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Zehn Stigmavokabeln

Thorsten Eitz

/ 11 Minuten zu lesen

Anschluss, Gleichschaltung, Selektion: Viele in der NS-Zeit benutzte oder neugeschöpfte Wörter sind heute aufgrund ihrer ideologischen Instrumentalisierung stigmatisiert. Ein Überblick auf zehn Vokabeln und ihre Entwicklung.

Wien, 12. März 2008: Mit 80.000 Kerzen gedenken Menschen der Annexion Österreichs durch die Nazis und der Opfer des Krieges. (© AP)

Anschluss

Der Ausdruck Anschluss ist seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen in der Bedeutung "politischer Zusammenschluss" belegt. Er bezeichnet völkerrechtlich den Eintritt eines Staates in einen anderen Staatenverbund bzw. die Angliederung eines Landes an ein anderes.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs bezog er sich vor allem auf den im Vertrag von Saint Germain verbotenen Zusammenschluss Österreichs mit dem Deutschen Reich zu Großdeutschland. Die Nationalsozialisten verboten nach der "Machtergreifung" 1933 die Verwendung des Wortes durch eine Presseanweisung, um ihre Expansions- und Eroberungspläne zu verheimlichen. Nach der Besetzung und Annexion Österreichs am 12.3.1938 war Anschluss reichsgesetzliche Konkurrenzvokabel zu Wiedervereinigung im österreichischen Bundesverfassungsgesetz. Beide Gesetze "legalisierten" den Einmarsch deutscher Truppen.

Nach 1945 wurde die Bezeichnung Anschluss wegen der widerrechtlichen Besetzung Österreichs negativ verwendet. Im Rahmen der sogenannten Saarfrage Mitte der fünfziger Jahre, bei der es um die Rückgliederung des Saargebietes an die Bundesrepublik Deutschland per Volksabstimmung ging, wurde der Ausdruck Anschluss von deutscher Seite verwendet, um die befürchtete Angliederung des Saarlandes an Frankreich zu diskreditieren. In der seit Ende der sechziger Jahre verstärkt einsetzenden Diskussion über eine Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik zur DDR, war immer wieder umstritten, ob eine mögliche Vereinigung als Anschluss zu bewerten sei. Besonders brisant wurde die Vokabel Anschluss und damit der Vergleich mit dem "Anschluss Österreichs" nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989. In der Wendezeit 1989/90 wurde der Ausdruck als diffamierender wie warnender Vergleich gezielt von der SED/PDS, den GRÜNEN, Linken und Intellektuellen – darunter nicht wenige Historiker – aus der DDR und der Bundesrepublik verwendet, um die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Kohl anzugreifen. Sie kritisierten damit die "Fremdbestimmung" des Schicksals der DDR und stellten dem eine positiv betrachtete Selbstbestimmung der DDR gegenüber. Nachdem die Volkskammer der DDR den Beitritt nach Art. 23. GG am 23.8.1990 endgültig beschlossen hatte, setzte sich in der Folgezeit der Verfassungsterminus Beitritt durch, während die stigmatisierende Bezeichnung Anschluss nur noch selten verwendet wurde.

Ausmerze

Der ursprünglich von Schafzüchtern im Sinne von "zur Zucht untaugliche Schafe aus einer Herde aussondern" gebrauchte Ausdruck Ausmerze erscheint um 1900 in Debatten über die Rassenhygiene als Gegensatzwort zu Auslese.

Die Bezeichnung Ausmerze als sozialdarwinistisches Programm (d.h. in der Übertragung des Prinzips der "natürlichen Zuchtwahl" auf menschliche Gesellschaften) sollte die gesetzlichen Maßnahmen der nationalsozialistischen Rassenpflege (d.h. die Eliminierung der sogenannten "rassenbiologisch minderwertigen Elemente") legitimieren. Sie ist wegen ihrer Funktion als zentrales Konzeptwort der NS-Ideologie und dem mit ihm verbundenen NS-Programm der Zwangssterilisationen und der "Ausrottung Minderwertiger" – anders als z.B. Euthanasie oder Auslese – eine nach 1945 tabuisierte und damit gemiedene Bezeichnung. In dieser speziellen historischen Bedeutung wurde und wird sie bis in die Gegenwart nur sehr selten, und wenn überhaupt dann nahezu immer in zitierender Weise verwendet.

