Das Spielfilmdrama „Der Himmel wird warten“ thematisiert die Frage, was junge Frauen in Europa dazu bringt, sich dem Dschihad anzuschließen. Wie können sie den Weg zurück in unsere Gesellschaft finden?
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ufuq.de
ufuq.de ist ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und in der politischen Bildungsarbeit und Prävention zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus aktiv. Bundesweit fungiert ufuq.de als Ansprechpartner für Pädagog*innen, Lehrkräfte und Mitarbeiter*innen von Behörden.
Vor dem Hintergrund der Geschichte der Protagonistin Mélanie gefragt:
Wie kann man Anzeichen einer Radikalisierung
in seinem Umfeld erkennen? Wann und wie sollte man
eingreifen?
Pädagogische Fachkräfte sollten generell auf Veränderungen bei Jugendlichen achten und gegebenenfalls das Gespräch mit der betreffenden Person suchen – offen, mit einer gewissen Sensibilität, erst mal ganz ohne Alarmglocken. Wenn jemand sich zum Beispiel entschließt, einen Hijab zu tragen, ist das ja kein Alarmsignal. Übertriebene Reaktionen darauf können einen potenziellen Radikalisierungsprozess sogar unterstützen. Man muss versuchen zu verstehen: Was hat das zu bedeuten? Was passiert da eigentlich gerade in diesem Leben? Muss ich mir Sorgen machen? Es gibt keine Checkliste, die man abarbeiten kann, um Radikalisierungsprozesse zu identifizieren. Wenn man aber mehrere Signale gleichzeitig beobachtet, dass sich jemand anders kleidet, sich isoliert, mit bestehenden sozialen Kontakten, früheren Gewohnheiten und Hobbys bricht und abwertende Positionen vertritt, zeugt das ziemlich klar von einem Problem, von einer Krise. Das zeigt der Film auch sehr deutlich.
Was tut man, wenn man solch einen radikalen Bruch mit dem Umfeld bemerkt?
Dann sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. In Deutschland gibt es zum Glück gute Beratungsstellen (Siehe Infokasten unten). Wenn es einen konkreten Fall gibt, arbeiten diese direkt mit Betroffenen oder deren Angehörigen. Dazu können dann auch Lehrkräfte oder Jugendarbeiter*innen, Sporttrainer*innen etc. an einen Tisch kommen und gemeinsam besprechen, an welchen Stellen man ansetzen kann. Dabei kann es auch ganz einfach um Unterstützung bei der Berufswahl oder ähnliche Dinge gehen.
Wie kann man Jugendliche, die sich wie Mélanie in
einem Radikalisierungsprozess befinden, überhaupt
noch erreichen?
Pierre Asisi ist Politikwissenschaftler und Leiter des Projektes „kiez:story – ich sehe was, was du nicht siehst“ bei ufuq.de.
In der konkreten Deradikalisierungsarbeit mit bereits ideologisierten
Jugendlichen sind wir bei ufuq.de nicht beschäftigt.
Allgemein lässt sich aber sagen, dass es in solchen
Fällen definitiv schwierig ist, einen Kulturkampf oder ein
theologisches Streitgespräch führen zu wollen. Es macht
zum Beispiel keinen Sinn, über „deutsche“ oder „demokratische“
Werte zu referieren. Und wenn man über Auslegungsfragen
diskutieren will, ist die Reaktion natürlich die: „Ich
weiß es ja besser als die. Was wollen die mir vom wahren
Islam erzählen?“ Der Film stellt das gut dar: Mit einer religiös
logischen Argumentation erreicht Dounia Bouzar bei Sonia
zunächst eher weniger. Auf einer emotionalen Beziehungsebene
ist viel mehr möglich – durch die gemeinsame Erinnerung
der Familie an schöne Erlebnisse etwa. Der betroffene
Mensch hat vielleicht einfach eine Lebenskrise. Man muss
sich fragen, wo man ihn unterstützen kann. Es geht um eine
offene Haltung und um ganz individuelle Beziehungsarbeit.
