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Wohlfahrtsstaat in Europa | bpb.de

Wohlfahrtsstaat in Europa

J. Schmid

Ein Wohlfahrtsstaat (W.) leistet eine rechtlich verbürgte soziale Sicherung und Förderung aller seiner Bürger, indem er monetäre Transfers, soziale Dienste und Infrastruktur zur Verfügung stellt. Auf diese Weise kommt es zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, die als »sozialer Fortschritt« bezeichnet wird. Dies ist zugleich ein Element des »Europäischen Modells« und eine Besonderheit im Vergleich zu anderen Regionen der Welt. Das gilt nicht nur für die Nationalstaaten, sondern ebenfalls für die EU als supranationale Einheit. In diesem Sinne wird etwa im Entwurf der Verfassung der Union folgendes Ziel vorgegeben: »Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.« (Teil II, Art. 3, Abs. 3). In den unterschiedlichen W. in Europa geht es zwar überall um die Bewältigung von klassischen Standardrisiken der modernen Gesellschaft, v. a. Krankheit, Alter, Unfall und Arbeitslosigkeit, die inzwischen um die Bereiche Pflege, Erziehung, Bildung, Familie und Armut, aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik und Konsumentenschutz erweitert worden sind; zugleich aber sind die nationalen Unterschiede beträchtlich. Das gilt sowohl für das Niveau der Ausgaben für den W. als auch für die Ziele: Man findet mittlere bis hohe Ausgaben und eine vorwiegend an den klassischen Sozialversicherungen ausgerichtete Vorstellung von W., die eher als Sozialpolitik bezeichnet wird (z. B. Deutschland) neben einem weiter gefassten Konzept von W., das alle nicht-militärischen Staatsaufgaben in sich vereint und sehr hohe Ausgaben tätigt (z. B. Skandinavien). Die Dynamiken und Unterschiede der europäischen W. lassen sich in eine Reihe von Merkmalen und Typen unterteilen. Als Erklärungen für die Unterschiede werden genannt:

1. der sozialökonomische Problemdruck (starke Anbindung des W. etwa an Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit und Demografie);

2. die Verteilung der Machtressourcen sowie die Organisations- und Konfliktfähigkeit gesellschaftlicher Gruppierungen;

3. die Unterschiede zwischen Parteien (v. a. Sozialdemokraten betreiben den Ausbau des W.);

4. internationale Faktoren (d. h. der Einfluss der Globalisierung und der EU-Aktivitäten auf den W.);

5. politisch-institutionelle Determinanten (der W. wird etwa durch den Föderalismus und die direkte Demokratie gebremst; frühere Entscheidungen legen Entwicklungspfade fest, die kaum revidierbar sind).

Eine bekannte Typologie stammt von dem Wissenschaftler Gøsta Esping-Andersen. Seine 3 »Welten des Wohlfahrtskapitalismus« (1990) stellen unterschiedliche Formen der Institutionalisierung von sozialer Sicherung und Vollbeschäftigung in Rechnung, die auf unterschiedlichen politischen Ideologien beruhen. Auch liegen ihnen verschiedene Muster sozialer Schichtung und Ungleichheit zugrunde, die wiederum eng mit dem Arbeitsmarkt zusammenhängen. Sie zeichnen sich in ihrer Geschichte durch eine hohe Stabilität aus, die aus dem institutionellen Gefüge des jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Modells erwächst und mit den daraus entstehenden Kosten für grundlegende Reformen in Verbindung steht. Jeder Wohlfahrtsstaatstypus produziert auf diese Weise seine eigenen charakteristischen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Programme, Leistungen und Zugangskonditionen (manchmal Barrieren). Zugleich hat jeder dieser 3 Typen gegenwärtig andere Probleme und Grenzen der Entwicklung. So weisen etwa konservative Regierungen (z. B. im Bereich Beschäftigung) oder auch christdemokratische Regierungen (im Bereich Familie und Kinder) bestimmte Defizite auf. Grob skizziert ergibt sich folgende »Landkarte«:

• Im skand. oder »sozialdemokratischen« Wohlfahrtsstaat, wie er auf der Basis einer starken Arbeiterbewegung und langjähriger sozialdemokratischer Regierungsaktivitäten in Schweden, Norwegen und Dänemark realisiert worden ist, wird eine universelle Versorgung auf höchstem (qualitativen und quantitativen) Niveau angestrebt, wobei soziale Bürgerrechte die Anspruchsgrundlage bilden. Ferner sind hier die Sozialausgaben sehr hoch, z. B. in Schweden bei über 50 % des Staatshaushaltes. Die Wirtschaftspolitik ist antizyklisch und die Arbeitsmarktpolitik aktiv ausgerichtet, was eine annähernde Vollbeschäftigung und ein relativ hohes Maß an sozialer Gleichheit erzeugt. Auch die Bildungspolitik genießt hohe Priorität.

