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Psychosoziale Aspekte von Radikalität und Extremismus | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

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Psychosoziale Aspekte von Radikalität und Extremismus "In der Gruppe bin ich wer …"

Winnie Plha Rebecca Friedmann

/ 9 Minuten zu lesen

Extremistische Gruppen ermöglichen ihren Mitgliedern, Konflikte zu kompensieren – sowohl Konflikte, die in einer Person selbst liegen (intrapsychische Konflikte) als auch Konflikte in der Beziehung zu anderen Menschen (interpersonelle Konflikte). Rebecca Friedmann und Winnie Plha schildern intrapsychische und interpersonelle Phänomene, die sich in der pädagogischen Praxis häufig beobachten lassen und skizzieren, wie Distanzierungsarbeit diese berücksichtigen kann.

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Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Psychologie und Psychotherapie".

Die Diskussion über Radikalität und Extremismus zeichnet sich nicht nur durch Emotionalisierung aus, sondern auch durch die Unschärfe der Diskussionsgegenstände. Deren Definitionen sind bislang ebenso uneinheitlich, wie die Annahmen über die Ursachen und Verläufe (u. a. Aslan et al. 2018, De Jongh et al. 2018). Radikalisierungsprozesse lassen sich vor allem in der krisenhaften Phase der Adoleszenz beobachten. Die pädagogische Praxis reagiert darauf mit unterschiedlichen Ansätzen. Während 83 Prozent der staatlichen Träger eher phänomenspezifische Angebote machen – sich phänomenologisch also mit nur einem Feld auseinandersetzen (bspw. dem Rechtsextremismus) und 14 Prozent phänomenübergreifend arbeiten, sich also mit mindestens zwei Phänomenfeldern beschäftigen, bieten nur drei Prozent phänomenunspezifische Maßnahmen an. Damit sind Ansätze gemeint, die die Prävention von Extremismus zum Ziel haben, ohne ein spezifisches Phänomen zu adressieren. Unserer Einschätzung nach sind es aber gerade diese, meist ideologieunabhängigen Angebote, die junge Menschen befähigen, sich von radikalen Gruppen abwenden zu können.

Extremistische Gruppen "helfen" bei der Bewältigung von Konflikten

Den meisten der phänomenübergreifenden Programme liegt das Wissen zugrunde, dass demokratie- und/oder menschenfeindliche Überzeugungen vor allem der Entlastung von massiven innerpsychischen Spannungszuständen dienen und angstreduzierend wirken können. Welcher Weltanschauung beziehungsweise (pseudo-)religiösen oder völkisch-rassistischen Überzeugung sich ein Mensch letztlich anschließt, scheint dabei eher in seiner individuellen Biografie begründet zu sein sowie von Verfügbarkeiten und Gelegenheiten abzuhängen.

Die Angebote der verschiedenen extremistischen Gruppen unterscheiden sich auf intrapsychischer und interpersoneller Ebene kaum. Ihnen ist gemein, dass sie ihren Mitgliedern die Möglichkeit geben, sowohl in ihnen selbst liegende (intrapsychische) Konflikte als auch in der Beziehung zu anderen liegende (interpersonelle) Konflikte zu kompensieren (jedoch ohne sie tatsächlich zu bewältigen, so dass die Gruppe zur Stabilität unbedingt benötigt wird). Als Teil einer elitären Gruppe gelingt es, ein instabiles Selbstwertgefühl zu stabilisieren, im Angesicht der konstruierten Feindgruppe können destruktive innere Dialoge projiziert und niedergekämpft werden, affektive Durchbrüche werden mitunter positiv bestätigt, eine unverständliche Umwelt wird durch Ideologie einfach strukturiert und verstehbar. Dies sind nur einige Aspekte, an denen sich Übereinstimmungen im Angebot der Gruppe und den psychosozialen Bedürfnissen ihrer Mitglieder verdeutlichen lassen.

