Wenn die Einkommensansprüche in der Primärverteilung nur durch den Einsatz von Kapital und Arbeit erwachsen, sind mit diesem Tatbestand zwangsläufig Probleme verbunden:
Wovon sollen die Güter des täglichen Bedarfs und die Mieten gezahlt werden, wenn das Arbeitseinkommen entfällt, weil Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden?
Welches Einkommen erhalten Ältere, die aus dem Beruf ausgeschieden sind?
Und wie ist es mit der Einkommenssicherung bestellt, wenn Beschäftigte krank werden, ihr Arbeitseinkommen verlieren und zugleich die Rechnungen für ärztliche Behandlung bezahlen müssen?
Die Gefahr, kein ausreichendes oder überhaupt kein Arbeitseinkommen zu erhalten, hängt eng mit den Bedingungen und Voraussetzungen eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems zusammen. Kennzeichnend für diese Wirtschaftsordnung ist der Tatbestand, dass der weit überwiegende Teil der Bevölkerung seinen Lebensunterhalt nur durch abhängige (Lohn)Arbeit sichern kann. Rund 90 Prozent aller Erwerbstätigen sind heute abhängig beschäftigt. Der Anteil der Selbstständigen hat sich in den letzten Jahrzehnten verringert. Laut Eurostat lag dieser Anteil im Jahr 2018 in Deutschland bei 12,0 Prozent für Männer und 6,8 Prozent für Frauen
Mangels anderer, von der individuellen Arbeitsleistung unabhängiger Einkommensarten (Vermögens- und Gewinneinkünfte) besteht für die große Mehrheit ein mehr oder minder starker Zwang, die Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten, um als Gegenleistung für die Tätigkeit ein Entgelt zu erhalten. Der Arbeitslohn ist damit die wesentliche Einkommensquelle, mit der die zum Lebensunterhalt notwendigen Güter und Dienstleistungen gekauft werden können. Die (Verkaufs- bzw. Verwertungs-)Chancen auf dem Arbeitsmarkt bestimmen daher ganz entscheidend die Lebensbedingungen der Bevölkerung.
Diese Koppelung von Einkommen und abhängiger Arbeit hat einschneidende soziale Konsequenzen: Während Vermögenseinkommen unabhängig von der persönlichen und sozialen Situation des Eigentümers fließen, z.B. werden Zinsen auch bei Krankheit und im Alter gezahlt, geraten abhängig Beschäftigte in Existenzprobleme, wenn der Einsatz der Arbeitskraft vorübergehend oder dauerhaft nicht möglich ist. Aber auch für "kleine" Selbstständige, die im eigenen Betrieb bzw. gar in einer "Ein-Personen-Firma" tätig sind, führen Krankheit oder Invalidität zu existenziellen Einkommensrisiken.
Als Alternative zu den Arbeitseinkommen böten sich arbeitsfreie Einkünfte aus Vermögen (Zinsen, Mieten, Vermögensauflösung) oder Gewinnen an. Zwar haben in den hoch entwickelten Industriegesellschaften auch nicht wenige Arbeitnehmerhaushalte Geld- und Grundvermögen bilden können. Aber mit der durchschnittlichen Höhe der Geldanlagen lässt sich häufig allenfalls für wenige Monate der Ausfall des Arbeitseinkommens ersetzen und der Lebensstandard sichern.
Im Bereich der Produktion von Gütern spielen Eigenarbeit und Haushaltsproduktion keine große Rolle mehr. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, mit Gütern des täglichen Bedarfs und langlebigen Gebrauchsgütern verläuft heute zu einem sehr großen Teil ausschließlich über den Markt. Anders sieht es bei Dienstleistungs- und Handwerkstätigkeiten aus, die sowohl auf dem Markt angeboten, aber auch im hohen Maße in Eigenarbeit erbracht werden. Eine verstärkte individuelle bzw. familiäre Erbringung von Dienstleistungen kann den Einkommensbedarf aber nur mindern und nicht ersetzen. Ein Mehr an Eigenarbeit kann auch mit zusätzlichem Einkommensbedarf verbunden sein, wenn man z.B. an die Ausstattung mit technischen Gerätschaften denkt, die für ein "do it yourself" erforderlich sind.
In jeder Gesellschaft muss nicht nur Erwerbsarbeit, sondern gleichermaßen familiäre Erziehungs- und Hausarbeit geleistet werden. Diese Reproduktionsarbeit erfolgt unentgeltlich und außerhalb des Arbeitsmarktes. Entsprechend der tradierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist Erziehungs- und Hausarbeit auch heute noch im Wesentlichen die Arbeit von Frauen. Zwar verbindet ein großer und wachsender Teil von Frauen Berufstätigkeit und Kindererziehung, aber eine große Gruppe unter den verheirateten Frauen ist nicht oder nur phasenweise erwerbstätig. Da Hausfrauen über keine aus marktförmiger Erwerbstätigkeit gewonnene Einkommensgrundlage verfügen, sind sie auf Unterhaltsleistungen ihres erwerbstätigen (Ehe)Mannes angewiesen. Nach diesem Modell übernimmt der Ehemann die Ernährer- und Versorgerfunktion. Aber auch die Arbeitseinkommen der großen Zahl der teilzeitbeschäftigten (Ehe)Frauen reichen zur individuellen Existenzsicherung kaum aus. Entscheidende Größe zur Sicherstellung des Lebensunterhalts von Mann und Frau ist das gemeinsam erworbene Haushaltseinkommen.