Die Ausdrücke ausmerzen und Ausmerzung dagegen wurden nach 1945 durchweg als nicht belastet wahrgenommen und in ihrer früheren Bedeutung "tilgen, ausrotten, eliminieren" problemlos weiterverwendet. Dies führte wohl auch dazu, dass die NS-Bedeutungsfacette in deutschen Wörterbüchern nicht belegt ist. Bis heute finden sich lediglich – anders als z.B. bei lebensunwertes Leben – punktuelle Thematisierungen bzw. Instrumentalisierungen des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs in den verschiedensten gesellschaftspolitischen Kontexten.

Endlösung (der Judenfrage)

Endlösung der Judenfrage ist eine Intensivbildung des seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen politischen Schlagwortes Lösung der Judenfrage. Sie war eine verschleiernde Tarnbezeichnung für den von den Nationalsozialisten systematisch geplanten und vollzogenen Genozid an den Juden Europas. Im amtlichen Schriftverkehr der Nationalsozialisten wurde Endlösung ab Frühjahr 1941 gebräuchlich – zunächst als Umschreibung für die zwangsweise Umsiedlung, dann für die Vernichtung des jüdischen Volkes.

Nach 1945 wurde der organisationsinterne Terminus Endlösung (der Judenfrage) durch die Nürnberger Prozesse öffentlich bekannt und etablierte sich in den kommenden Jahrzehnten in der Folge der Berichterstattung über die NS-Prozesse als Chiffre für den nationalsozialistischen Völkermord. Dennoch wurde der Ausdruck Endlösung auch "neutral" verwendet. Er knüpfte dann an ältere Verwendungstraditionen in anderen Kontexten an ohne seinen spezifischen geschichtlichen Verweischarakter – wie z.B. Mitte der fünfziger Jahre in der Diskussion über die Saarfrage.

Ab Mitte der fünfziger und dann intensiv ab Ende der siebziger Jahre bis in die Gegenwart wird der Ausdruck Endlösung als eine den Genozid instrumentalisierende Vorwurfsvokabel in verschiedenen Kontexten zunehmend inflationär eingesetzt - etwa in der Debatte um die Oder-Neiße-Grenze ["Oder-Neiße-Linie eine 'Endlösung' der Nationalitätenfrage in Europa", DIE ZEIT, 16.8.1956], in der Übertragung auf andere aktuelle Völkermorde ["Endlösung für das Kosovo-Problem", TAZ, 13.4.1999], in der Auseinandersetzung um die Atomkraft ["Endlösung von tödlichem Abfall", DER SPIEGEL, 13, 26.3.1979], in den Diskussionen um die Wiedergutmachung an Fremdarbeitern ["biologischen Endlösung", TAZ, 29.11.1986] oder im Aidsdiskurs ["Endlösung für AIDS-Betroffene", TAZ, 21.5.1987].

Gestapo

Im Berliner Erinnerungsort "Topographie des Terrors" sind Bilder der Opfer von Gestapo und SS zu sehen. (© AP)

Das Abkürzungswort Gestapo (aus Geheime Staatspolizei gebildet) bezeichnet die 1933 zunächst in Preußen, später im ganzen Deutschen Reich eingerichtete politische Polizei der Nationalsozialisten. Ihre Aufgabe war es, alle Bestrebungen, die auf einen Umsturz zielten, zu untersuchen und zu bekämpfen. Hierzu führte sie ohne richterliche Kontrolle Hausdurchsuchungen durch, nahm Menschen in "Schutzhaft", wies sie in Konzentrationslager ein, folterte und mordete. In den Konzentrationslagern war sie für die Vernehmung der Inhaftierten zuständig, stellte Personal für die Einsatzgruppen und war an der Deportation der Juden beteiligt.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Gestapo im Nürnberger Prozess als verbrecherische Organisation wegen ihrer Beteiligung am Holocaust verurteilt und damit verboten. Spätestens seit 1945 gilt die Bezeichnung Gestapo als belastete Vokabel und steht als Chiffre für das totalitäre Terrorsystem der Nationalsozialisten. Nach 1945 wurde das negative semantische Potenzial des Ausdrucks in Vergleichen mit der Institution Gestapo, ihren Methoden oder ihrem Personal ausgenutzt. Als Vorwurfsvokabel wurden Gestapo-Vergleiche zum einen im Kalten Krieg gegenüber der SBZ/DDR und dem ehemaligen Ostblock, zum anderen ab den fünfziger Jahren vorwiegend innenpolitisch in verschiedenen Diskursen instrumentalisiert und ab den fünfziger Jahren kritisch diskutiert.