In der Fachdebatte herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die meisten Menschen, die sich radikalisieren, nicht psychisch krank sind, dass sie aber häufig bereits im Vorfeld der Radikalisierung ein "antisoziales Verhalten" zeigen. Nicht selten geht dem Anschluss an eine radikale Gruppierung eine kriminelle Vergangenheit voran. Aus einer psychiatrischen Perspektive konstatiert unter anderem Saimeh (2017), dass es insbesondere, narzisstische, dissoziale und paranoide Züge sind, die als Risikofaktoren für eine Radikalisierung in Frage kommen können.

In der pädagogischen Praxis ist die Einteilung in "gesund" und "krank" nicht hilfreich. Um entwicklungsförderlich intervenieren zu können, müssen vor allem die alltäglichen Auswirkungen intrapsychischer und interpersoneller Einschränkungen im Selbsterleben und der Beziehungsgestaltung verstanden werden. Häufig deuten "Störungen des Sozialen" auf negative Beziehungsentwürfe (sog. "Arbeitsmodelle") von Klientinnen und Klienten hin, die als maladaptive Bewältigungsleistungen frühkindlicher traumatisierender oder vernachlässigender Erfahrungen zu verstehen sind. Diese frühen (und zunächst hilfreichen) Anpassungen des Kindes an beschädigende Beziehungserfahrungen können ohne pädagogische oder psychotherapeutische Bearbeitung zu persistierenden psychosozialen Einschränkungen führen und fortan Wahrnehmung und Erleben prägen. So passt sich ein Kind vielleicht an, indem es sich gerade nicht in den willkürlich schlagenden Vater einfühlt, dem das Kind immer wieder hilflos ausgeliefert ist. Die Fähigkeit der empathischen Einfühlung wird also suspendiert, um sich vor den destruktiven Gefühlen des Vaters zu schützen. Das Kind distanziert sich dann gegebenenfalls auch im Lebensverlauf innerlich von anderen Personen in ähnlicher Weise, weil die damit verbundene potentielle Gefahr größer ist, als der psychische Nutzen.

Einige der im Folgenden geschilderten psychischen und interpersonellen Phänomene, die sich in der pädagogischen Praxis häufig beobachten lassen, prädestinieren Menschen geradezu, sich radikalen Gruppen anzuschließen, die unter anderem durch ihre Struktur, Sinngebung und Übersichtlichkeit von (teilweise unaushaltbarer) innerer Spannung entlasten. Im Grunde muss es eher erstaunen, wie viele Menschen psychisch stabil genug sind, um eine pluralistische, diverse, demokratische und damit völlig uneindeutige Welt voller Ambivalenz zu ertragen.

Vor dem Hintergrund bestimmter psychosozialer Problematiken entfaltet der Anschluss an eine radikale oder extremistische Gruppierung für diese Klientinnen und Klienten also eine entlastende Wirkung. Verhaltensweisen, die außerhalb als problematisch wahrgenommen werden können, gelten innerhalb der Gruppe mitunter sogar als Ressource.

Einschränkungen der Regulationsfunktionen, die Radikalisierung begünstigen können

Einige der Klientinnen und Klienten geraten durch bewusst oder unbewusst erlebte Frustration, Beschämung oder Hilflosigkeit in eine hohe affektive Spannung, die manchmal über Tage hinweg gehalten werden kann und sich dann vermeintlich spontan in Gewalthandlungen "entlädt". Die eigenen inneren Dialoge werden auf vermeintliche Angehörige abgelehnter Gruppen projiziert und dort (externalisiert) bekämpft. Gelingt es, diese aggressiven Impulse auf die als "Feindgruppe" definierten "Anderen" zu lenken, wird das von der Gruppe anerkennend wahrgenommen und positiv verstärkt. Aus dem inneren Dialog "Ich bin nur Dreck!" wird, auf die homogenisierte Feindgruppe projiziert, "Die sind nur Dreck!". Der "Andere" wird als Teil einer Gruppe gesehen, entmenschlicht und "angemessen" bestraft. Der affektive Durchbruch kann so gerechtfertigt werden und rückt ins Zeichen einer guten Sache und eines höheren Ziels.