Die mit der Erwerbsarbeit verbundenen Einkommensrisiken bilden über weite Strecken den systematischen und historischen Ausgangspunkt für sozialstaatliche Interventionen und Leistungen. Sozialpolitik ist immer auch Einkommensverteilungspolitik. Durch sozialpolitische Maßnahmen werden die Ergebnisse der Marktverteilung korrigiert und die strenge Koppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit gelockert: So bleibt durch die Zahlung von Sozialeinkommen durch den Staat der Lebensunterhalt unter bestimmten Bedingungen auch dann gesichert, wenn wegen Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit oder Invalidität nicht (mehr) gearbeitet werden kann. Damit mindert sich der unbedingte Angebotszwang der Arbeitskraft; der Warencharakter der Arbeitskraft wird eingeschränkt, jedoch nicht außer Kraft gesetzt.
Sozialpolitik als Einkommensverteilungspolitik
Sozialpolitik als Einkommensverteilungspolitik setzt auf unterschiedlichen Ebenen an, hat unterschiedliche Ziele und bedient sich unterschiedlicher Instrumente. Grundlegend ist die Abgrenzung von Arbeitseinkommen und Sozialeinkommen:
Niveau und Struktur der Arbeitseinkommen (Primäreinkommen), so wie sie auf dem Arbeitsmarkt erzielt werden, werden durch die Zahlung von Sozialeinkommen − und andererseits Abgaben − nachträglich korrigiert.
Im Rahmen dieser Sekundärverteilung erhalten jene Personen ein Einkommen, die kein Arbeitseinkommen (mehr) beziehen oder aber deren Arbeitseinkommen nicht ausreicht, um unabweisbare persönliche Bedarfslagen abzudecken.
Der Staat finanziert die Sozialeinkommen im Wesentlichen durch Steuern und Beiträge, die vom Einkommen abgezogen werden und dieses entsprechend verringern.
Die staatliche Umverteilung selbst kann und muss bei Analysen zur Einkommensverteilung bzw. zu Armut und Reichtum Gegenstand von Fragen sein:
Wie stark reduziert sich dadurch die Ungleichheit der Primärverteilung?
Wie deutlich wird der Anteil der Bevölkerung, der mit Armutsrisiken zu kämpfen hat, reduziert − wie stark sinken Armutsrisiko- und/oder Grundsicherungsquote?
Solche Fragen sind z. B. auch deswegen wichtig, weil immer wieder der Vorwurf an den Staat formuliert wird, das Umverteilungsgeschehen sei nicht mehr als ein ineffektives Umverteilen "von der linken in die rechte Tasche". Es sei hochgradig bürokratisch und verursache mehr volkswirtschaftliche Kosten als es nütze (Dass sich das mit der gleichzeitigen Klage, unser Transfersystem sei leistungsfeindlich und belaste die "Leistungsträger" zu stark, nicht so recht verträgt, sei hier nur erwähnt).
Selbstverständlich muss konzediert werden, dass unser Transfersystem komplex ist. Die Abbildung "Transferleistungen im Überblick" zeigt dies:
Zwischen positiven und negativen Transfers wird dahingehend unterschieden, dass als positive Transfers alle jene bezeichnet werden, die vom Staat an den Bürger fließen. Als negative Transfers lassen sich Steuern, Beiträge und Gebühren verstehen, die der Bürger an den Staat zahlen muss.
Direkte positive monetäre Transfers sind z. B. das Wohngeld, das Elterngeld oder die Leistungen der Grundsicherung.
Indirekte positive monetäre Transfers erfolgen an Dritte, um die eigentlich intendierten Empfänger zu unterstützen; so soll durch die staatliche Förderung des sozialen Wohnungsbaus preiswerter Wohnraum entstehen. Im Unterschied zum Wohngeld (Subjektförderung) handelt es sich hier um eine Objektförderung.
Explizite Transfers sind mit konkreten Zahlungsvorgängen verbunden, die die Lebenslage der Leistungsempfänger unmittelbar verbessern. Bei den impliziten Transfers erfolgt − abhängig von bestimmten sozialen Tatbeständen − die Verbesserung der Einkommenslage durch steuerliche Erleichterungen. So vermindert der Kinderfreibetrag das zu versteuernde Einkommen und entsprechend die Steuerschuld, soweit der betreffende Haushalt überhaupt Steuern zu zahlen hat (Ansonsten geht er leer aus – implizite Transfers wirken regressiv). Im Gegensatz zu diesem impliziten Transfer ist das Kindergeld ein expliziter Transfer.
Einkommenswirkungen gehen auch von den realen Transfers aus. Hierzu zählen die sozialen und gesundheitlichen Sach- und Dienstleistungen sowie die Angebote der kommunalen Daseinsvorsorge: Gesundheitliche Leistungen wie ärztliche Behandlung, Arzneimittelversorgung, Unterbringung und Behandlung im Krankenhaus oder soziale Leistungen wie Kinder- und Jugendhilfe oder Behindertenhilfe können weitgehend kostenlos
in Anspruch genommen werden und verbessern somit die Lebenslage eines Teils der Betroffenen. Es handelt sich um Transfers, deren Nutzung sich nach dem persönlichen Bedarf richtet. Weil die sozialen Sach- und Dienstleistungen außerhalb des Markt-Preis-Mechanismus stehen und für ihre Inanspruchnahme häufig kein Preis oder nur eine nicht kostendeckende Gebühr gezahlt werden muss, entstehen den Betroffenen geldwerte Vorteile.
Private Ausgaben werden eingespart, soweit die kostspieligen Sach- und Dienstleistungen überhaupt aus dem laufenden Arbeits- oder Sozialeinkommen finanziert werden könnten. Es wäre zwar auch denkbar, die Einkommen der Betroffenen durch explizite positive monetäre Transfers so weit aufzustocken, dass die sozialen und medizinischen Dienste auf dem Markt "gekauft" werden könnten. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass die Versorgung mit diesen Leistungen über den Markt weder in quantitativer noch in qualitativer Sicht zu tragbaren Ergebnissen führt.