Die innenpolitische Vergleichspraxis hatte ihre Intensitätsphasen insbesondere während Auseinandersetzungen über den Verfassungsschutz in den fünfziger Jahren, in den öffentlichen Kontroversen während und nach der sogenannten SPIEGEL-Affäre Anfang der sechziger Jahre, der Terrorismusdebatte der siebziger Jahre und ab 1989 in den Debatten über die Vergleichbarkeit von Stasi und Gestapo. Während es hierbei wenigstens teilweise inhaltlich um warnende Institutionenvergleiche ging, wird ab den achtziger Jahren Gestapo inflationär als polemische Vorwurfsvokabel und Schimpfwort verwendet, und dies wird öffentlich als eine die NS-Verbrechen relativierende und verharmlosende Vergleichspraxis kritisiert.

Gleichschaltung

Propoganda-Plakat der Nationalsozialisten zur "Gleichschaltung" der Länder. (© Bundesarchiv, Plak 003-003-026, Grafiker Werner Beucke)

Der ursprünglich aus dem Fachwortschatz der Elektrotechnik stammende Ausdruck Gleichschaltung bezeichnet die unmittelbar nach der "Machtergreifung" und dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes eingeleiteten administrativen Maßnahmen der Nationalsozialisten, um ihre Alleinherrschaft zu sichern. Alle Institutionen und Organisationen des Deutschen Reiches sollten an die nationalsozialistische Ideologie angepasst und an ihre Strukturen angegliedert werden. In dieser Bedeutung taucht das Wort zuerst im am 31.3.1933 erlassenen "Vorläufigen Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich" und im "Zweiten Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich" vom 7.4.1933 auf. Mit dem Erlass dieser beiden Gesetze wurde es im allgemeinen politischen Sprachgebrauch üblich und schnell zu einem oft verwendeten Schlagwort.

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs verfügte das Gesetz Nr. 2 des Alliierten Kontrollrates am 10.10.1945 die Auflösung der NSDAP und aller ihr angeschlossenen, d.h. gleichgeschalteten Organisationen und Verbände. Der Ausdruck Gleichschaltung galt – nicht zuletzt wegen seiner Verwendung in der Anklageschrift im Nürnberger Prozess – als belastete Geschichtsvokabel, die nicht selten durch den Gebrauch von Distanzmarkern wie Anführungszeichen oder sogenannt als solche kenntlich gemacht wurde. In dieser Bedeutung ist der Ausdruck bis heute im Diskurs über die Vergangenheitsbewältigung gebräuchlich. Daneben wird er seitdem in den vielfältigsten Kontexten zwar negativ im Sinne von "unter Zwang auf eine einheitliche Linie bringen", aber auch ohne NS-Belastung gebraucht.

Bemerkenswert ist, dass der Ausdruck Gleichschaltung – anders als andere zentrale Vokabeln des Nationalsozialismus – bis heute nicht sprachlich thematisiert und nur selten warnend bzw. in impliziten wie expliziten NS-Vergleichen verwendet wurde.

Patriotismus

Schwarz-Rot-Goldenes Fahnenmeer: Spätestens seit der Fußball-WM 2006 gilt Patriotismus wieder als Hochwertvokabel. (© AP)

Der Ausdruck Patriotismus bezeichnet eine positive, manchmal auch unkritische und übertrieben stolze emotionale Einstellung dem eigenen Land (Vaterlandsliebe, Nationalgefühl, vaterländische Gesinnung), dessen Geschichte, Werten, Sprache und Traditionen gegenüber.