Allen radikalen Gruppen ist die "Wir-Die"-Dichotomie inhärent. Sie wird genutzt, um Feindbilder zu konstruieren. Durch die Gruppe werden dichotome Erklärungsmuster angeboten, die komplexe Zusammenhänge vereinfachen und verstehbar machen. Menschen, die Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten nicht gut aushalten können, haben daher ein höheres Risiko, sich zu radikalisieren. Das gleichzeitige Vorhandensein widersprüchlicher Gedanken oder Gefühle ist für sie nicht möglich, was dazu führt, dass die Welt in "gut/böse", in "wir/die" oder in "richtig/falsch" gespalten werden muss. Eine dichotome Teilung der Welt und damit einhergehende simplifizierende Erklärungen sind elementare Bestandteile radikaler Überzeugung. Hasstaten (die vermeintlich "das Böse" vernichten und "das Gute" schützen) werden in der Gruppe legitimiert und Täter erhalten moralische Absolution.

Viele der Klientinnen und Klienten leiden unter unaushaltbaren (und deshalb oft vom bewussten Erleben ferngehalten) Schuldgefühlen, die sich durch projizierte Rache- oder Hassimpulse zeigen können. Dabei wird die eigene überstrenge innere Stimme (z. B. "Ich darf keine Fehler machen. Sollte das doch passieren, verdiene ich dafür eine erbarmungslose Strafe.") auf andere Menschen projiziert und externalisiert bekämpft (z. B.: "Der hat einen Fehler gemacht, das darf der nicht, der muss dafür hart bestraft werden."). Durch die kollektiv konstruierten, depersonalisierten Feindbilder können Rache- und Hassfantasien offen ausgelebt werden und finden entsprechende Legitimation in der ideologischen Überzeugung der Gruppe. Die aus überstarkem Schuldgefühl entstehenden Rachefantasien werden agiert (also unbewusst in Handlung gebracht), damit das Böse/Schlechte/Fehlerhafte bekämpft wird. Insofern kann die extremistische Ideologie dabei helfen, Schuldgefühle abzuwehren.

Häufig haben radikalisierte junge Menschen kein sicheres Gefühl dafür, wer sie sind und können keinen stabilen, krisenfesten Identitätsentwurf entwickeln. Damit einher geht meist das unerträgliche Gefühl innerer Wertlosigkeit, das durch den Wunsch nach Übereinstimmung mit wichtigen Personen oder aber durch Grandiositätsfantasien gelindert wird. Wer sich der Gruppe zuwendet und bereit ist, die jeweiligen Überzeugungen zu vertreten, erfährt (vorerst bedingungslose) Wertschätzung und Anerkennung. Untereinander wird vollständige Übereinstimmung hergestellt, die Individualität des Einzelnen weicht dem Kollektiv und dem gemeinsamen höheren Ziel. Durch die stetige positive Rückmeldung der Gruppe und die Überhöhung der Mitglieder werden Wünsche nach Verschmelzung und Bedeutung erfüllt. Eine besondere Relevanz haben zudem idealisierte, charismatische Anführer, die zu Identifikationsobjekten werden und deren Glanz auf die Gruppenmitglieder abfärbt. Ein instabiles Selbstwertgefühl wird durch das Beziehungsangebot der Gruppe extern reguliert.

Psychosoziale Kompetenz ist die Grundlage für Distanzierung

Obwohl hier nur wenige Aspekte dargestellt werden konnten, die Radikalisierungsprozesse begünstigen können, ist offenkundig, dass diese Einschränkungen im (Beziehungs-)Angebot der Gruppe ihre reziproke Entsprechung finden. Sind Radikalisierungsprozesse vorrangig auf intrapsychische und interpersonelle Einschränkungen zurückzuführen, kann der Anschluss an eine radikale oder extremistische Gruppe der Kompensation innerer Spannungszustände dienen. In diesen Fällen wird die pädagogische Auseinandersetzung mit der ideologischen Überzeugung nicht zum Erfolg führen.

