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Bin ich ungläubig? Was bedeutet Unglaube im Islam? | bpb.de

Bin ich ungläubig? Was bedeutet Unglaube im Islam? Version mit Untertiteln

von: Hatice Schmidt Tim Sievers Prof. Dr. Armina Omerika

Im Rahmen der Webvideo-Reihe "Begriffswelten Islam" informiert der Gesprächsfilm über den Begriff des "iman".

Inhalt

Die YouTuberin Hatice Schmidt besucht in diesem Gesprächsfilm den Islamwissenschaftler Tim Sievers und spricht mit ihm über das Themenfeld der Begriffe "iman" und "kufr".

Volltextalternative

[Leise beginnt ruhige Musik zu spielen. Zu sehen ist in Zeitraffer die wechselnden Farben des Himmels einer Morgendämmerung, im Vordergrund eine Stadtlandschaft mit Häusern, Baukränen, Eisenbahngleisen und herbstlich anmutenden Bäumen. In den nächsten Bildern schiebt die Youtuberin Hatice Schmidt einen Rollkoffer in einem Bahnhofsgebäude vor sich her, Fahrpläne und Anzeigetafeln sind zu sehen, ein Zug fährt ein. Nun steht am Bahnsteig und spricht direkt in die Kamera.]

Hatice: Nachdem in der letzten Folge noch auf Malta war, fahr ich jetzt mit dem Zug nach Frankfurt und werde dort noch einen Experten treffen. Diese Folge hat für mich persönlich noch mal eine ganz andere Bedeutung, denn wie ihr vielleicht wisst, werde ich in meinen Kommentaren, also unter meinen Videos, immer wieder kritisiert, dass ich ungläubig wäre, weil ich einen deutschen Mann geheiratet habe oder weil ich mein Kopftuch abgelegt habe. Das sind halt so Sachen, die mich schon sehr beschäftigen. Und ich hoffe, dass ich genau Antworten auf diese Fragen bekomme, wie zum Beispiel: Was macht mich denn ungläubig? Oder was macht mich gläubig? Und, ja, genau deswegen begebe ich mich jetzt nach Frankfurt.

[Hatice steigt in den eingefahrenen ICE ein, ihre Stimme ist jetzt aus dem Off zu hören. Durch das Zugfenster sehen wir die Landschaft vorüberziehen, Hatices Oberkörper spiegelt sich in der Scheibe. Nun ist das Dach der Frankfurter Bahnhofhalle zu sehen, dann fährt die Kamera in einem Auto an einem Frankfurter Banken-Hochhaus mit spiegelnder Glasfassade vorüber. Schließlich sehen wir Hatice und den Wissenschaftler Tim Sievers, die sich auf einer Anhöhe vor dem Hintergrund der Silhouette der Stadt unterhalten.]

Hatice: In Frankfurt treffe ich Tim Sievers. Tim ist noch ein sehr junger Wissenschaftler. Er schreibt seine Doktorarbeit in der islamischen Theologie, im Bereich des "Kaläm" – auf Deutsch würden wir sagen: in "Systematische Theologie". Er hat schon selbst Aufsätze zum Thema Glaube/Unglaube im Islam veröffentlicht, kann sehr gut arabisch, hat viele Bücher zum Islam in dieser Sprache gelesen und hat hoffentlich Antworten auf einige meiner Fragen.

[Nun spricht Hatice wieder direkt in die Kamera und stellt – unterstrichen von Handbewegungen – ihre erste Frage.]

Hatice: Gibt es eine Definition im Islam, die sagt, was Glaube ist und was Unglaube ist?

[Jetzt ist Tim Sievers in türkisem T-Shirt und offener lila Kapuzenjacke zu sehen, im unscharfen Hintergrund ein wolkiger Himmel und die Frankfurter Skyline. Er blickt auf ein nicht sichtbares Gegenüber und spricht deutlich, bedacht und mit freundlicher Ausstrahlung. In Handschrift wird links von ihm der Name "Tim Sievers M.A." eingeblendet. Während wir den jungen Wissenschaftler sprechen hören, sehen wir immer mal wieder kurz einen Schnitt auf Hatice, die aufmerksam zuhört.]

