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Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum

Neeltje van den Berg Steffen Fleßa Wolfgang Hoffmann Wolfgang Hoffmann Steffen Fleßa Neeltje van den Berg

/ 14 Minuten zu lesen

Die Gesundheitsversorgung steht in ländlichen Regionen vor besonderen Herausforderungen. Wie können Krankenhäuser, Arztpraxen und andere Gesundheitseinrichtungen wirtschaftlich auskömmlich arbeiten und gleichzeitig die wohnortnahe umfassende Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger gewährleistet werden? Professionelle Bedarfsplanung und innovative Versorgungskonzepte können den Konflikt entschärfen.

Ein Landarzt geht mit seiner Arzttasche zu einem Hausbesuch. Viele Allgemeinmediziner auf dem Land suchen aus Altersgründen Nachfolgerinnen und Nachfolger für ihre Praxen. (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)

Die medizinische und pflegerische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen ist ein essenzieller Bestandteil der Interner Link: Daseinsvorsorge. Die Bevölkerung misst einer qualitativ hochwertigen Dienstleistung im Krankheitsfall große Bedeutung zu, und es wird allgemein vorausgesetzt, dass "gleichwertige Lebensverhältnisse" auch mit einer annähernd gleichwertigen Gesundheitsversorgung einhergehen. Während sich beispielsweise die Versorgung mit kulturellen Angeboten in Stadt und Land durchaus unterscheiden kann, sollen – so die Erwartung – die Lebenserwartung und die gesundheitliche Lebensqualität nicht vom Wohnort abhängig sein. Rettungsdienste, primärversorgende Ärztinnen und Ärzte, ambulante Pflegedienste, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und weitere Leistungsanbieter im Gesundheitswesen sollten überall gleichermaßen in vertretbaren Distanzen zugänglich und qualitativ vergleichbar sein. Oder salopp gesagt: Keiner soll früher sterben oder eine geringere gesundheitliche Lebensqualität haben, nur weil er auf dem Land lebt.

Probleme der ländlichen Gesundheitsversorgung

Tatsächlich sind in peripheren ländlichen Regionen mit niedriger Bevölkerungsdichte weniger Einrichtungen der Gesundheitsversorgung vorhanden als in den Zentren. Die geringe Bevölkerungsdichte hat zur Folge, dass die Einzugsbereiche der medizinischen Leistungserbringer (Krankenhäuser, Arztpraxen) groß sein müssen, damit sie kostendeckend und wirtschaftlich auskömmlich arbeiten können. Das wiederum führt zu langen Anfahrtswegen für die Patientinnen und Patienten. Insbesondere spezialisierte Versorgungsleistungen sind in ländlichen Regionen nicht oder nur an wenigen Stellen vorhanden.

Die größere Anzahl von älteren Menschen führt zu einer höheren Krankheitslast und einem höheren Bedarf an medizinischer und pflegerischer Versorgung in ländlichen Regionen. Hinzu kommt ein häufig gleichzeitiges Auftreten mehrerer Erkrankungen (Multimorbidität) bei dieser Altersgruppe und eine geringere Mobilität. Zusätzlich ist die Anzahl von Kindern und Jugendlichen in ländlichen Regionen häufig niedrig. Ein wirtschaftlicher Betrieb von Kinderarztpraxen und pädiatrischen Krankenhausabteilungen ist folglich nicht immer möglich. Da viele periphere Regionen auch eine geringere Wirtschaftskraft aufweisen, können diese Nachteile nicht einfach durch Mobilität (z.B. Privat-PKW) ausgeglichen werden. Die Versorgung der Bevölkerung im ländlichen Raum ist folglich pro Kopf deutlich teurer, wenn man auch nur annähernd gleiche Versorgungsverhältnisse schaffen möchte wie in den Zentren. Der Konflikt aus Gerechtigkeit (gleichwertige Lebensverhältnisse) und Effizienz (gleiche Versorgungskosten pro Kopf) ist kaum zu lösen.

Der ambulante Sektor

Ein Großteil der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Bevölkerung findet im ambulanten Sektor statt. Ambulante Gesundheitseinrichtungen sind z. B. Praxen von niedergelassenen Haus- und Fachärztinnen und -ärzten, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, ambulante Pflegedienste, Physio- und Ergotherapiepraxen oder auch Apotheken.