Ein Beispiel aus der Praxis:

Herr D. wurde wegen diverser schwerer Körperverletzungsdelikte zu einer Teilnahme am pädagogischen "Blickwechsel-Training" verurteilt. In früher Kindheit war er massiven Übergriffen eines strengen Vaters ausgesetzt. Seine Straftaten legitimierte er nachträglich immer damit, dass es sich bei seinen Opfern ja schließlich nicht um Menschen, sondern "kuffar" (Ungläubige) handele. Auch im Training beharrte Herr D. zunächst auf der gruppenbezogenen menschenfeindlichen Legitimation seiner Taten. Im Verlauf der ersten Sitzungen zeigte sich, dass der Klient auch in anderen Beziehungen und Situationen penibel darauf achtete, dass keine "heiligen" Regeln verletzt wurden. Passierte dies doch, reagierte er mit unbändigem Zorn und dem Wunsch nach Vergeltung für die ungeheuerliche Tat.

Sein vermeintlich religiös begründetes überstrenges Regelverständnis war der alleinige Maßstab. Kontextvariablen oder abweichende Motive des "Regelbrechers" konnte er nicht mit einbeziehen. Er verstand sich als "Wächter" und sah sich in der Pflicht, bei wahrgenommenen Regelbrüchen auch Gewalt anzuwenden, um die "Ordnung wiederherzustellen". Auf Grundlage einer pädagogischen Interaktionsdiagnostik konnte der Blickwechsel-Trainer mit Herrn D. vereinbaren, dass die beiden zunächst an der unerbittlichen Strenge des Klienten arbeiten und außerdem gemeinsam überlegen würden, wie es gelingen kann, dass der Hass nicht in Handlung "schwappt". Die Schuldthematik galt es zuerst zu fokussieren, da Herr D. immer wieder mit Gewalt auf wahrgenommene Regelbrüche reagierte.

Es zeigte sich schnell, dass der Klient sich selbst in ein Korsett der Regeln und Verbote zu zwängen versuchte, die er niemals einzuhalten vermochte. Sein Selbsthass dafür wurde im Training zunehmend spürbar. Der Trainer brachte seine eigene (milde) Haltung immer wieder mit ein, überlegte mit dem Klienten zusammen, wie man Situationen anders bewerten könnte. Herr D. reagierte zunehmend entlastet auf diese Haltung und fing an, sich kleinere Fehler zu verzeihen. Er war nach und nach immer öfter verunsichert über die eine "richtige" Haltung/Entscheidung/Meinung und dachte angestrengt darüber nach, warum sein geschätzter Trainer eine Situation so völlig anders sehen konnte.

Im Verlauf der letzten Trainingsphase steigerte Herr D. unter anderem seine Fehlertoleranz anderen gegenüber und entwickelte effektive, sozial angemessene Wege, seinem Missfallen Ausdruck zu verleihen. Diese zunehmend differenzierte Haltung strengte Herrn D. zwar mehr an als früher, aber sie entlastete ihn auch, da sich in seinem Alltag auf wundersame Weise sehr viel weniger Regelkonflikte ereigneten, denen er zu begegnen hatte.

Radikalisierung findet durch ein spezifisches Beziehungsangebot statt, das solche Gruppen immer in vergleichbarer Weise anbieten: Autorität, Sinn, Bedeutung, Eindeutigkeit, Struktur und Überlegenheit. Die Distanzierung oder "Deradikalisierung" kann dann nur durch eine korrigierende Beziehungserfahrung erfolgen, die innerpsychische Stabilität zur Folge hat. Dazu braucht es unserer Ansicht nach ein Verständnis über die Innenwelten der Klientinnen und Klienten und eine sichere Einschätzung der innerpsychischen und interpersonellen Funktionen, die einen Einfluss auf die Hinwendung zu einer extremistischen Gruppierung hatten. Mit diesem Wissen und einer wertschätzenden, zugewandten und klaren professionellen Haltung der pädagogischen Fachkraft kann individuell und gezielt entwicklungsförderlich gearbeitet werden. Ziel ist die Stabilisierung des jungen Menschen, welche ihn beziehungsweise sie in die Lage versetzt, sich von radikalen Gruppen abzuwenden.