Tim: Es ist nicht so, dass das Wort "Iman", der Glaube, durch den Koran eindeutig festgelegt wäre, sondern es gibt verschiedene Interpretationen. Gelehrte sind auch durchaus der Auffassung gewesen, dass im Koran das Wort Iman verschiedene Bedeutungen trägt, sodass die Theologen die Aufgabe hatten, Deutungen für das Wort im Koran zu finden und natürlich auch das theologische Konzept von Glaube insgesamt zu erklären.

"Kufr" ist das Gegenstücke zu Glaube, das ist der Unglaube, könnte man übersetzen. Aber die Definition von Kufr ist wesentlich schwieriger, meines Erachtens, als die Definition von Iman, Glaube. Es gibt so eine klassische Formel für Iman, dass man sagt: Iman, das ist die Überzeugung bzw. das Fürwahrhalten im Herzen, das Aussprechen mit der Zunge und das Handeln mit den Körperteilen. Und diese Formel zeigt schon die ganzen Probleme. Denn wenn jemand etwas nicht in seinem Herzen für wahr hält, dann ist es naheliegend zu sagen, er ist ungläubig. Aber wie verhält es sich damit, wenn jemand sehr wohl im Herzen etwas für wahr hält, aber vielleicht es nicht mit seiner Zunge ausspricht oder noch schlimmer, vielleicht die Handlung nicht tut?

[Hatice wird gezeigt, die Anführungszeichen um das Wort "richtig" macht sie durch eine entsprechende Geste mit beiden Händen deutlich.]

Hatice: Wenn es schwer ist, von Handlungen abzuleiten, was ein Mensch im Herzen glaubt, wer entscheidet dann denn, wer "richtig" gläubig ist?

[Nun spricht wieder Tim, sein Oberkörper ist eher statisch, Gesten mit Händen oder Armen nicht zu sehen. Zwischendurch Schnitt auf Hatice.]

Tim: Die zentrale Instanz im Islam ist Gott. Das heißt, letztlich entscheidet Gott alleine darüber, wer gläubig ist oder wer ungläubig ist. Selbstverständlich hat man in der islamischen Geschichte schon gedacht, dass bestimmte Handlungen ein deutliches Zeichen für Unglauben sind. Aber das sind oft sehr sehr extreme Handlungen und viel spannender wird ja die Frage, zu sagen: Welche Handlungen sind das, die man tun muss oder Verbote, die man beachten muss? Und in welchem Maße müssen diese beachtet werden? Also braucht man sozusagen einen hundertprozentig perfekten Menschen, der sich an alle göttlichen Gebote hält, die im Koran und in der Sunna, also der Tradition des Propheten vorhanden sind? Braucht man so einen perfekten Menschen, um einen gläubigen Menschen zu haben? Oder kann man gläubig sein ohne diese Gesamtheit? Da gibt es durchaus verschiedene Auffassungen zu.

[Die Kamera zeigt wieder Hatice.]

Hatice: Kann man denn nachvollziehen, warum mir diese Leute vorwerfen, ich sei ungläubig, weil ich 'nen deutschen Mann geheiratet habe oder mein Kopftuch abgelegt habe? Dürfen die das überhaupt?

[Die meiste Zeit ist nun Tim Sievers im Bild, aber auch Hatice wird zuhörend häufiger gezeigt.]

Tim: Dazu gibt es wie immer verschiedene Meinungen. Da ist zum einen ein sehr bekannter Gelehrter aus dem 10./11. Jahrhundert, Abu Hamid al-Ghazali, der deswegen angesehen ist, weil er als Erneuerer des Islam gilt. Und er hat eine ganze Schrift dazu geschrieben, in der er sich sehr intensiv damit auseinandersetzt, wen man zum Ungläubigen erklären darf. Und er hat diese Schrift geschrieben, weil auch zu seiner Zeit schon Menschen andere sehr schnell und sehr voreilig vielleicht zu Ungläubigen erklärt haben.