Während der NS-Zeit wurde die Verwendung des Wortes Patriotismus vermieden und durch das für die nationalsozialistische Ideologie zentrale Schlagwort Volksgemeinschaft abgelöst. Da die mit Patriotismus bezeichnete Gesinnung aber als ursächlich für das NS-Regime und den Krieg galt, wurde der Ausdruck nach 1945 in der Bundesrepublik und mit Bezug auf Deutsche eine belastete, mit Nationalismus gleichgesetzte und weitgehend tabuisierte Stigmavokabel. Frühe Versuche einer Rehabilitierung bzw. Neudefinition konnten sich zunächst nicht durchsetzen, da es die geschichtliche Erfahrung unmöglich machte, an eine ältere, vermeintlich neutrale Verwendungstradition des Ausdrucks Patriotismus anzuknüpfen. Er wurde sie bis in die fünfziger Jahre parteiübergreifend als Vorwurfsvokabel verwendet, um der Befürchtung Ausdruck zu verleihen, Deutschland könne erneut zu einer Bedrohung werden. Ab Mitte der fünfziger Jahre begann sich im Kontext mit den Auseinandersetzungen um den Widerstand gegen den Nationalsozialismus allmählich ein positiveres Verständnis sowohl der politischen Haltung als auch der Bezeichnung Patriotismus herauszubilden. In den sechziger Jahren war die Vokabel vor allem deshalb brisant und umstritten, da die NPD den Ausdruck Patriotismus als Fahnenwort verwendete.

Von zentraler Bedeutung ist der Ausdruck Patriotismus wie auch Verfassungspatriotismus seit den achtziger Jahren in den bis heute andauernden gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um das bundesdeutsche Selbst- und Geschichtsverständnis, vor allem nach dem Regierungswechsel 1982, im Historikerstreit 1986/87, im Kontext der Wiedervereinigung 1989/1990, in der Auseinandersetzung über die Zuwanderungs- und Integrationspolitik, der sogenannten Leitkulturdebatte ab 2000 und nicht zuletzt in den Patriotismus-Debatten im Wahlkampf 2004 und anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Spätestens seit Ende der achtziger Jahre wurde der Ausdruck als politisches Schlagwort inflationär und teilweise neutral verwendet. Seit Mitte der neunziger Jahre wird er zunehmend als Fahnenwort, seit 2006 als Hochwertvokabel verwendet.

Reichskristallnacht

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 steht in der Berliner Fasanenstraße die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Charlottenburg in Flammen. Mehr als die Hälfte aller Synagogen oder Gebetshäuser in Deutschland und Österreich werden in dieser Nacht zerstört, mehr als 1.300 Menschen ermordet. (© AP)

Der Ausdruck Reichskristallnacht bzw. Kristallnacht bezeichnet die von SA und NSDAP in der Nacht vom 9.11. auf den 10.11.1938 im ganzen Deutschen Reich inszenierten Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung, bei denen 267 Synagogen und mehr als 7.000 jüdische Geschäfte in Brand gesetzt und geplündert wurden. 91 Menschen wurden getötet und ca. 30.000 in Konzentrationslager verschleppt.

Die Herkunft des Ausdrucks ist bis heute nicht endgültig geklärt. Fest steht lediglich, dass er keine offizielle Bezeichnung der Nationalsozialisten für die Pogrome war. Auch gibt es keine Belege dafür, dass die Nationalsozialisten versucht haben, ihn zu verbieten. Es finden sich jedoch etliche Zuschreibungsversuche der Urheberschaft der Bezeichnung. Zumeist wird sie dem Berliner Volksmund oder dem Berliner Kabarettisten Werner Fink zugeschrieben. Nach 1945 setzten sich die Bezeichnung Kristallnacht und Reichskristallnacht trotz ihrer umstrittenen Herkunft durch und konnten bis zum Beginn der achtziger Jahre weitgehend problemlos und undistanziert im öffentlichen Sprachgebrauch verwendet werden. Nachdem frühe Versuche, den Ausdruck durch Reichspogromnacht zu ersetzen, gescheitert waren, finden sich vermehrt kritische und distanzierende Thematisierungen des Ausdrucks Reichskristallnacht in Folge der 1984 beginnenden Auseinandersetzungen um die Bewertung des Endes des Zweiten Weltkriegs.

