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Empowerment als pädagogisches Leitprinzip

Dorothee Meyer Bettina Lindmeier

/ 5 Minuten zu lesen

Das Empowerment-Konzept stammt aus den USA, wo es seit den 1950er-Jahren untrennbar mit den Bürgerrechtsbewegungen verbunden ist. Kennzeichnend für diese Bewegungen, z. B. die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die Frauenbewegung, ist die Erfahrung der Diskriminierung und der Vorenthaltung von Bürgerrechten, von gesellschaftlicher Ohnmacht und mangelnder Wertschätzung. In ihrem Einsatz für gleiche Rechte erfuhren sowohl die einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten als auch die Bürgerrechtsbewegungen als Ganze eine Stärkung, die als »Empowerment« bezeichnet wird. Der Begriff, der häufig als »Selbstermächtigung« ins Deutsche übersetzt wird, drückt die Erfahrung aus, dass durch gemeinsames politisches Handeln Kräfte freigesetzt werden, welche die ehemals ohnmächtigen und marginalisierten Personen und Gruppen handlungsfähig und »mächtig« werden lassen (vgl. Lindmeier und Lindmeier 2012):. Aus diesen politischen Initiativen betroffener Menschen heraus hat der Begriff des Empowerments dann in den 1990er-Jahren Eingang in die Pädagogik gefunden (…).

Die sozialen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre, wie die Bürgerrechts- oder Frauenbewegungen, wurden auch wegweisend für die Selbsthilfebewegungen bzw. -vereine von behinderten Menschen. So entstanden, ebenfalls in den 1960er-Jahren, in den USA die Independent-living-Bewegung von Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung, in Deutschland in den 1970er-Jahren die deutsche Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und in den 2000er-Jahren der Verein Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V. von und für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Für die Pädagogik bedeutete das Engagement der Selbsthilfebewegungen, die sozialpolitische Veränderungen anstrebten, ein großes Potenzial für innovative Impulse. Auch das Assistenzkonzept für behinderte Menschen, die Idee der Leichten Sprache und der Anspruch auf Inklusion wurden von Betroffenen selbst formuliert, häufig zunächst gegen den Widerstand von Pädagoginnen und Pädagogen. (…)

Die Idee des Empowerment-Konzepts fand auch Eingang in die pädagogische Arbeit kam zum Beispiel der Sozial- oder Sonder- bzw. Inklusionspädagogik. Dadurch kommt es zu einer schwerwiegenden Verschiebung der Begriffsbedeutung: Nicht mehr die eigene politische Arbeit selbst sollte die Betroffenen stärken, sondern ziel-geleitetes pädagogisches Bemühen. Dieses veränderte, pädagogisierte Verständnis (…) stellt die Frage, ob und in welcher Weise Empowerment durch pädagogische Fachkräfte angeregt und unterstützt werden kann, ist von zentraler Bedeutung für die Gestaltung von Unterstützungsleistungen, die Hilfe zur Selbsthilfe bieten und ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung ermöglichen sollen. In der Sozialpädagogik wird das Dilemma von Hilfe und Abhängigkeit als zentrales Grunddilemma, d. h. als nicht lösbares Problem fachlichen Handelns, angesehen (vgl. Schütze 2000). Es liegt darin, dass als nicht intendierte Folge von Hilfe eben nicht das intendierte Empowerment, sondern vielmehr eine gesteigerte Abhängigkeit von Hilfe entsteht.

Wesentlich ist der dialektische Grundgedanke des Empowerment-Konzepts: Menschen sind in der Regel in der Lage, ihr Leben ohne organisierte soziale Unterstützung zu gestalten. In sozial randständigen Lebenslagen wird diese Fähigkeit jedoch durch mangelnde Gestaltungsspielräume beeinträchtigt oder kann sich nicht entwickeln. Psychosoziale Hilfen, die zur Unterstützung von Menschen in Bedarfslagen entwickelt werden, unterstützen diese Menschen zwar, nehmen ihnen aber zugleich ihre Autonomie, machen sie abhängig und verstärken damit ihre Hilfsbedürftigkeit (vgl. Rappaport 1985). Die Intention des Empowerment-Konzepts ist es hingegen, Menschen so zu unterstützen und zur Selbsthilfe anzuregen, dass sie power (Macht, Kraft) gewinnen und unabhängiger von Unterstützung werden.