Al-Ghazali beschreibt dort, dass er persönlich davon abrät, unter allen Umständen, jemanden, der die islamische Glaubensbezeugung, also die Bezeugung, dass es keinen Gott außer dem einen Gott gibt und dass Mohammed sein Gesandter ist, so eine Person zum Ungläubigen zu erklären. Er sagt, unter keinen Umständen würde er dies tut. Und wenn man dies tut, geht dies nur auf der Basis eines einzigen Kriteriums, nämlich dass diese Person den Propheten Mohammed für einen Lügner hält. Deiner Frage nach zu urteilen, ging es den Menschen, die geschrieben haben, du seist ungläubig, nicht darum, sondern sie haben schlicht von dieser Tatsache, dass du kein Kopftuch trägst, darauf geschlossen, dass du deswegen ungläubig bist.

Einen zweiten Gelehrten, den man nennen könnte, wäre Ibn Tamir. Das ist ein Gelehrter aus dem 13./14. Jahrhundert, der deswegen interessant ist, weil er auch von solchen Kreisen als wichtige Autorität anerkannt wird, die sicherlich keine Reformer sind, sondern die ein direktes Nachahmen des Propheten als Ideal ansehen. Ibn Tamir äußert sich sehr klar zu der Frage des Takfir, also der Frage, ob man jemanden zum Ungläubigen erklären darf oder nicht, und sagt, dass es die Meinung verschiedener großer Gelehrter aus den früheren Jahrhunderten sei, dass dies unter allen Umständen zu vermeiden sei. Er begründet dies damit, dass er sagt: Die Meinungsverschiedenheiten, die unter Muslimen herrschen, bezögen sich nicht auf Dinge, die zwischen Glauben und Unglauben entscheiden würden. Denn würden sie dies, hätte der Prophet sich klar dazu geäußert und es würde die Meinungsverschiedenheit nicht geben. Ibn Tamir äußert sich hier klar, bezieht sich auf andere Gelehrte und sagt, dass dies die Mehrheitsmeinung der muslimischen Gelehrten sei.

Zuletzt gibt es auch eine Überlieferung des Propheten Mohammed selbst, der Friede sei auf ihm. Diese Überlieferung ist enthalten in der Sammlung von Muslim, also eine der beiden als verlässlichst geltenden Sammlungen von Aussprüchen des Propheten Mohammed. In diesem Ausspruch sagt er, dass wenn jemand seinen Bruder zum Ungläubigen erklärt, – wobei nicht leiblicher Bruder hier gemeint ist – dass dann diese Aussage auf einen der beiden zurückfällt. Was sagt dieser Ausspruch jetzt? Ich würde sagen, zuallererst illustriert er die Gefahr, die darin steckt, wenn man jemanden zum Ungläubigen erklärt. Nämlich, es führt tatsächlich zum Ungläubigen, dazu dass jemand ungläubig wird. Es kann sein, dass der Ausspruch alleine Grund dafür ist, dass man selbst ungläubig wird.

[Schnitt auf Hatice]

Hatice: Könnte man zum Beispiel auch sagen, dass sich bestimmte Bewertungsmaßstabe auch ändern?

[Schnitt wieder zurück auf Tim Sievers]

Tim: Das müssen in erster Linie die Rechtsgelehrten entscheiden, ob sie dies können oder nicht. Interessant wird die Frage dann für die Frage nach Glaube oder Unglaube, wenn man an diesen Geboten diesen Glauben festmacht. Und da denke ich, hilft am allermeisten, auf die Meinungen zu verweisen, die eben aus früheren Zeiten überliefert sind. Nämlich tatsächlich, dass die Handlungen an sich üblicherweise nicht als ausreichend angesehen werden, um den Unglauben festzustellen. Das wäre sozusagen der Zauberstab aus dem Hut. Es reicht schlicht nicht aus, zu sagen: Eine Person hat das und das getan, deswegen kann man sagen, sie ist ungläubig.

[Die Kamera zeigt wieder Hatice.]

Hatice: Ich find's total spannend, dir zuzuhören. Sag mal, was du glaubst, warum andere Menschen anderen Menschen vorwerfen, sie wären ungläubig. Wollen sie sich damit vielleicht abgrenzen?

[Zu sehen ist nun wieder Tim Sievers, seine Art zu sprechen ist nun noch nachdrücklicher als zuvor.]

