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Das Konzept von Sozialisation als Beziehungspraxis | Wie bin ich geworden, wer ich bin? - Seinen Weg finden nach Flucht, Vertreibung und Krisen | bpb.de

Wie bin ich geworden, wer ich bin? Didaktische Konzeption Sachanalyse Die Rollentheorie Der Symbolische Interaktionismus Sozialisation und Subjekt Sozialisation als Beziehungspraxis Strukturierte Urteilsbildung Hinweise zur Analyse Baustein 1: "Alles Zufall, oder was?" - Befragung zu Lebensverlauf und Einflussfaktoren Einstieg & Befragung (B1) M 01.01 Lebensspiel M 01.02 Empirische Sozialforschung M 01.03 Schriftliche Befragung M 01.04 Fragebogen erstellen M 01.05 Musterfragebogen M 01.06 Leitfaden-Interview M 01.07 Interview-Leitfragen M 01.08 Hypothesen & Auswertung M 01.09 Sechs-Punkte-Schema M 01.10 Auswertungshilfen M 01.11 Daten: „Ängste“ (1) M 01.12 Daten: „Ängste“ (2) M 01.13 Daten: "Krisen" M 01.14 Daten: „Benachteiligung“ M 01.15 Daten: „Diskriminierung“ M 01.16 Vergleichsdaten: „Verhältnis zu den Eltern“ M 01.17 Daten: „Wohlbefinden“ M 01.18 Daten: „Angestrebte Werte“ M 01.19 Daten: „Freizeit“ (1) M 01.20 Daten: „Freizeit“ (2) Info 01.01 Leitfaden-Interview Info 01.02 Infos zu Vergleichsdaten Baustein 2: Sozialisation im Kontext von Krise, Flucht und Vertreibung Einführung ins Thema M 02.01 Einstiegsfilm M 02.02 Definition Sozialisation M 02.03 Sozialisationsvideo M 02.04 Definition Krisen M 02.05 Definition Krieg M 02.06 Kinderzeichnung Flucht M 02.07 Kinderzeichnung Flucht M 02.08 Kinderzeichnung Flucht M 02.09 Kinderzeichnung Flucht M 02.10 Kinderzeichnung Flucht M 02.11 Krieg und Flucht M 02.12 Kriegsauswirkungen M 02.13 Flüchtlingslager M 02.14 Flüchtlingszahlen 2014/15 M 02.15 Psychische Auswirkungen M 02.16 Interview Grundmann (1) M 02.17 Interview Grundmann (2) Info 02.01 Entwicklungsaufgaben Info 02.02 Kinderzeichnung Flucht Info 02.03 Fish-Bowl Info 02.04 Flüchtlingslager Info 02.05 Migrationsgeschichte Baustein 3: Wie das Leben so spielt - Fallstudien Baustein 3: Didaktische Einführung M 03.01 Auswertungsplakat 03.01 Der Fall Erol (Credibil) M 03.01.00 Zur Person von Erol M 03.01.01 Erols Familie (1) M 03.01.02 Erols Familie (2) M 03.01.03 Erols Peer Group M 03.01.04 Erols Schulzeit M 03.01.05 Erols Sozialer Raum M 03.01.06 Erol: Lieder/Texte/Videos Info 03.01.01 Lösung Erols Kindheit Info 03.01.02 Lösung Erols Väter Info 03.01.03 Lösung Erols Freunde Info 03.01.04 Lösung Erols Schule Info 03.01.05 Lösung Erols Sozialer Raum 03.02 Der Fall Panić M 03.02.00 Zur Person von Dejan M 03.02.01 Dejans Familie M 03.02.02 Dejan Fußball M 03.02.03 Dejans Schulzeit M 03.02.04 Dejans Peer Group M 03.02.05 Dejans Sozialer Raum Info 03.02.01 Lösung Dejans Familie Info 03.02.02 Lösung Dejans Verein Info 03.02.03 Lösung Dejans Schule Info 03.02.04 Lösung Dejans Feunde Info 03.02.05 Lösung Dejans Sozialer Raum 03.03. Der Fall Dazer M 03.03.00 Zur Person von Dazer M 03.03.01 Dazers Familie M 03.03.02 Dazers Schulzeit M 03.03.03 Dazer und der Staat M 03.03.04 Dazers Freundeskreis M 03.03.05 Dazers Sozialer Raum M 03.03.06 Videos: Leben in der DDR Info 03.03.01 Lösung Dazers Familie Info 03.03.02 Lösung Dazers Schule Info 03.03.03 Lösung Dazer Staat Info 03.03.04 Lösung Dazers Freunde Info 03.03.05 Dazers Sozialer Raum 03.04 Der Fall Grün M 03.04.00 Zur Person von Grün M 03.04.01 Grüns Kindheit M 03.04.02 Grüns Vertreibung M 03.04.03 Grüns Neuanfang M 03.04.04. Grüns Berufswechsel M 03.04.05 Karte Vertreibung M 03.04.06 Grün Auswertung AG1 M 03.04.07 Grün Auswertung AG 2 M 03.04.08 Grün Auswertung AG 3 M 03.04.09 Grün Auswertung AG 4 Info 03.04.01 Grün Lösung AG 1 Info 03.04.02 Grün Lösung AG 2 Info 03.04.03 Grün Lösung AG 3 Info 03.04.04 Grün Lösung AG 4 Info 03.04.05 Literaturhinweise Info 03.06 Links zu Zusatzinfos Resilienz & Handlungsstrategien (B4) M 04.01 Resilienz M 04.02 Wortwolken M 04.03 Internetrecherche (GA) Redaktion