Politisch aktuell und in sprachlicher Hinsicht brisant wurde die Vokabel Reichskristallnacht 1988 im Umfeld der umstrittenen Gedenkrede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger (CDU) zum 50. Jahrestag der Pogrome vor dem Bundestag. In der Folge dieser Kontoversen wurde der Ausdruck als verharmlosend, euphemistisch, politisch inkorrekt und vermeintlich dem NS-Sprachgebrauch zugehörig kritisiert und zunehmend gemieden. Im öffentlichen wie offiziellen Sprachgebrauch wurde er vielfach durch die Bezeichnungen Reichpogromnacht bzw. Pogromnacht, seltener November-Pogrom bzw. Judenpogrom ersetzt, die ihrerseits wiederum als verharmlosend kritisiert wurden. Dennoch ist der öffentliche Sprachgebrauch bei der Bezeichnung der Pogrome bis heute heterogen.

Selektion/selektieren

Der Ausdruck Selektion/selektieren steht – neben seiner "traditionellen" Gebrauchsweise als Fachsprachenterminus der Biologie und Pädagogik im Sinne von "Zuchtwahl/Auswahl" bzw. als alltagsprachlicher Ausdruck mit der allgemeinen Bedeutung "Auswahl" – seit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch (oft mit dem Zusatz an/auf der Rampe) für die von den Nationalsozialisten in den Konzentrations- bzw. Vernichtungslagern durchgeführte "Absonderung" der Häftlinge. Selektion an/auf der Rampe bedeutete, dass die Häftlinge nach ihrer Ankunft in den Lagern vom Lagerpersonal – vorwiegend KZ-Ärzten – nach ihrer "Arbeitsfähigkeit" aufgeteilt wurden. Die "nicht-arbeitsfähigen" Häftlinge wurden gefoltert, erschossen oder in den als Bade-, Dusch- oder Inhalationsanlagen getarnten Gaskammern mit Zyklon B vergast, während die als "arbeitsfähig" eingestuften Inhaftierten zum "erschöpfenden Arbeitseinsatz", d.h. zur Zwangsarbeit gemäß dem Programm "Vernichtung durch Arbeit" in die Lager verbracht wurden. Anders als die für die nationalsozialistische Ideologie zentralen Vokabeln Auslese und Ausmerze war der Ausdruck Selektion/selektieren kein offizieller Terminus der Nationalsozialisten.

Mit der ab den sechziger Jahren einsetzenden gesellschaftspolitischen bzw. juristischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen avancierte der Ausdruck Selektion/selektieren zum bis heute gebrauchten Schlagwort, in dem die menschenverachtende industrialisierte Massenvernichtung von Menschen durch die Nationalsozialisten komprimiert wurde. Er wird – wenngleich kein "offizieller" NS-Terminus, so doch als Vokabel der Täter bzw. der Verbrechens-Bezeichnungen – seit den späten siebziger Jahren in verschiedenen gesellschaftspolitischen Kontroversen als impliziter wie expliziter NS-Vergleich – z.B. in der Berichterstattung über den bundesdeutschen Terrorismus, in der Bildungsdebatte, in den Auseinandersetzungen über Abtreibung, Sterbehilfe, Stammzellenforschung Pränataldiagnostik – instrumentalisiert bzw. als solcher kritisiert.