Die Planung der ambulanten ärztlichen Versorgung wird durch die sogenannte Bedarfsplanungsrichtlinie der ärztlichen Selbstverwaltung geregelt. Die Planung findet statt auf der Basis von vier Versorgungsebenen (hausärztliche, allgemeine, spezialisierte und gesonderte fachärztliche Versorgung), 22 Arztgruppen, Planungsbereichen (die Größe ist abhängig von der Versorgungsebene) sowie arztgruppenspezifischen Verhältniszahlen. Die Bedarfsplanung zielt auf eine wirtschaftliche und effektive ambulante Versorgung der Bevölkerung ab und soll Unter- und Überversorgung vermeiden.

In ländlichen Regionen werden gemessen an der Einwohnerzahl weniger Ärztinnen und Ärzte als in urbanen Bereichen benötigt. Die Arztpraxen konzentrieren sich in ruralen Gebieten jedoch meist in größeren Städten (Ober- oder Mittelzentren). Dadurch werden große Landflächen durch nur wenige Ärztinnen und Ärzte versorgt. Gleichzeitig müssen die Einwohnerinnen und Einwohner außerhalb dieser Zentren häufig große Entfernungen zu den Praxen zurücklegen. Das gleiche gilt für Pflegedienste, Therapiepraxen und Apotheken. Durch die geringe Anzahl an Leistungserbringern in ländlichen Regionen besteht für einen Teil der Bevölkerung das Risiko eines eingeschränkten Zugangs zur Versorgung. Dies betrifft insbesondere spezialisierte Versorgungsbereiche wie die Altenpflege (Geriatrie), Angebote für Patienten in der letzten Lebensphase (Palliativversorgung) oder die ärztliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen (Pädiatrie).

Versorgungssituation an den Beispielen Pädiatrie und Geriatrie in Mecklenburg-Vorpommern

In Mecklenburg-Vorpommern leben fast fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren (etwa 10.500) mehr als 20 Kilometer vom nächsten Kinderarzt entfernt. Kinder und Jugendliche, die in großer Entfernung zum nächsten Kinderarzt wohnen, gehen weniger häufig zum Arzt als Kinder, die in der Nähe eines Kinderarztes leben, und wenn sie zum Arzt gehen, ist das in 53 Prozent der Fälle ein Hausarzt. Bei Kindern, die näher als 20 Kilometer zum Kinderarzt wohnen, beträgt dieser Anteil lediglich 14 Prozent. In Regionen mit einer geringen Kinderarztdichte übernehmen Hausärzte somit einen Großteil der medizinischen Versorgung der Kinder und Jugendlichen – obwohl nach den Maßstäben der ambulanten Bedarfsplanung keine Unterversorgung mit pädiatrischen Fachärztinnen und -ärzten besteht.

Abb. 2: Entfernungsregionen rund um pädiatrische Einrichtungen in Mecklenburg-Vorpommern (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb, Neeltje van den Berg)

Ein hoher Anteil der Menschen über 65 Jahre ist von altersbedingten Erkrankungen und Multimorbidität und/oder funktionalen Einschränkungen betroffen. Bei diesen Patientinnen und Patienten besteht in vielen Fällen ein hoher Bedarf an pflegerischer Versorgung. In der ambulanten Versorgung in ländlichen Regionen gibt es allerdings nur wenige Spezialistinnen und Spezialisten in diesem Bereich. Spezialisierte Leistungen auf dem Fachgebiet der Geriatrie werden vorwiegend in Krankenhäusern sowie in Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen angeboten. Der Übergang in die ambulante Versorgung nach Entlassung aus einer stationären Einrichtung gestaltet sich für die betroffenen Patientinnen und Patienten deswegen oft schwierig.

Geriatrische Patienten haben zudem häufig eine eingeschränkte Mobilität. Die Erreichbarkeit von Einrichtungen der Altenpflege spielt deswegen eine große Rolle und eine wohnortnahe Versorgung ist wichtig. In Mecklenburg-Vorpommern ist diese heute jedoch kaum gegeben.