Das Konzept von Sozialisation als Beziehungspraxis

Wolfgang Sander

/ 3 Minuten zu lesen

Der Symbolische Interaktionismus in der Soziologie erfasst Spielräume der Akteure bei der Gestaltung von sozialer Wirklichkeit.

Der sich andeutende Paradigmenwechsel von der Vergesellschaftungsfunktion zur Individualfunktion wurde dann im Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjektes in Gänze vollzogen. Die große Erklärungskraft der subjektorientierten Sozialisation wird besonders dort deutlich, wo es um die Lösungen von Entwicklungsaufgaben geht, die von den heranwachsenden Individuen in der "Risikogesellschaft" (Beck) zu erbringen sind. Allerdings führt dieser Ansatz zu einer Vernachlässigung der Meso- und Makroebene von Gesellschaft, also der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturbedingungen von Sozialisation. Die individuelle Handlungsbefähigung und die struktur-genetische Voraussetzungen (Sozialstruktur, Milieu, Lebenswelten, Kultur) von Sozialisation werden im Konzept von Sozialisation als Beziehungspraxis stärker berücksichtigt (vgl. Grundmann 1999; ders. 2015).

Diese anspruchsvolle Aufgabe, die Entwicklung der Handlungsbefähigung der Subjekte an lebensbereichsspezifische Voraussetzungen zu knüpfen, stellt den programmatischen Kern dieses Sozialisationskonzeptes dar. Sie wird verknüpft mit der Feststellung, dass es in der Gesellschaft erstaunlicherweise immer wieder gelingt, trotz aller persönlichen Erfahrungsdifferenzen und –bedürfnisse "gemeinschaftliche Handlungspraxen" aufzubauen. Ohne diese Gemeinsamkeiten würde Gesellschaft nicht funktionieren und Kommunikation wäre unmöglich. Sozialisation ist der Motor, der diesen sozialen Zusammenhalt bewirkt und verstärkt: "Sozialisation verweist damit stets auf das Bemühen des Menschen, subjektive Wahrheiten, Zweifel, partikulare Interessen, Besonderheiten und soziale Tatsachen wie sprachliche Konventionen, Rollenerwartungen oder institutionelle Handlungsstrukturen, die die Handlungsoptionen von Akteuren rahmen, miteinander in Einklang zu bringen und so zu gestalten, dass sie als Handlungssicherheit und soziale Zugehörigkeit annoncieren." (Grundmann 2015 S. 165) Wurde bisher in der Sozialisationsforschung weitgehend darauf geachtet, wie sich der einzelne einpasst, wie Konformität erzeugt wird, so geht es jetzt darum, die Handlungsbefähigung der Subjekte zu untersuchen und zu stärken.

