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Über die “Protokolle der Weisen von Zion“

Markus C. Schulte von Drach

/ 5 Minuten zu lesen

Die „Protokollen der Weisen von Zion“ dienten im Nationalsozialismus als Rechtfertigung für den Holocaust. Antisemitische Verschwörungstheorien sind auch heute eine Bedrohung für Jüdinnen und Juden.

"Zurück in die Jewkunft": Der Blockbuster auf wahrewelle (© Turbokultur/bpb)

Geheimnisse sind das Geschäft des Leiters der zaristischen Geheimpolizei in Paris Ende des 19. Jahrhunderts. Pjotr Ratschkowski fällt es leicht, in der Bibliothèque Nationale unauffällig nach Büchern zu sehen. Er ignoriert den Schatz an gelehrten Werken; er sucht nach weniger bekannten Büchern. Eines hat es dem Russen besonders angetan: Der fiktive Dialog zwischen Montesquieu und Machiavelli, den der Franzose Maurice Joly 1864 verfasste. Die Satire richtete sich gegen die französische Monarchie, Joly war dafür eine Weile in Haft.

Doch was der Autor eigentlich wollte, ist dem Polizisten gleich. Ihm geht es um etwas anderes. Er streicht Stellen in dem Buch an, die sich für einen Betrug umformulieren lassen: Mit diesem und anderen Büchern, antisemitischen Vorurteilen, Gerüchten und wilden Fantasien will er Aufzeichnungen geheimer Treffen der Anführer der Jüdinnen und Juden konstruieren. Nachts auf einem Friedhof in Prag sollen diese stattgefunden haben. Ratschkowski will den "Beweis“ dafür erschaffen, dass die Angehörigen dieses Volkes nach der Weltherrschaft streben und ihnen dafür jedes Mittel recht ist. Sein eigentliches Ziel ist es, jene Jüdinnen und Juden zu diskreditieren, die sich gegen den Zaren stellen.

Dass sich die Sache 1898 oder in den Jahren davor so zugetragen hat, galt lange als relativ sicher, ist heute aber ungewiss und wird nach dem neuesten Forschungsstand sogar infrage gestellt. So sind die "Protokolle“ zwar erstmals im Zarenreich erschienen, doch Experten wie der Historiker und Osteuropaforscher Michael Hagemeister hegen Zweifel daran, dass die Fälschung tatsächlich auf den damaligen russischen Geheimdienst Ochrana zurückgeht, oder auf diesen allein.

Aber auch wenn nicht Ratschkowski oder einer seiner Mitarbeitenden in der Pariser Bibliothek an den sogenannten "Protokollen der Weisen von Zion" gearbeitet haben - irgendjemand hat es offenbar getan: Der britische Historiker Norman Cohn hat in einer Ausgabe des Buchs von Joly Markierungen an Passagen entdeckt, die für die "Protokolle der Weisen von Zion" verwendet wurden.

Ganz sicher ist also, dass damals tatsächlich eine Fälschung entstand. Das belegte bereits 1921 der britische Journalist Philip Graves in der Times, in dem er auf Jolys Buch als Quelle hinwies. Dann kam heraus, dass auch das geheime Treffen von Juden auf einem Friedhof in Prag schon in dem Roman Biarritz des deutschen Antisemiten Herrmann Goedsche von 1868 vorkam. Doch das verhinderte nicht, dass die "Protokolle" zu einer der folgenreichsten Fälschungen der Geschichte wurden. Ein Text, auf den auch Hitler zurückgriff, um die Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden zu rechtfertigen

"Ohne Juden wäre die Welt besser", hieß es damals häufig.

Doch solche Sprüche findet man auch heute noch in den Sozialen Medien und Kommentarbereichen im Internet. Und zwar immer häufiger. Und sie kommen auch von jungen Menschen und solchen, die sich selbst nicht als rechts betrachten.

Aber wieso sollen ausgerechnet Jüdinnen und Juden die Welt schlechter machen? Weil sie heimlich Politik, Finanzen, Kultur und Medien kontrollieren, so die Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker, lösen sie Kriege, Wirtschaftskrisen und andere Katastrophen aus, um die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten, und die Feindinnen und Feinde der Weltverschwörung zu vernichten.

Das ist eine angenehm einfache Erklärung, wo doch ständig furchtbare Dinge passieren, die Welt so kompliziert ist und man sich leicht ohnmächtig und hilflos fühlt. Jüdinnen und Juden da zu Sündenböcken zu machen, war schon in der Antike und im Mittelalter üblich. Schon frühe Kirchenlehrer wollten das Judentum vernichtet sehen. Jüdinnen und Juden galten als das Volk, das den christlichen Heiland Jesus ermordet hatte, ihre religiösen Rituale in einer fremden Sprache führten zu Misstrauen unter den Christinnen und Christen. Seuchen sollten sie verbreitet haben durch Brunnenvergiftungen, ungeklärte Todesfälle wurden ihnen als angebliche Ritualmorde angehängt, was immer wieder zu Pogromen führte. Und da viele Jüdinnen und Juden ihr Leben mit Geldgeschäften bestritten - Mitglieder der mittelalterlichen Zünfte durften sie nicht werden - wurde ihnen häufig Raffgier und Wucherei nachgesagt.