Innovative Versorgungskonzepte

Innovative Versorgungsmodelle müssen dort etabliert werden, wo bestimmte Aufgaben, Leistungen und Funktionalitäten der medizinischen und pflegerischen Versorgung von den Akteuren vor Ort nicht oder nur unvollständig erbracht werden können. Wichtig ist, dass solche innovativen Versorgungsmodelle für ländliche Gebiete regional organisiert und mit den beteiligten Akteuren abgestimmt werden, damit sie die bestehende Versorgung sinnvoll ergänzen. Beispiele für innovative Versorgungskonzepte sind:

  • Die Entwicklung einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen

  • Kooperationen zwischen haus- und fachärztlichen Arztpraxen zur Sicherstellung spezieller Leistungen, z. B. in der Kinderheilkunde;

  • Übernahme von Aufgaben und Funktionalitäten im ambulanten Bereich durch Kliniken in Kooperation mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, z. B. durch die Übernahme bestimmter fachärztlicher Sprechstunden;

  • Beratungsleistungen durch Krankenhäuser der Maximalversorgung bei kleineren Krankenhäusern für spezialisierte Bereiche, die dort nicht vorgehalten werden können. Beratungsleistungen können z. B. durch telemedizinische Verbindungen zwischen den Krankenhäusern realisiert werden;

  • Digitale Vernetzung von Leistungserbringern auf der Basis von regionalen Patienten- oder Fallakten;

  • Telemedizinische Leistungen zwischen Leistungserbringern und Patienten (z.B. Video-Sprechstunde oder Monitoring von Vitalparametern wie z. B. Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur).

Kreiskrankenhaus Wolgast, Mecklenburg-Vorpommern (© picture-alliance)

Der stationäre Sektor

Zum stationären Sektor gehören Einrichtungen, in denen Patientinnen und Patienten oder Kundinnen und Kunden üblicherweise mindestens eine Nacht verbringen, z. B. Akutkrankenhäuser, stationäre Rehabilitationszentren (Reha) oder stationäre Pflegeheime. Es handelt sich tendenziell um große Betriebe mit teuren Anlagen und viel Personal, wobei die geringe Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum dazu führt, dass die Einrichtungen des stationären Sektors im ländlichen Raum kleiner sind als in den größeren Städten. Dies hat Konsequenzen für ihren Betrieb. Einige Faktoren werden hier aufgeführt:

  • Fixkostendegression: Dieses Prinzip meint, dass die Kosten pro einzelner Leistung mit zunehmender Auslastung geringer werden. Kleinere Einrichtungen haben demnach einen systematischen Nachteil gegenüber größeren Einrichtungen.

  • Größendegression: Große Einrichtungen haben geringere Kosten für ihre einzelnen Leistungen als mehrere kleinere Einrichtungen mit summierter gleicher Kapazität. Auch bei Krankenhäusern ist offensichtlich, dass die Fallkosten bei sonst gleicher Leistung in einem 500-Betten-Krankenhaus geringer sein dürften als in zehn getrennten Krankenhäusern mit jeweils 50 Betten. Dies liegt zum Teil daran, dass die Kosten für Gebäude, Anlagen und Personal nicht proportional zur Kapazität steigen.

  • Verbundvorteile: Krankenhäuser, die viele Fachdisziplinen und Behandlungsmethoden abdecken, haben bei gleicher Kapazität geringere Kosten pro Leistungseinheit als mehrere kleinere Häuser. Wenn mehrere Leistungsarten an einem Standort konzentriert sind, führt dies zudem zu einer Nutzung gemeinsamer Ressourcen. Es wäre beispielsweise theoretisch möglich, Unterspezialisierungen auf verschiedene Krankenhäuser einer Region zu verteilen. Allerdings würde dies zu höheren Kosten führen, da diese untereinander im Austausch stehen und gemeinsam auf spezialisierte Labore, Bildgebung etc. zugreifen müssten.

  • Übungseffekte: Eine häufigere Verrichtung (z.B. einer bestimmten Operation) führt zu einer Reduktion der Arbeitszeit pro Prozess und damit der Kosten. Außerdem wird durch höhere Fallzahlen die Qualität der Behandlungen verbessert, und auf Komplikationen kann besser angemessen professionell reagiert werden.

  • Distanzreibung: Je weiter Patienten und stationäre Einrichtungen (z.B. Krankenhäuser) voneinander entfernt sind, desto geringer ist die Zahl der Kontakte (z.B. Arztbesuche). Die Größe von Einzugsgebieten ist demnach begrenzt: Werden die Distanzen zu groß, kommt es zu einer Unterversorgung, weil die Bevölkerung nicht mehr angemessen erreicht wird.