Sonderbehandlung

Der Ausdruck Sonderbehandlung, sonderbehandeln oder die Abkürzung S.B. war im amtlichen Schriftverkehr und im Sprachgebrauch der Gestapo, der SS und der Einsatzgruppen eine Tarnbezeichnung für die Ermordung von Menschen. Er tauchte zuerst in einem Runderlass des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich vom 20.9.1939 – also unmittelbar nach Kriegsausbruch – an alle Staatspolizeistellen auf. In diesem Erlass befahl er, in Fällen von sogenannter Wehrkraftzersetzung "ohne Ansehen der Person, durch rücksichtsloses Vorgehen (nämlich durch Exekution)" einzugreifen. Durch die zunehmende Verbreitung der Ausdrucks verlor er seinen verschleiernden Charakter, so dass die Nationalsozialisten in einer Presseanweisung seine Verwendung in Heeresberichten und in der militärischen Berichterstattung verboten und statt dessen auf andere Tarnbezeichnungen wie Umsiedlung, Transportierung oder durchschleusen zurückgriffen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Wort Sonderbehandlung in der Bedeutung "Liquidierung, Exekution, Tötung" nur noch im Kontext der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit als historisches Zitatwort verwendet. Im allgemeinen Sprachgebrauch spielt die NS-Bedeutungsfacette keine Rolle, und es wird völlig unproblematisch in der Bedeutung "besondere, bevorzugende Behandlung" verwendet. Erst neuerdings findet sich in Wörterbüchern wie z.B. dem Duden von 2004 der Zusatz "nationalsozialistisch verhüllend für Liquidierung". >

Wehrmacht

Tabu gebrochen: Bis heute wirken die Kontroversen um die sogenannte Wehrmachtsausstellung nach. (© AP, Austellung Wehrmacht)

Der Ausdruck Wehrmacht bezeichnete im öffentlichen Sprachgebrauch der Weimarer Republik als Oberbegriff alle Streitkräfte des Deutschen Reiches. Mit dem am 16.3.1935 von den Nationalsozialisten unter Missachtung des Versailler Vertrages verkündeten Wehrgesetz, das die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im Deutschen Reich vorsah, wurde zugleich die bis dahin gültige Weimarer Bezeichnung Reichswehr durch den Ausdruck Wehrmacht als amtliche Bezeichnung für die deutschen Streitkräfte ersetzt.

Nach 1945 wurde der Ausdruck Wehrmacht trotz der militärischen Niederlage und der Beteiligung der Wehrmacht an Vernichtungskrieg und den Verbrechen der Nationalsozialisten einerseits als neutrale Gattungsbezeichnung in der Bedeutung "Streitkräfte" wie bereits vor 1933 verstanden und gebraucht. Andererseits wurde die seit 1935 gültige Eigenbezeichnung Wehrmacht, in der bis 1945 ein beträchtlicher Teil der männlichen Bevölkerung "gedient" hatte und die in der Öffentlichkeit als "ehrenhaft kämpfend" und unbeteiligt an den NS-Verbrechen galt, zunächst völlig unproblematisch und als nicht belastet angesehen weiter verwendet. Trotz dieser Unbelastetheit stand der Ausdruck in den fünfziger Jahren im Zentrum der Kontroverse um die Bezeichnung der neu zu bildenden Streitkräfte, in denen der Name Wehrmacht durchgängig favorisiert wurde. Die letztliche Ablehnung und Entscheidung für die Bezeichnung Bundeswehr wurde explizit nicht mit einer NS-Belastung des Ausdrucks begründet, sondern damit, dass ein Neuanfang der Streitkräfte, deren defensiver Charakter dokumentiert und eine Verbindung mit Ausdrücken wie Bundeskanzler oder Bundesregierung hergestellt werden sollte.

Erst seit den achtziger Jahren wurde die Bezeichnung in den Kontroversen über die Frage, inwieweit die Wehrmacht in die Verbrechen der Nationalsozialisten involviert war, zunehmend negativ verwendet. Besonders erregt debattiert wurde sie und damit die Bezeichnung Wehrmacht durch die äußerst umstrittene Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Bis heute wirken die Kontroversen um die sogenannte Wehrmachtsausstellung nach. Spätestens seit 1995 ist das Tabu der als "sauber" angesehenen Wehrmacht gebrochen und gilt der Ausdruck Wehrmacht als belastete Stigmavokabel im geschichtspolitischen Diskurs der Bundesrepublik.

Fussnoten

Dr. Thorsten Eitz, geboren 1967, studierte Germanistik, Philiologie und Politik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort arbeitet er als Wissenschaftlicher Angestellter im DFG-Projekt "Politische Sprache der Weimarer Republik". Zu seinen Veröffentlichungen gehören u.a. das "Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung" sowie das "Zeitgeschichtliche Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache".