber mit digitalen Lösungen doch ein Stück weit mindern können.

Zoomen wir noch einmal raus aus Bremke: Wie wird digitale Teilhabe auf dem Land allgemein gefördert, welche Akteure spielen hier eine Rolle? Und: Was muss passieren, damit sich hier mehr bewegt?

Meiner Erfahrung nach kommt es sehr auf die Leute vor Ort an. Es braucht jemanden – oft sind es ehrenamtlich Engagierte –, der oder die die Digitalisierung aktiv vorantreibt. Das ist toll zu sehen, aber gleichzeitig wäre das auch meine Kritik. Damit langfristig digitale Lösungen genutzt werden, muss mehr Geld in die Gemeinden fließen – für die Technik, aber auch für fest angestelltes Personal, das entsprechendes Know-how mitbringt und Strukturen strategisch weiter aufbauen kann.

Auch was die Förderstrukturen betrifft, sind gerade kleine Gemeinden auf dem Land benachteiligt: Nur wer in der Lage ist, Fördermittel zu beantragen – wer das Know-how und das entsprechende Personal hat – bekommt die am Ende auch. Je kleiner die Kommunen, desto schwieriger ist es, solche Antragsprozesse zu stemmen.

Beobachten Sie auch Bedenken gegenüber der Nutzung digitaler Dienste?

Bei der Entwicklung der Bremke-digital-App betrafen die Bedenken den Datenschutz und die Frage, wie man mit unsachgemäßen Kommentaren umgeht. Hier haben wir das Fraunhofer-Institut um Hilfe gebeten. Erfahrungsgemäß kommen Hasskommentare in diesem Rahmen sehr selten vor. Falls doch, können diese Kommentare gemeldet und gelöscht werden. Grundsätzlichere Bedenken gingen in die Richtung: „Soll ich mich jetzt nicht mehr über den Gartenzaun hinweg unterhalten, sondern nur noch digital?“ Dem haben wir entgegnet: Es geht nie darum, etwas abzulösen, nur darum, die Gemeinschaft zu bereichern. Wir haben den Gartenzaun oder das Gespräch über den Gartenzaun durch unser Projekt nicht verdrängt, sondern eigentlich nur den Gartenzaun vergrößert, sodass sich noch mehr Leute miteinander unterhalten können. Was die Akzeptanz der App angeht, ist uns Corona auch ein bisschen zugutegekommen: Die Bremkerinnen und Bremker haben die App während des Lockdowns dazu genutzt, sich gegenseitig Mut zu machen und haben zum Beispiel aufmunternde Bilder gepostet. Die Feuerwehr hat über die App einen Aufruf zum Maskennähen gestartet, worauf die Bevölkerung gleich aktiv reagiert hat.

Ein kleines Gedankenspiel zum Schluss: Wie sieht das digitale Landleben 2050 aus?

Sie meinen, wenn es überall gutes Internet gibt? Ganz ehrlich: Da könnten wir uns doch vielleicht sogar beide irgendwann vorstellen aufs Land zu ziehen und von dort aus zu arbeiten – inmitten der Natur, wo es noch möglich ist sich ein schönes Haus zu bauen. Die Zukunft der Dörfer steht und fällt mit dem Thema Abwanderung – und vielleicht kann die Digitalisierung da etwas bewirken.

Über unsere Interviewpartnerin:

Nenja Wolbers arbeitet als Projektkoordinatorin für digitale Inklusion bei der Externer Link: Stiftung Digitale Chancen. Neben europäischen Projekten zur Förderung von Medienkompetenz arbeitet sie an der Digitalisierung des ländlichen Raums. Daneben ist sie stellvertretende Vorstandsvorsitzende bei der Initiative ALL DIGITAL.

Mehr über das Projekt Bremke.digital Externer Link: erfahren Sie hier.

Nina Roßmann ist freie Journalistin in Berlin. Neben dem Thema digitale Bildung beschäftigt sie sich vor allem mit kulturellen und gesellschaftlichen Fragestellungen und berichtet über Berlinerinnen und Berliner, die ihre Stadt durch ihr Engagement lebenswerter machen. Sie ist seit 2013 im Redaktionsbereich tätig und studierte Übersetzungswissenschaft und British Studies in Heidelberg, Berlin, Paris und Dublin.