Fixkostendegression, Größendegression, Verbundvorteile und Übungseffekte sprechen eindeutig für eine Konzentration stationärer Gesundheitsdienstleistungen an wenigen Orten. Wenn nur noch wenige, große Krankenhäuser zugelassen werden, ist das nicht nur kostengünstig, sondern hat voraussichtlich auch Qualitätsvorteile, da große, zentrale Häuser mehr Übung haben und deshalb eine bessere Qualität erreichen als viele kleinere. Allerdings verlangt das Prinzip der Distanzreibung eher nach vielen, schnell erreichbaren Krankenhäusern. Die Patientinnen und Patienten müssen im Notfall schnell zum Krankenhaus transportiert werden, ihre Angehörigen möchten sie dort besuchen und die Identifikation von Menschen mit "ihrem Krankenhaus" ist auch an den Standort gebunden.

Es besteht damit ein Zielkonflikt: Einerseits verlangen die Dienstleistungsqualität und die Kosteneffizienz nach einer Zentralisierung, andererseits erfordert die Versorgungssicherheit für die Bevölkerung ortsnahe stationäre Angebote. Dieser Konflikt hat sich in den letzten Jahren im ländlichen Raum häufig in der Schließung pädiatrischer Abteilungen sowie der Geburtshilfe manifestiert, da gerade diese beiden Abteilungen unter den rückläufigen Geburtenzahlen im ländlichen Raum leiden. Aus Sicht der Fachgesellschaften sind ausreichend hohe Fallzahlen notwendig, damit gewährleistet ist, dass Geburtshelferinnen und -helfer sowie die beteiligten Ärztinnen und Ärzte geübt sind und Komplikationen bei der Geburt erkannt und richtig behandelt werden. Aus Sicht der Klinikbetreiber müssten ebenfalls deutlich mehr Entbindungen stattfinden, um kostendeckend zu arbeiten. Aus Sicht der Bevölkerung ist eine ortsnahe Entbindung und Versorgung mit Kinderarztpraxen aber ein hohes Gut.

Der skizzierte Konflikt von Krankenhäusern im ländlichen Raum wird am Beispiel des Kreiskrankenhauses Wolgast in Vorpommern besonders deutlich. Es verfügt über 155 Betten und liegt in einem der am dünnsten besiedelten Kreise Deutschlands. Im Jahr 2016 wurden die Abteilungen für Geburtshilfe und Pädiatrie geschlossen. Vorausgegangen und nachlaufend waren intensive Diskussionen über das Verhältnis von Wirtschaftlichkeit und Versorgungsnähe. Die Zahl der Geburten lag im Gesamtjahr 2014 bei 357, die Zahl der pädiatrischen Aufnahmen bei 1057. Diese Fallzahlen waren bei weitem zu gering, um die Kinderstation mit 18 Betten und die Geburtsstation mit 11 Betten auszulasten und die Kosten zu decken. Wichtiger noch: Die geringe Fallzahl stellte ein medizinisches Risiko dar, da keine ausreichende Routine für Notfälle entstehen konnte.

Erreichbarkeit von Krankenhäusern im Kreis Vorpommern-Greifswald mit dem Auto (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Die Auswirkungen der Schließungen sind heute insbesondere auf der Insel Usedom deutlich, da sich die Fahrtstrecke ins nächste Krankenhaus spürbar verlängert hat (vgl. Abb. 3). Die Einwohnerinnen und Einwohner Usedoms benötigen dafür heute über 30 Minuten. Für die Behandlung von Fällen der Grund- und Regelversorgung ist die Erreichbarkeit des Krankenhauses "in angemessener Zeit" wichtig – allerdings haben weder die Politik noch die Rechtsprechung oder die Fachgesellschaften es bislang unternommen, diese "Angemessenheit" zu definieren.

An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, dass die stationäre Versorgung im ländlichen Raum einen Kompromiss zwischen Erreichbarkeit sowie Finanzierbarkeit und Qualität erreichen muss. Zentral sind hierbei Innovationen, die eine ortsnahe Versorgung erlauben, die Qualität sicherstellen und gleichzeitig die Kosten reduzieren.

Innovationen im Bereich der ländlichen Gesundheitsversorgung

Der Zielkonflikt kann bei knappen Ressourcen nur durch Innovationen überwunden werden. Aus der Fülle der möglichen Innovationen wollen wir drei vorstellen, die aus unserer Sicht zukünftig besondere Bedeutung für die ländlichen Krankenhäuser haben dürften: Telemedizin, Transport- und Standortplanung sowie Kooperation.