• Die liberalen Wohlfahrtsstaaten, also die USA, Kanada, Australien und seit Thatcher verstärkt Großbritannien, bilden dazu den Gegenpol. Hier werden v. a. die zentrale Rolle des freien Marktes und der Familie betont, die Arbeiterbewegung bzw. die Sozialdemokratie spielen nur eine geringe Rolle. Soziale Anspruchsrechte sind niedrig angesiedelt, ja mit individuellen Bedürftigkeitsprüfungen und geringen Leistungen verbunden sowie mit sozialer Stigmatisierung behaftet. Insgesamt herrscht damit ein starker, institutionalisierter Zwang zur Lohnarbeit, soziale Unsicherheit wird außerdem als Motor ökonomischer Entwicklung angesehen. Allerdings wird für Bildung bemerkenswert viel Geld ausgegeben und die Dynamik des Arbeitsmarktes schafft auch tatsächlich hohe Beschäftigungsraten.

• Der kontinentaleurop. oder »konservative« Typ des Wohlfahrtsstaats schließlich, der in Österreich, Frankreich, Italien und Deutschland anzutreffen ist, interveniert zwar stärker und leistet mehr. Freilich macht er dies eher temporär begrenzt und oft nur aus staatspolitischen, paternalistischen Gründen, denn in diesen Regimen haben lange die nationalen konservativen Eliten dominiert; zudem werden oft starke christliche und korporatistische Kräfte wirksam, was eine gewisse sozialpolitische Ambivalenz erzeugt. Der konservative Typus ist stark lohnarbeits- und sozialversicherungszentriert, d. h. soziale Rechte sind an Klasse und Status gebunden; dementsprechend bleibt die soziale Ungleichheit relativ groß.

• Der Typ des südeurop. oder rudimentären Wohlfahrtsstaats (Spanien, Portugal, Griechenland und teilweise Italien) zeichnet sich dadurch aus, dass hier die Systeme der sozialen Sicherung nur partiell entwickelt und noch traditionelle, nicht-staatliche Formen der sozialen Unterstützung (Kirchengemeinde, Familie) relevant sind. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass es sich um weniger industrialisierte, strukturschwache und arme Länder handelt, also auch nur relativ geringe Einkommen am Markt erzielt werden.

• Als weiterer Typ lässt sich der mittelosteurop. oder »postsozialistische« Wohlfahrtsstaat nennen, der die Staaten des ehemaligen Ostblocks umfasst. Hier sind zum einen die Folgen der politischökonomischen Transformation zu bewältigen, zum anderen sind die institutionellen Fundamente des Wohlfahrtsstaats noch jung und schwach.

Inzwischen haben sich diese idealtypischen Unterschiede etwas verschoben, wobei sich neben einem sog. Fahrstuhleffekt (es gibt Veränderungen, aber weiterhin existieren Unterschiede zwischen den verschiedenen W.-Modellen) eine gewisse Tendenz der Liberalisierung zeigt. »Flexicurity« und »Employability« sind die neuen Stichwörter einer Strategie, die eine weniger starre Sicherheit vorsieht. Zudem wirkt die EU vereinheitlichend, durch ein gemeinsames Recht, die Anpassungszwänge des Binnenmarktes, auch finanzielle Hilfe (Europäischer Sozialfonds) sowie die »offene Methode der Koordinierung«.

Doch bleibt auch im 21. Jh. vieles beim Alten: Europa und der W. sind – entgegen allen Thesen vom Ende des W. – weiterhin eine Weltregion mit hohem Wohlstands- und sozialem Sicherheitsniveau, aber in sich sehr heterogen, was erhebliche Konfliktpotenziale zwischen Politik und Ökonomie, zwischen Demokratie und Kapitalismus sowie zwischen nationaler und europ. Ebene beinhaltet und entsprechend komplexe Abstimmungs- und Verhandlungsmethoden erfordert.

Literatur

  • J. Schmid: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, 3. Aufl., Wiesbaden 2010.

  • M. G. Schmidt u. a.: Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich, Wiesbaden 2007.

  • K. Schubert/S. Hegelich/U. Bazant (Hg.): Europäische Wohlfahrtssysteme. Ein Handbuch, Wiesbaden 2008.

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: J. Schmid

Fussnoten

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