Auch die irrige Idee von einem bedrohlichen "Weltjudentum" entwickelten Christinnen und Christen schon im Mittelalter:

Sie hatten den Eindruck, die Jüdinnen und Juden, deren Gemeinden in aller Welt miteinander in Verbindung standen, wären eine verschworene Gemeinschaft. Im 19. Jahrhundert kam der Vorwurf auf, sie wollten gemeinsam mit den Geheimgesellschaften der Freimaurer die christlichen Gesellschaften und die Monarchien zerstören. Mit der Aufklärung und nun auch der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften veränderten sich Teile der Lebensrealität der Menschen. Und zugleich mit neuen Bedürfnissen und Herausforderungen entstanden auch neue Formen der Diskriminierung, gerade auch beim Antisemitismus. Fachleute sprechen hier von "Umwegkommunikation". War der Antisemitismus zuvor religiös begründet gewesen, entwickelte sich in Deutschland die Idee vom Kampf zwischen der jüdischen "Rasse" und den "arischen" Völkern um die Vorherrschaft. Statt einer „Bekehrung“ und Taufe von Jüdinnen und Juden, wurde das Ziel der Antisemitinnen und Antisemiten zunehmend deren Vertreibung und schließlich Vernichtung - um das eigene Volk vor der angeblichen Bedrohung durch das jüdische Volk zu „schützen“. Judenfeindinnen und -feinde bildeten Organisationen und Parteien, die es bis in den Reichstag schafften.

So wurde Ende des 19. Jahrhunderts schon der Boden bereitetet für die spätere, mörderische antisemitische Politik Adolf Hitlers. Auch die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten stellten den Holocaust, die Ermordung von etwa sechs Millionen Juden, als "Abwehrkampf" gegen ein angebliches "Weltjudentum" dar. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass es den Antisemitinnen und Antisemiten 1905 wie gerufen kam, als der Russe Sergei Nilus die "Protokolle", die ihm zugespielt wurden, in einem Buch veröffentlichte.

Heute sehen sich Anhängerinnen und Anhänger der Theorie von der jüdischen Weltverschwörung allein schon durch alle Politikerinnen und Politiker und einflussreichen Geschäftsleute mit jüdischen Namen bestätigt. Und dann steht es auch noch genauso in den "Protokollen der Weisen von Zion". Da wollen viele nicht wahrhaben, dass diese gefälscht sind. Die alten und neuen Antisemitinnen und Antisemiten interessieren die Beweise für den Betrug nicht.

Selbst nach den furchtbaren Verbrechen der Nationalsozialistinnen und -sozialisten existiert der Antisemitismus immer noch - sogar in Deutschland. Seit der Gründung des Staates Israel 1948 tritt er häufig unter dem Deckmantel des Antizionismus auf, wenn Kritik an Israels Politik missbraucht wird, um alte antisemitische Stereotype und Vorurteile zu verbreiten. In rechtsextremen Kreisen weltweit hat sich darüber hinaus die Verschwörungstheorie vom "Zionist Occupied Government" verbreitet - was eigentlich nur ein neuer Name für die alte Idee von der jüdischen Weltverschwörung ist: Demnach beherrschen die Jüdinnen und Juden angeblich bereits manche Regierungen, sie werden nur jetzt als Zionistinnen und Zionisten bezeichnet. Ähnlich ist es mit dem Kampfbegriff "Ostküste", der für das angeblich von Jüdinnen und Juden kontrollierte internationale Finanzsystem, insbesondere die Börsen und Banken an der Wall Street in New York, steht.

Zum Antisemitismus, der in den christlich geprägten Gesellschaften entstand, kommt noch Judenfeindlichkeit in der arabischen Welt hinzu.

Die Besiedlung Palästinas durch Jüdinnen und Juden führte zu Konflikten mit den arabischen Palästinenserinnen und Palästinensern, mit denen sich andere Araber solidarisierten. Insbesondere nach der Staatsgründung Israels verbreiteten sich die "Protokolle der Weisen von Zion" in der ganzen muslimischen Welt. Sie dienen vielen Gegnerinnen und Gegnern Israels bis heute als zusätzliche, obwohl längst als Fälschung entlarvte Rechtfertigung für ihren Kampf gegen "die Juden".

Fussnoten

Markus C. Schulte von Drach ist Redakteur für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft bei der Süddeutschen Zeitung Digitale Medien. Zuvor war er freier Journalist für diverse Zeitungen, darunter Berliner Zeitung, Die Welt und Neue Zürcher Zeitung. Er ist Autor von „Mythos“ (2013).