Tim: Man kann fragen: Warum eigentlich meint ein Mensch, dass er einen anderen Menschen zum Ungläubigen erklären muss oder soll? Und das, denke ich, ist aus der islamischen Tradition heraus schwer zu beantworten, da ja wie eben gesagt verschiedene Gelehrte stark davon abgeraten haben. Und das wird jetzt in Kommentaren unter Videos leichtfertig übergangen und man sagt: Doch, ich erkläre dich aber jetzt zur Ungläubigen. Wahrscheinlich ist deine Vermutung nicht falsch, dass man dadurch eine klare Grenze ziehen möchte zwischen dem, was man selbst für richtig hält und dem, was man für falsch hält. Und man begründet das dann mit dem stärksten Argument, was man finden kann, nämlich mit Gott. Man sagt: Gott ist auf meiner Seite und du bist ungläubig, also bist du falsch. Du bist ganz anders, du gehst in die Hölle. Das ist sicherlich problematisch. Vor allen Dingen, weil man natürlich dann ein Stück weit auch eine Stellung einnimmt, die einem Menschen wahrscheinlich nicht zusteht, nämlich man erhebt sich zum Bestimmer, wer gläubig und wer ungläubig ist.

Niemand kann wissen, was in deinem Herzen ist, außer Gott. Und ein Stück weit natürlich du selbst. Das heißt, Aufrichtigkeit ist hier glaube ich ein ganz wichtiges Wort, da du selbst am besten weißt, ob du aufrichtig glaubst oder ob du dies nicht tust.

[Zu hören ist nun wieder die ruhige Musik vom Anfang des Videos. In Zeitraffer ziehen Wolken vor der Silhouette Frankfurts über den Himmel, dann sind Hatice und Tim zu sehen, die sich einander gegenüberstehen und sich unterhalten. Hatice ist nun wieder als Off-Stimme zu hören.]

Hatice: Für mich war diese Folge besonders spannend. Deswegen lass ich jetzt erst mal alles sacken und freue mich darauf, mit euch in den Kommentaren zu diskutieren.

[Folgende Filmbilder sind zu sehen, während im Hintergrund weiterhin die ruhige Musik läuft: In Begleitung von Tim Sievers läuft Hatice mit Mantel, Umhängetasche und Rollkoffer auf der Straße, eine Panoramaaufnahme der Frankfurter Altstadt, Hatice im Taxi, die Stadtlandschaft mit dunklen Wolken aus dem Fenster des Fahrzeugs. Dann sehen wir wieder Hatice in Frontalaufnahme, die direkt in die Kamera spricht. Im Hintergrund verschwommen ein belebter Platz mit vorbeifahrenden Autos, abgestellten Fahrrädern und Cafés.]

Hatice: Ich bin jetzt auf dem Weg nach Hause und lass das Ganze jetzt erst mal sacken. Ich möchte mich noch mal ganz herzlich bei Tim bedanken und bei der Bundeszentrale für politische Bildung, dass wir das Ganze hier machen dürfen. Und wenn ihr jetzt noch Fragen habt, dann schreibt das einfach in die Kommentare. Wir haben wieder Expertinnen und Experten zu Verfügung, die uns unsere Fragen beantworten. Und ich hoffe, dass ihr nächste Woche wieder dabei seid.

[Schließlich ist die handschriftliche Einblendung "Herzlichen Dank an Euch fürs Zuschauen!" vor dem unscharfen Hintergrund der Silhouette Frankfurts zu sehen. Der Wortteil "herz" in "herzlich" ist mit einem kleinem Herzsymbol dargestellt. Dann wird der Film ausgeblendet]

Mehr Informationen

  • Redaktion, Kamera, Schnitt, Drehbuch, Musik, Ton: Meimberg GmbH

  • Sprecher: Hatice Schmidt, Tim Sievers

  • Wissenschaftliche Beratung: Saliha Kubilay, Marie Meimberg, Prof. Dr. Armina Omerika

  • Gesprächspartner: Tim Sievers

  • Produktion: 29/10/2015

  • Spieldauer: 11 Min.

  • hrsg. von: Bundeszentrale für politische Bildung

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