Der Erkenntnisgewinn dieses Ansatzes besteht darin, die Rationalität der jeweiligen sozialen Praxis eruieren zu können bzw. zu wollen – das ist vielfach noch ein Programm, das zwar im Bereich der Bildungsforschung schon gestartet wurde (vgl. Grundmann 1999), das es aber in vielen anderen Bereich noch einzulösen gilt. Die Sozialisationsforschung fragt nun: Was befähigt Heranwachsende, "mit den in ihren Lebenswelten vorherrschenden ‚Handlungsrationalitäten‘ und ‚Handlungsoptionen‘ umzugehen und selbst gegen die ‚Widrigkeiten‘ ihres Lebens eine Persönlichkeit auszubilden, die es ihnen ermöglicht, sich zu entfalten." (ebd. S. 21) In Fortführung des Capability-Ansatzes und im Anschluss an die politischen Philosophen Sen und Nussbaum geht es nach Grundmann dann nicht mehr nur um die egalisierende Bereitstellung von wichtigen Ressourcen zur Förderung der Benachteiligten (im Sinne von Wohlfahrtproduktion und –verteilung "von oben"), sondern darum, die Handelnden in ihrem je spezifischen Alltag zu befähigen, ihre soziale Situation selbst "besser" zu verstehen und ihren Vorstellungen gemäß selbstständig zu gestalten. Die Bewältigung von Krisen hängt eng mit dem Persönlichkeitsprofil und der Ressourcenausstattung zusammen: "Eine ausgeprägte Handlungsfähigkeit erhöht die Verwirklichung von Handlungszielen selbst unter restriktiven Bedingungen." (Grundmann 2010, S. 30)

Das ungelöste Normproblem belastet auch diesen empirisch-analytischen Forschungsansatz mit dem Vorwurf des normativen Defizits bzw. des Indifferentismus, da hier nur ein negativer Freiheitsbegriff erkennbar ist (Freiheit von Zwang). Die verbesserte Erkenntnis einer gemeinsamen Beziehungspraxis verbunden mit einer intendierten Erhöhung von Solidarität, Handlungssicherheit und Optimierung des sozialen Miteinanders führt nicht per se und automatisch zu einer humaneren Gesellschaft, denn Solidarität kann von oben und unten hergestellt werden, wie die Mobilisierung von Massen in der Neuzeit gezeigt hat, ist also kein Qualitätsmerkmal für verantwortliches Handeln.

Zur Analyse der Situation gehört es in diesem Konzept nicht nur, die Überlebensfähigkeit der Subjekte zu stärken (s. Resilienzansatz), sondern ausdrücklich auch, die Frage nach den strukturellen Voraussetzungen für krisenhafte Entwicklungen zu stellen, von denen die Menschen betroffen sind - mit der denkbaren Konsequenz, "dass die sozialen Verhältnisse verändert oder gar aufgekündigt werden müssen" (Grundmann 2015 S. 167). Aber das für die politische Bildung bedeutsame Problem, wann Anpassung und wann Widerstand geboten ist, wird innerhalb dieses Ansatzes nicht thematisiert. Insofern bleibt auch dieses Konzept, was die Lösung der normativen Orientierung in Krisensituationen angeht, unklar, wertneutral und indifferent. Aber es bereitet den Boden für eine Lösung vor, denn es attestiert den Menschen in ihrer sozialen Praxis tendenziell eine hohe Handlungsrationalität und dass sie grundsätzlich die Fähigkeit besitzen, in ihrem Alltag ihre Probleme verantwortlich zu lösen, wenn minimale Bedingungen (Existenzminimum) gegeben sind.

Fussnoten

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Prof. Dr. phil., geb. 1944; Erziehungswissenschaftler an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Anschrift: Westfälische Wilhelms-Universität, Institut für Erziehungswissenschaft, Georgskommende 33, 48143 Münster.
E-Mail: E-Mail Link: sander@uni-muenster.de