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Quellen / Literatur

Aslan, Ednan; Erşan Akkılıç, Evrim; Hämmerle, Maximilian (2018): Islamistische Radikalisierung. Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden (Wiener Beiträge zur Islamforschung).

Benslama, Fethi (2017): Der Übermuslim. Berlin: Matthes & Seitz.

Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz und Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (2016): Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Fortschreibung 2016. Hg. v. Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz und Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus. Online verfügbar unter Externer Link: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2016AnalyseRadikalisierungsgruendeSyrienIrakAusreisende.html, zuletzt geprüft am 22.04.2019.

Crenshaw, Martha (1981): The Causes of Terrorism. In: Comparative Politics 13 (4), S. 379–399.

De Jongh, Lili Anne; Guilabert, Natalie Garcia; Jimenéz, Raquel; Kordaczuk-Was, Marzena; Legas Cervantes, Francisco; Moore, Marianne (2018): Prävention der Radikalisierung Jugendlicher. Ein Handbuch für Fachleute. Hg. v. International Juvenile Justice Observatory.

Friedmann, Rebecca (2015): Praxisrelevante Differenzierung der Handlungsmotive von Gewalttätern. Dissertation. Humboldt Universität, Berlin. Online verfügbar unter Externer Link: https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/17949, zuletzt geprüft am 20.11.2018.

Friedmann, Rebecca; Plha, Winnie (2017): Auf der Suche nach Orientierung. Risikofaktoren für Radikalisierung aus psychodynamisch-pädagogischer Perspektive. In: Bernd Traxl (Hg.): Aggression, Gewalt und Radikalisierung. Psychodynamisches Verständnis und therapeutisches Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, S. 219–243.

Glaser, Michaela (2016): Was ist übertragbar, was ist spezifisch? | bpb. Hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung. Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter Interner Link: http://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/239365/rechtsextremismus-und-islamistischer-extremismus-im-jugendalter?p=all, zuletzt geprüft am 31.01.2018.

Gruber, Florian; Lützinger, Saskia; Kemmesies, Uwe E. (2016): Extremismusprävention in Deutschland – Erhebung und Darstellung der Präventionslandschaft. Schwerpunktdarstellung Präventionsprojekte in staatlicher Trägerschaft (2014/2015). Unter Mitarbeit von Iris Klima, Georg Sielaff und Stefan Wick. Hg. v. KI 11 – Forschungs- und Beratungsstelle Terrorismus/Extremismus. Bundeskriminalamt. Wiesbaden. Online verfügbar unter Externer Link: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2016ExtremismuspraeventionInDeutschland.html, zuletzt geprüft am 26.11.2018.

Herding, Maruta; Langner, Joachim (2015): Wie Jugendliche zu Islamisten werden. In: Deutsches Jugendinstitut (DJI) (Hg.): Jung und Radikal. Politische Gewalt im Jugendalter. DJI Impulse (1).

Herding, Maruta (2013): Forschungslandschaft und zentrale Befunde zu radikalem Islam im Jugendalter. In: Maruta Herding (Hg.): Radikaler Islam im Jugendalter. Erscheinungsform, Ursachen, Kontexte. Deutsches Jugendinstitut (DJI). Halle/Saale, S. 21–39.

Sageman, Marc (2004): Understanding terror networks. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.

Saimeh, Nahlah (2017): Radikalisierung aus forensisch-psychiatrischer Perspektive. Interdisziplinäres Wissenschaftliches Kompetenznetzwerk Deradikalisierung. Denkzeit-Gesellschaft. Berlin, 28.08.2017.