Im nächsten Schritt kann dann eine Diskussion folgen.
ufuq.de arbeitet in der Primärprävention. Ihre pädagogischen
Angebote greifen also, noch bevor es zu
Radikalisierungstendenzen kommt. Wie sehen diese
Angebote aus?
Wir arbeiten mit Ansätzen der politischen Bildung. Wir erklären
den Jugendlichen nicht: „Hey, Islamismus ist schlecht.“
In der Regel wissen die das schon, und wenn sie tatsächlich
anderer Meinung sind, dann überzeugt sie das auch nicht
mehr. Wir schauen vielmehr, welche Themen für die Jugendlichen
relevant sind: Worüber haben sie das Bedürfnis zu
sprechen? Welche Themen greifen islamistische Angebote
auf – so wie die dschihadistischen Videos etwa, die Mélanie
im Film sieht. Wenn in der Schule über internationale
Ungerechtigkeit oder den Nahostkonflikt gesprochen wird,
dann geht es meistens um Antisemitismus, Radikalisierung
– Themen also, bei denen sich Jugendliche schnell unter
einem Generalverdacht
sehen. Es fehlen Räume, wo
sich Jugendliche zu solchen
Themen einfach so mal
kontrovers äußern und vielleicht
auch über die Stränge
schlagen können, ohne
direkt bewertet zu werden.
Was ist wichtig im Umgang mit den Jugendlichen?
Dounia Bouzars Zentrum für Prävention, Deradikalisierung
und individuelle Betreuung (CPDSI) macht das Brainwash-
Modell sehr stark. Dafür ist es auch kritisiert worden.
Es wird das Bild vermittelt, dass die Jugendlichen rein passiv
sind und online gebrainwasht werden. Abgesehen davon,
dass in aller Regel auch offline-Bezugsgruppen eine sehr
wesentliche Rolle in solchen Prozessen spielen, müsste man
da fragen: Wer hat die Anwerber denn wiederum radikalisiert?
Es ist wichtig zu schauen, wo sich Jugendliche aktiv
hinorientiert haben und sie nicht nur als passive Wesen zu
verstehen, die von einer fremden Macht umgepolt wurden.
Interessanter ist für die Pädagogik, sich die Frage zu stellen,
wieso der Islamismus attraktiv für Jugendliche sein kann.
Nicht zuletzt eben, weil es in Politik, Medien oder Schule zu
wenig Räume für die Themen und Fragen von Jugendlichen
gibt, können ideologische Akteure dieses Vakuum mit ihren
Antworten besetzen. Unsere Workshops können als solche
Räume verstanden werden.
Welche Themen sind es, die bei Ihrer präventiven
Arbeit
mit Jugendlichen im Fokus stehen?
Wir orientieren uns zum Beispiel an niedrigschwelligen Angeboten
wie denen von „Generation Islam“ (seit 2013 aktive
Gruppierung, die vor allem in den sozialen Medien aktiv
ist und wegen ihrer Nähe zur in Deutschland verbotenen
islamistischen Gruppierung Hizb ut-Tahrir u.a. vom Hamburger
Verfassungsschutz als islamistisch eingestuft wird.
2018 schaffte es ihr Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch in
die Top-Trends von Twitter, Anm. d. Red.).
Isoliert betrachtet sind viele Posts von solchen Initiativen unproblematisch
oder sprechen berechtigterweise Konflikte an. Erst nach
hinten raus wird ein gefährliches Schwarz-Weiß-Bild vermittelt.
Bestimmte real existierende Missstände, an denen auch
ideologische Akteure ansetzen können, beschäftigen viele Jugendliche. Dementsprechend sind sie auch bei uns stark
vertreten: Rassismus, Geschlechterrollen, Gerechtigkeit.
Mit der eindeutigen Antwort, die in diesem Kontext auf die
Sinnsuche gegeben wird, können wir aber natürlich nicht
konkurrieren. Wir wollen eher zeigen: Man muss Widersprüche
aushalten. Und wir wollen die jungen Leute zur Reflexion
darüber anregen, dass ihre Identität vielschichtiger ist.
Wie gehen Sie in Ihren Workshops ganz konkret vor,
um das zu erreichen?
