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Nordirlandkonflikt | bpb.de

Nordirlandkonflikt

R.Sturm

Auf den ersten Blick herrscht Frieden in Nordirland. Mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 begann eine Periode politischer Stabilität. Stabilität heißt in Nordirland aber nicht die völlige Abwesenheit von Übergriffen des einen oder anderen politischen Lagers. Auch wenn in der Presse oft zu lesen war, dass es Protestanten und Katholiken sind, die sich unversöhnlich gegenüber stehen, sollte nicht das Missverständnis entstehen, dass der gesellschaftliche Konflikt in Nordirland religiös begründet ist. Vielmehr ist er Ergebnis der irischen Teilung des Jahres 1920, die im Süden einen irischen Freistaat bestehend aus 26 Grafschaften ermöglichte (die heutige Republik Irland). Den sechs Grafschaften im Norden wurde eine fortdauernde Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich garantiert.

In den Grenzen Nordirlands lebten nun fast 50 % Nordiren, deren Loyalität der Republik Irland galt, die (kath.) Nationalisten. Die Mehrheit in Nordirland hielt loyal zum Vereinigten Königreich, waren also (protest.) Unionisten. Die irische Teilung schuf eine »doppelte Minderheitenposition« für die Bevölkerung Nordirlands. Zum einen wurden die Nationalisten eine Minderheit in Nordirland. Zum anderen gehörten sie aber noch immer zur gesamtirischen Mehrheit, die aus der Sicht der Unionisten, einer Minderheit in Gesamtirland, die Identität der Unionisten als Briten bedroht. Die Unionisten folgerten daraus, dass sie ihre Vorherrschaft in Nordirland bestmöglich absichern sollten. Aus der Diskriminierung der Nationalisten und der Abwehrhaltung der Unionisten entstand ein Misstrauenspotenzial, das – bestärkt durch den 30-jährigen nordirischen Bürgerkrieg von Nationalisten und Unionisten (ca. 1968–98) – bis heute nicht abgebaut werden konnte.

Brit. Regierungen versuchten sich anfänglich als Mittler zwischen den Konfliktparteien. Sie wurden aber rasch in den Konflikt einbezogen und von den Nationalisten als Stütze der unionistischen Vorherrschaft bekämpft. Die irischen Regierungen sympathisierten mit den Nationalisten und sahen sich in der Pflicht, ihre Landsleute im Norden mit diplomatischen Mitteln, zum Teil auch durch Duldung bewaffneter nationalistischer Aufständischer zu unterstützen.

Die politische Umsetzung des Karfreitagsabkommens wird vom Denken in Kategorien politischer Lager beherrscht. Anfangs dominierten bei den Nationalisten durch die Stärke der Social Democratic and Labour Party noch die gemäßigten Kräfte. Gleiches galt für das unionistische Lager, in dem die Ulster Unionist Party die stärkste Partei war. Die Wähler beider Lager setzten aber nicht auf die gemäßigten Parteien, sondern machten seit den Wahlen zum nordirischen Parlament von 2003 die radikalen Alternativen, nämlich die Democratic Unionist Party (DUP) im unionistischen Lager und die Sinn Féin Partei im nationalistischen Lager, zu den stärksten politischen Kräften in Nordirland. Das nordirische Parteiensystem bleibt polarisiert, die Unionisten sind das größere Lager, eine »Mitte«, die helfen könnte, die Lager aufzulösen, fehlt fast vollständig.

Das Karfreitagsabkommen sieht zur Befriedung des Landes eine lagerübergreifende Regierung vor. Diese scheiterte 2017 und es gelang auch nach Neuwahlen 2017 nicht, eine solche ins Amt zu bringen. In der entscheidenden Phase der Brexit-Verhandlungen war Nordirland, das in seiner Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, ohne Stimme. Die unionistische DUP verschaffte sich zeitweise durch ein Unterstützungsabkommen für die konservative Regierung Theresa May Gehör, konnte aber nicht verhindern, dass der seit 2019 regierende Premierminister Boris Johnson ein Austrittsabkommen mit der EU vereinbarte, das nach dem Brexit auf Dauer die wirtschaftliche Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs in der Irischen See zieht. Damit wird Nordirland stärker an die Republik Irland gebunden, und die Nationalisten hoffen längerfristig auf ein Referendum, das die irische Einheit herstellen könnte. Offen ist, ob die britische Regierung ihr Versprechen einlösen kann, die nach dem Brexit entfallenden Mittel aus den EU-Agrar- und Strukturfonds zu ersetzen.

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: R.Sturm

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