Streeck, Ulrich (2012): Braucht soziale Arbeit mit dissozialen Jugendlichen psychotherapeutisches Wissen? In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ) 23 (1/12), S. 57–60.

Streeck, Ulrich (2015): Instrument zur Diagnostik von Funktionen der Selbst- und der Beziehungsregulierung, Weiterbildungsmaterial der Denkzeit-Gesellschaft e.V., nicht öffentlich zugänglich.

Traxl, Bernd (Hg.) (2017): Aggression, Gewalt und Radikalisierung. Psychodynamisches Verständnis und therapeutisches Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Brandes & Apsel Verlag GmbH. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.

Venhaus, John M. (2010): Why Youth Join Al-Qaida. United States Institute of Peace. Washington (Special Report, 236). Online verfügbar unter: Externer Link: www.usip.us, zuletzt geprüft am 25.09.2018.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Unter anderem Glaser 2016, S. 6 f.; Herding & Langner 2015, S. 14; Herding 2013, S. 24; Benslama 2017, S. 32.

  2. Gruber et al. 2016, S. 12 f.

  3. Vgl. ebd.

  4. Zum Beispiel im Programm Blickwechsel der gemeinnützigen Denkzeit-Gesellschaft e. V., siehe dazu Externer Link: www.denkzeit.com.

  5. Friedmann & Plha 2017, S. 227.

  6. Unter andere, Crenshaw 1981, S. 390; Sageman 2004, S. 97.

  7. Venhaus 2010, S. 4.

  8. Unter anderem Bundeskriminalamt et al. 2016, S. 18 f.

  9. Vgl. Friedmann 2015, S. 13 f.; Streeck 2012.

  10. Vgl. Streeck

  11. Vgl. Stern, Bowlby

  12. Die Klientinnen und Klienten von denen hier und im Folgenden die Rede ist, sind junge Menschen, die im Kontext von Radikalisierung, Devianz oder Delinquenz in sozialpädagogischen Angeboten betreut werden. Der Zugang kann freiwillig, auf richterliche Weisung hin oder über eine stationäre Maßnahme (z. B. in Haft) erfolgen.

  13. Friedmann 2015, S. 142 nach Seiffge-Krenke 2006, S. 178.

  14. Gegebenenfalls auch weit unterhalb der Krankheitsdiagnose.

  15. Dazu ausführlich bei Friedmann und Plha 2017.

  16. Vgl. »intrinsisches Gewaltmotiv« bei Friedmann 2015.

  17. Dazu ausführlich zum Beispiel bei Friedmann 2015, Friedmann und Plha 2017.

  18. Siehe dazu zum Beispiel Friedmann und Plha 2017.

  19. Dazu ausführlich bei Friedmann und Plha 2017

  20. Dies ist eine stark simplifizierte Zusammenfassung eines achtmonatigen Trainings mit 40 Einzelsitzungen.

  21. Streeck 2015 (internes Dokument) & Friedmann und Plha 2017.

  22. »De-Radikalisierung« ist aus unserer Sicht ein etwas unglücklich gewählter Terminus, legt er doch nahe, jemand könne durch ein Programm, einer Gehirnwäsche gleich, dazu gebracht werden, seine Überzeugungen einer vorgegebenen Meinung entsprechend anpassen.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Winnie Plha, Rebecca Friedmann für bpb.de

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Fachliche Schwerpunkte: Radikalität und Extremismus, psychoanalytische Pädagogik, pädagogische Diagnostik, Krisentheorie und Intervention, Delinquenz

Prof. Dr. Rebecca Friedmann, Professur für Theorie und Praxis der Sozialpädagogik im Department Pädagogik und Soziales an der Medical School Berlin, Leitung der Denkzeit-Gesellschaft e. V.

Fachliche Schwerpunkte: psychoanalytische Pädagogik, psychosoziale Entwicklung, Traumatisierung, Gewalt, Delinquenz, Radikalisierungsprävention, pädagogische Diagnostik, Entwicklung von Programmen zur Förderung psychosozialer Kompetenzen