Telemedizin ermöglicht es, dass eine Gesundheitsdienstleistung ortsunabhängig bereitgestellt werden kann. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, wie z. B. ein Befund aus der Ferne in der Radiologie, das Einholen einer Zweitmeinung über Videokonferenzen oder die Unterstützung der Notaufnahme durch Fachärztinnen und -ärzte, die per Video zugeschaltet sind. Telemedizin verändert hierbei das Arbeitsumfeld im Gesundheitsbereich erheblich. Darüber hinaus gibt es umfassende Erfahrungen mit der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Hilfe der Telemedizin, z.B. die Fernuntersuchung, -diagnose und -überwachung (Telemonitoring), etwa zur Messung von Gewicht oder Blutdruck, die Echtzeitberatung von Patientinnen und Patienten mit spezifischen Problemen oder das Führen von digitalen Patientenkalendern. Kleinere Krankenhäuser sind zunehmend in telemedizinischen Netzwerken eingebunden. Hierdurch kann spezialisierte fachärztliche Kompetenz auch an ländlichen Standorten sichergestellt werden. Im Bereich der Radiologie kann durch Zuschaltung eines externen Radiologen z.B. die Notaufnahme an kleinen Standorten auch nachts aufrechterhalten werden. In anderen Bereichen (z.B. in der Pädiatrie) werden im Rahmen von Forschungsprojekten Erfahrungen gesammelt und juristische Fragen sowie Abrechnungsmöglichkeiten untersucht. Die Umsetzung der Telemedizin im unmittelbaren Kontakt zu Patientinnen und Patienten zeigt auch Barrieren. So konnten zahlreiche Studien belegen, dass beispielsweise die telemedizinische Überwachung von Patienten mit Herzschwäche den Krankenkassen sogar Ausgaben spart, aber bislang werden diese Leistungen nicht flächendeckend finanziert. Solche Leistungen werden in der ambulanten Versorgung aktuell häufig durch Telemedizinzentren angeboten und über Spezialverträge, die nur in bestimmten Regionen und für bestimmte Patientengruppe gelten, mit den Krankenkassen abgerechnet.

Eine zweite innovative Strategie ist die Transport- und Standortplanung. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass sich die meisten Krankenhäuser heute an Standorten befinden, die in einer Zeit festgelegt wurden, als die Zugänglichkeit mit Individual- oder öffentlichem Nahverkehr kaum eine Rolle spielte. So wurden viele Krankenhäuser in Kleinstädten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert errichtet, als die meisten Patientinnen und Patienten zu Fuß oder mit Kutschen ins Krankenhaus kamen. Selbst wenn in den letzten Jahrzehnten Krankenhäuser neu gegründet wurden, war die Zugänglichkeit meist kein bedeutender Faktor für die Standortwahl. In dieser Situation kommt dem Transport der Patientinnen und Patienten (und teilweise auch der Angehörigen) zum Krankenhaus eine bedeutende Rolle zu. Ländliche Krankenhäuser können die Zugänglichkeit etwa dadurch erhöhen, dass sie ausreichend Parkplätze bereitstellen. Sie können auch – sofern dies im Rahmen von Um- oder Neubauten möglich ist – Anfahrtsmöglichkeiten für den öffentlichen Nahverkehr und Taxis einplanen. Weiterhin können sie ihren politischen Einfluss (den sie als häufig größter Arbeitgeber der Region durchaus haben) nutzen, dass der öffentliche Nahverkehr die Krankenhäuser auch regelmäßig auf zumutbaren Routen anfährt.

Eine weitere Innovation, um Distanzen besser zu überwinden, ist der mobile Dienstleister. So sind z. B. mobile Händler und Handwerker häufig mit ihren Fahrzeugen unterwegs und kommen direkt zu ihren Kundinnen und Kunden. Die Übertragung dieses Prinzips auf das Gesundheitswesen liegt auf der Hand: Einerseits haben Ärztinnen und Ärzte schon immer Hausbesuche durchgeführt. Andererseits kann ein Teil ihrer Aufgaben an andere Dienstleister abgegeben werden, so etwa an mobile Krankenpflegerinnen und -pfleger, die Patienten zu Hause mit Hilfe von Zusatzausbildungen selbstständig Gesundheitsdienstleistungen anbieten können. Ein weiteres Konzept mobiler Dienstleister sind Ärztinnen und Ärzte, die am Krankenhaus angestellt sind und in ländlichen Arztpraxen die Versorgung aufrechterhalten. In der Regel handelt es sich um zeitlich begrenzte Unterstützungsdienstleistungen für am Ort ansässige Allgemeinärzte. Schließlich wäre auch die Gründung von virtuellen medizinischen Versorgungszentren möglich. Hierbei könnte z.B. ein Krankenhaus freiwerdende (Fach-)Arztsitze in der Region übernehmen und diese im Bündel als Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) weiter betreiben. Im Gegensatz zum klassischen Arztsitz ist dabei nicht ein einzelner Arzt in einer bestimmten Arztpraxis niedergelassen, sondern eine Fachabteilung in einem Krankenhaus versorgt das MVZ rotierend mit Fachärztinnen und -ärzten.