Die dialektische Grundorientierung des Empowerment-Konzepts geht daher von einem Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, Autonomie und Abhängigkeit aus. Individuen wie auch Gruppen in benachteiligten Situationen sollen mittels ihrer eigenen Stärken und auf der Grundlage gleicher Rechte ihr Leben »in die eigene Hand nehmen« können. Empowerment wendet sich also gegen paternalistische, bevormundende Hilfe in einem wohlfahrtsstaatlichen »Bedürftigkeits- und Abhängigkeitsmodell«, ohne die Angewiesenheit auf Unterstützung in diesem Prozess auszublenden. Um ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen zu können, benötigen benachteiligte Menschen auch bedarfsgerechte Ressourcen, die staatlich gewährleistet werden müssen. Behinderten und benachteiligten Menschen mehr Kontrolle über ihr eigenes Leben zu ermöglichen, darf nicht dazu führen, deren Bedürfnisse nach Hilfe zu vernachlässigen (vgl. Lindmeier 2008).

Damit Hilfe nicht zu Bevormundung und Abhängigkeit führt, ist politisches Engagement hinsichtlich der Veränderung und Mitgestaltung des Hilfesystems (z. B. durch Selbsthilfegruppen) von hohem Stellenwert, das zur Befähigung der Betroffenen und zur öffentlichen Sichtbarkeit führt. Prozesse, die Bevormundung und Abhängigkeit verringern und zur Selbstermächtigung beitragen, kurz Empowerment-Prozesse, können sich nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf Gruppen- und (gesamt-)gesellschaftlicher Ebene entwickeln. Empowerment-Prozesse auf den unter-schiedlichen Ebenen dürfen nicht als getrennt und unabhängig voneinander betrachtet werden (vgl. Weiß 1999). Die Wirkung dieser Prozesse liegt vielmehr gerade in der wechselseitigen Abhängigkeit und in der Integration von Veränderung auf allen drei Ebenen.

Nach Prilleltensky (1994) können folgende Bezugswerte als Wertebasis von Empowerment benannt werden:

  1. Autonomie und Selbstbestimmung: Autonomie und Selbstbestimmung zielen nicht auf ein von Bindungen freies »Ich-Projekt«, wie es vielfach missverstanden worden ist, sondern auf die Wiedererlangung von Gestaltungsspielräumen im eigenen Leben (Kontrollbewusstsein in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Lebens, Selbstrespekt).

  2. Verteilungsgerechtigkeit: Eine faire Verteilung von Ressourcen und Lasten in einer Gesellschaft bedarf immer wieder der kritischen Überprüfung. Dieser Punkt weist besonders deutlich auf die politische Dimension des Empowerment-Konzepts hin.

  3. Kollaborative und demokratische Partizipation: Diejenigen Menschen, die von einer Entscheidung betroffen sind, sollen auch in die Entscheidungsfindung eingebunden sein.


    Fundstellenangaben:

    • Lindmeier, Bettina (2008): Empowerment als Leitidee der Gestaltung von Erwachsenenbildung. In: Heß, Gerhard / Kagemann-Harnack, Gaby / Schlummer, Werner: Wir wollen – wir lernen – wir können! Erwachsenenbildung, Inklusion, Empowerment. Marburg. S. 110 bis 117.

    • Lindmeier, Bettina / Lindmeier, Christian (2012): Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Stuttgart.

    • Prilleltensky, Isaac (1994): Empowerment in Mainstream Psychology: Legitimacy, Obstacles and Possibilities. In: Canadian Psychology / Psychologie canadienne, Jg. 35, H. 4. S. 358 bis 375.

    • Rappaport, Julian (1985): Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit: Ein sozialpolitisches Konzept des ›Empowerments‹ anstelle präventiver Ansätze. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, Jg. 17., H. 2. S. 257 bis 278.

    • Schütze, Fritz (2000): Schwierigkeiten bei der Arbeit und Paradoxien des professionellen Handelns. In: Zeitschrift für Qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, Jg. 1, H. 1. S. 49 bis 96.

    • Weiß, Hans (1999): Empowerment in der Heilpädagogik und speziell in der Frühförderung – ein neues Schlagwort oder eine handlungsleitende Idee? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, Jg. 68, H. 1. S. 23 bis 35.

Der Artikel ist eine leicht gekürzte Fassung des Aufsatzes Lindmeier, B./Meyer, D. Empowerment, Selbstbestimmung, Teilhabe ‒ Politische Begriffe und ihre Bedeutung für die inklusive politische Bildung (2020). In: Externer Link: Meyer, D./Hilpert, W./Lindmeier, B. (Hrsg.): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung. Bonn, S. 38 - 56.
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Fussnoten