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Verschwörungstheorie "Lügenpresse"

Maximilian Probst

/ 3 Minuten zu lesen

Die Verschwörungstheorie einer „Lügenpresse“, die die Gesellschaft hinters Licht führen wolle, gibt es nicht erst seit gestern. Was unterscheidet legitime Kritik vom pauschalen Vorurteil?

"Frontal 23": Die News auf wahrewelle (© Turbokultur/bpb)

Der Vorwurf, die Presse lüge wie gedruckt, sie sei gekauft und handle im Dienst dubioser Mächte gegen das Volk, ist ein echter Klassiker. Schon um 1800 herum ist diese Verschwörungstheorie in konservativen Kreisen ausgearbeitet worden.

Warum zu diesem Zeitpunkt? Weil es eine Phase des rasanten Umbruchs war, in der die Feinde technischer und gesellschaftlicher Modernisierung nach einer Erklärung suchten für all das, was ihnen in der Welt missfiel – und weil zentrale Verdächtige, der Teufel, Dämonen und Hexen, in einer zusehends verwissenschaftlichten und diesseitigen Welt als Agentinnen und Agenten des Bösen nicht mehr überzeugten. Diese Rolle übernahmen nun die Journalisten, Pamphletisten, Autoren und Buchhändler der Aufklärungsbewegung. Der neuen medialen Verschwörungstheorie zufolge hatten sie sich im Geheimbund des Illuminatenordens und in Freimaurer-Logen vereinigt, die Welt mit ihren Gedanken verhext, alle anderweitigen Gedanken unterdrückt und schließlich Ereignisse wie die Französische Revolution herbeigeführt.

Der Begriff "Lügenpresse" wurde dann nach der Märzrevolution 1848 in konservativen Kreisen populär. Als deren Agentinnen und Agenten machte man nun vor allem die Jüdinnen und Juden aus. Die vermeintlichen Übel der gesamten modernen Welt, Liberalismus, Sozialismus, Demokratie: alles jüdische Erfindungen, die mit Hilfe der "Lügenpresse" verbreitet worden seien. Diese antisemitische Strippenzieher-Theorie fand 1903 in den gefälschten "Protokollen der Weisen von Zion" seine maßgebliche Form und wurde später zum Glutkern der Nationalsozialistischen Ideologie.

Seit 2001 wird der Kampfbegriff "Lügenpresse“ von Neonazis wiederentdeckt. Einmal mehr passt man dabei die dahinter stehende Verschwörungstheorie der neuen Zeit an. Neben den traditionellen Feindbildern sollen nun auch der israelische Geheimdienst Mossad und eine jüdisch unterwanderte CIA die Presse kaufen und lenken.

2014 wird der Begriff schließlich zum "Unwort des Jahres" erklärt. Da hat er bereits in AfD-und Pegida-Kreisen Karriere gemacht. Seither ist von "Staatsfunk", "System-Medien" und von "gekauften Journalisten" die Rede, vom "gleichgeschalteten journalistischen Establishment" im Fernsehen, Rundfunk und in den Zeitungen – vor allem dann, wenn es um Themen wie Flucht, Terrorismus und Integration geht.

Dabei zeigt sich deutlich die übergeordnete Funktion des Begriffs "Lügenpresse", denn gemeint ist nicht, dass sich die Presse (die es eigentlich nur im Plural gibt) hin und wieder täuscht, dass eine Zeitung oder Sendung manchmal falsch liegt, was unvermeidbar ist, oder unbewusst und in seltenen Fällen vielleicht auch mal bewusst Lügen verbreitet. Gemeint ist, dass "die da oben" systematisch mittels der Presse manipulieren und zu ihrem Vorteil "das Volk" betrügen sollen. Der Begriff hat ein verführerisches Identifikations-Potential, das sich für die Mobilisierung von Anhängerinnen und Anhängern gut eignet: Wir gegen die!

Dieses Freund-Feind-Schema führt dazu, dass man der "Lügenpresse" eine vermeintliche "Wahrheitspresse" entgegensetzt. Darunter werden von Pegida- und AfD-Anhängerinnen und Anhängern rechtsnationalistische deutsche Internet-Blogs, aber auch der russische Staatssender RT gezählt. Diesen "Nachrichtenquellen“ glaubt man so pauschal wie man der "Lügenpresse" misstraut. Das funktioniert umso besser, je weniger die Anhängerinnen und Anhänger der Medienverschwörung mit der Realität jenseits des Medialen in Berührung kommen. Das Internet bietet heute dafür ungeahnte Möglichkeiten. Wer will, kann in diesem schier unendlichen Raum vom Schreibtisch aus "alternative Wahrheiten" aller Art finden, die ihn gegen Kritik immunisieren.

Doch der Preis dafür ist hoch: Ein demokratischer Diskurs und der in pluralistischen Gesellschaften so wichtige Prozesse von Aushandlung und Kompromiss ist mit einer fundamentalen Frontstellung von Wahrheit und Lüge nicht vereinbar.

Fussnoten

Maximilian Probst ist freier Autor für Die Zeit und war zuvor für den Passagen Verlag in Wien tätig.