Kooperation ist somit von großer Bedeutung für die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Mit Hilfe von Telemedizin, mobilen Ärztinnen und Ärzten, Bereitstellung von Klinikärzten als Notärzte etc. können die Krankenhäuser aus dem stationären Sektor heraustreten und den ambulanten Sektor unterstützen. Dabei arbeiten sie intensiv mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zusammen und stellen damit die Grundlage für zukünftige Einweisungen her. Noch immer gibt es eine klare Tendenz, Patientinnen und Patienten überwiegend ortsnah einzuweisen. Wie Studien belegen, kann diese Neigung durch eine motivierte Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten gestärkt werden.

Eine Spezialisierung der Versorgung im Rahmen von Kooperationen kann auf Widerstand von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Bevölkerung und Politik stoßen. Eine Spezialisierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Versorgungsauftrags führt tatsächlich nicht zu einer Schlechterstellung der genannten Stakeholder, wohl aber zu einer Veränderung tradierter Vorstellungen davon, was ein Krankenhaus ist. Traditionell definieren sich Krankenhäuser über die Anzahl ihrer Betten. Ein großes Krankenhaus hat viele Betten, ein kleines wenige. Durch Kooperation wird diese einfache Gleichung aufgelöst. Danach hat ein großes Krankenhaus viele Funktionen, auch wenn diese Funktionen nicht unbedingt mit einer großen Zahl an Betten einhergehen muss. Es muss noch nicht einmal bedeuten, dass eine Leistung unmittelbar vor Ort erbracht wird.

Das spezialisierte kleinere Krankenhaus, das beispielsweise für das in der Nähe gelegene Großkrankenhaus ("Maximalversorger") die Geriatrie übernimmt und Fälle, für die es keine Abteilung mehr vorhält, an dieses weiterleitet, verliert nicht an Funktionalität. Denkt man diesen Gedanken weiter, so stellt sich die Frage, wie viele Betten Krankenhäuser zukünftig überhaupt benötigen. Denkbar wäre es auch, dass über die Kooperation mit (Patienten-)Hotels in der Nähe großer Einrichtungen Krankenhäuser entstehen könnten, die nur über wenige eigene Betten, jedoch über ein großes medizinisches Angebot im Bereich Diagnostik und Therapie verfügen. Eine solche Ablösung der Hotelfunktion von der Diagnose- und Therapiefunktion erfordert jedoch verlässliche Kooperationsstrukturen. Sind die Strukturen dafür vorhanden, könnten sich auch kleinere Krankenhäuser von schlecht ausgelasteten und teuren Bettenkapazitäten trennen.

Fazit und Ausblick

Die Sicherstellung der medizinischen Versorgung in ländlichen Regionen bringt große Herausforderungen mit sich, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Eine strikte Trennung der beiden Sektoren ist in diesem Kontext nicht mehr vertretbar. Regionale Versorgungsmodelle, die passgenau die jeweiligen Probleme adressieren, flexibel einsetzbar sind und die vor Ort existierende Versorgung sinnvoll ergänzen, können dazu beitragen, die medizinische Versorgung im ländlichen Raum sicherzustellen. Um dies zu erreichen ist es von großer Bedeutung, die Planung der medizinischen Versorgung in andere Bereiche der Daseinsvorsorgeplanung zu integrieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die jüngste Richtlinie wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem wichtigsten Organ der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, im Frühjahr 2019 auf den Weg gebracht.

  2. Vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss: Bedarfsplanungs-Richtlinie in der Neufassung vom 20. Dezember 2012, zuletzt geändert am 5. Dezember 2019, veröffentlicht im Bundesanzeiger BAnz AT 20. Dezember 2019.