Wir arbeiten häufig mit „alternative narratives“, zum Beispiel
mit Videos, die unterschiedliche Formen zeigen, wie man
Sexualität im Islam ausleben kann. Wir bewerten nicht, ob
das richtig oder falsch ist. Es geht vielmehr darum, eine
Diskussion, ein Gespräch unter den Jugendlichen zu initiieren,
sich auszutauschen und zu zeigen: Es gibt sehr viele
unterschiedliche Einstellungen, auch im Islam, und damit
muss man klarkommen. Wir zeigen diese Vielfalt, die eine
gesellschaftliche Realität ist, weil sie auch medial oft zu kurz
kommt.
Welches Potenzial hat ein Film wie „Der Himmel wird
warten“ in der Radikalisierungsprävention?
Solche biografischen Beispiele eignen sich generell gut, um
das Thema mit Jugendlichen zu behandeln. Der Film zeigt
auch viele Aspekte recht anschaulich: die zentrale Rolle der
Lebenskrise bei Mélanie, die Auswirkungen der Radikalisierung
bei Sonia. Und er zeigt, wie religiöse Fundamentalisten
andere Muslime zu Nicht-Muslimen erklären und so mit
traditionellen Formen von Religion brechen. Da bemüht sich
der Film sehr um eine differenzierte Darstellung. Man sollte
aber auf jeden Fall auf die Rahmung achten, in dem diese
pädagogische Arbeit stattfindet, und den Fokus hinterfragen.
Islamismus kennen die Jugendlichen in der Regel nur
aus den Medien. Rechte Einstellungen bei Jugendlichen und
die Betroffenheit davon sind ein viel präsenteres Thema,
das auch mit Radikalisierung zu tun hat. Es sollte im Kontext
von Radikalisierung also zum einen nicht nur um Islamismus
gehen. Zum anderen ist es im Sinne von Universalprävention
und demokratiefördernder
politische Bildung insgesamt
wichtiger und pädagogisch
wirksamer, antimuslimischen
Rassismus
zu thematisieren als gegen
Islamismus zu argumentieren.
Im Film geht es um
zwei Mädchen, die nicht
explizit rassistische Diskriminierung erfahren haben. Das hat
einerseits den Vorteil, dass Radikalisierung nicht auf eine
Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen reduziert wird,
aber auch den Nachteil, dass rassistische Diskriminierung
überhaupt kein Thema ist.
Gibt es weitere Aspekte, die in der filmischen Darstellung
Ihrer Meinung nach zu kurz kommen?
Politische Maßnahmen, die auch zur Radikalisierung beitragen,
werden komplett ausgespart, obwohl das ein wichtiger
Aspekt ist. Diskriminierende rassistische Politik, die es überall
in Europa gibt, sieht man auch in Frankreich deutlich. In
Reaktion auf die Terroranschläge in Paris vom 13. November
2015 hat François Hollande den Ausnahmezustand verhängt
und die Einführung eines Gesetzes angekündigt, das den
Entzug der französischen Staatsbürgerschaft für Terroristen
ermöglichen sollte. Das ist reine Symbolpolitik, die die
Stigmatisierung von Musliminnen und Muslimen fördert. Die
damalige Justizministerin Christina Taubira ist aus Protest
zurückgetreten und Dounia Bouzars Organisation hat
daraufhin den Betrieb eingestellt, weil sie nicht mehr vom Innenministerium
finanziert werden wollte. Da liegt ein großer
Widerspruch: Man nimmt Geld vom Staat, um als Feuerlöscher
zu fungieren, aber der Staat arbeitet an anderer Stelle
der Prävention selbst entgegen. Im Zuge des Ausnahmezustands
wurden auch in großem Maße Razzien durchgeführt,
die Human Rights Watch als „missbräuchlich und diskriminierend“
bezeichnet hat. Seit 2018 gilt an französischen
Schulen ein strenger Laizismus-Leitfaden. In Verbindung mit
der herrschenden sozialen Ungerechtigkeit kann ein autoritär
durchgesetztes laizistisches
Selbstverständnis des
Staates als eine Ursache
für Radikalisierungen und
gesellschaftliche Konflikte
angesehen werden.
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