  3. Vgl. Angelika Beyer/Ulrike Stentzel et al.: Einstellungen von Eltern zur pädiatrischen Versorgung und Delegation ärztlicher Aufgaben in versorgungsfernen und versorgungsnahen Regionen: Ergebnisse einer standardisierten Befragung, in: Das Gesundheitswesen, 2020.

  4. Vgl. Judith Fuchs/Markus Busch et al.: Prevalence and patterns of morbidity among adults in Germany, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 55(4), 2012, S. 576–586.

  5. Vgl. Melanie Knorr/Angelika Beyer et al.: Geriatrische Versorgung in ländlichen Regionen: Ergebnisse aus zwei standardisierten Befragungen von Leistungserbringern und Akteuren, in: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 10.06.2020. Online unter: Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.zefq.2020.05.006 (Stand: 09.10.2020)

  6. Vgl. ebda.

  7. Vgl. Wolfgang Hoffmann/Ulrike Stentzel et al.: Medizinische Versorgung in ländlichen Räumen, in: Steffen Kröhnert/Rainer Ningel et a. (Hrsg.): Ortsentwicklung im ländlichen Raum – ein Handbuch für planende und soziale Berufe, Wien 2020.

  8. Vgl. ebda.

  9. Vgl. Steffen Fleßa/Wolfgang Greiner: Grundlagen der Gesundheitsökonomie. Eine Einführung in das wirtschaftliche Denken für Mediziner, Berlin 2020.

  10. Vgl. Steffen Fleßa: Systemisches Krankenhausmanagement, Berlin 2018.

  11. Vgl. ebd.

  12. Vgl. ebd. sowie Dawid Pieper/Tim Mathes et al.: State of evidence on the relationship between high-volume hospitals and outcomes in surgery: a systematic review of systematic reviews, in: Journal of the American College of Surgeons 216(5): 1015–1025. e1018, 2013 Online unter: Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.jamcollsurg.2012.12.049 (Stand: 09.10.2020)

  13. Vgl. Steffen Fleßa: Systemisches Krankenhausmanagement, Berlin 2018

  14. Vgl. Steffen Adler: Klinik wird verkleinert, in: Ostsee-Zeitung. Greifswald, 04.11.2015.

  15. Vgl. Steffen Fleßa: Kleinere Krankenhäuser im ländlichen Raum, Berlin, Heidelberg 2020.

  16. Vgl. Steffen Fleßa/S. Haugk et al.: De Führn Dokter – Ärzte auf Achse in medizinisch unterversorgten Gebieten?, in: Krankenhaus Umschau 76, 2007, S. 406–408.

  17. Vgl. Olav Götz/ Thomas Möller et al.: Einweiserverhalten niedergelassener Ärzte in Vorpommern, in: Das Krankenhaus 2/2011, S. 111–146.

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Prof. Dr. Neeltje van den Berg ist Versorgungsepidemiologin und Geografin. Seit 2005 ist sie als Wissenschaftlerin am Institut für Community Medicine, Abt. Versorgungsepidemiologie und Community Health der Universitätsmedizin Greifswald tätig. Seit 2011 ist sie hier Stellvertreterin der Abteilungsleitung. Sie leitet den Forschungsbereich Innovative Versorgungskonzepte und Regionale Versorgung und den Integrierten Funktionsbereich Telemedizin (IFT). Ihre Forschungsschwerpunkte sind regionale Versorgung, bevölkerungsbezogene Interventionen, geografische Analysen, die Entwicklung, Implementierung und Evaluation von innovativen Versorgungskonzepten sowie telemedizinische Projekte und eHealth.

Prof. Dr. Steffen Fleßa ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Er ist Gründungsmitglied der interdisziplinären Forschergruppe "Think Rural" und arbeitet im Cluster "Ländliche Entwicklung" des Interdisziplinären Forschungszentrums Ostseeraum der Universität Greifswald mit. Eine seiner letzten Publikationen in diesem Bereich ist "Kleinere Krankenhäuser im ländlichen Raum. Lösungsmodelle für eine finanzierbare Versorgung" (Springer 2020).

Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann, MPH, ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Community Medicine und Leiter der Abt. Versorgungsepidemiologie und Community Health an der Universität Greifswald. Seine Forschungsinteressen im Bereich "ländliche Räume" sind Versorgungsepidemiologie und Epidemiologie chronischer Erkrankungen, Bevölkerungsbezogene Intervention und Prävention sowie neue Konzepte der Gesundheitsförderung und Prävention.