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Bildung in ländlichen Räumen und die Rolle der Lehrerbildung | Ländliche Räume | bpb.de

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Bildung in ländlichen Räumen und die Rolle der Lehrerbildung

Anne Heller Stefan Ewert

/ 6 Minuten zu lesen

Wie steht es um die Bildung der Bevölkerung in ländlichen Räumen? Wie erreichbar sind Bildungsangebote für die Bürgerinnen und Bürger und welche Möglichkeiten hat die Bildungspolitik, darauf zu reagieren? Anhand ausgewählter statistischer Kennzahlen betrachtet der Beitrag beispielhaft den Kreis Vorpommern-Greifswald und zieht Schlussfolgerungen für die Entwicklung der Lehrerbildung in den kommenden Jahren.

Unterricht in einer Grundschule in Booßen, einem Ortsteil von Frankfurt (Oder) (© picture-alliance/dpa)

Deutschlandweiter Überblick

Die Frage der Erreichbarkeit von Bildungsstätten ist gerade im ländlichen Raum von großer Bedeutung. Deutschlandweite Berechnungen des Thünen-Instituts zeigen auf, dass insbesondere Kindertagesstätten für Landbewohner*innen häufig nur mit dem Pkw erreichbar sind. Hier sind die durchschnittlichen Wege zur nächsten Einrichtung mit 2,6 Kilometern fast doppelt so lang wie in städtischen Räumen. Auch die nächstgelegene Grundschule zu Fuß zu erreichen ist in ländlichen Räumen nur mit deutlich mehr Zeit als in der Stadt möglich (vgl. Abb. 1). Schaut man vor Ort auf die Wegesituation, wird schnell deutlich, dass die fußläufige Erreichbarkeit häufig nur theoretisch existiert. In vielen Gemeinden, insbesondere in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands, gibt es schon heute keine Grundschule mehr vor Ort, weite Schulwege sind für die Kinder dieser Gemeinden Realität.

Abbildung 1: Wie lange gehen Kinder zu Fuß zur Grundschule? (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb, Thünen-Institut für ländliche Räume 2017)

Auch bei einem Blick auf die durchschnittlich benötigte Zeit, um mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, werden die Unterschiede zwischen Stadt und Land deutlich. Während Schüler*innen der Sekundarstufe 2 in nicht-ländlichen Regionen durchschnittlich etwas über eine Viertelstunde unterwegs sind, benötigen Schüler*innen in ländlichen Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns durchschnittlich über 50 Minuten für den Schulweg auf dem Rad. Faktisch ist daher für viele dieser Schüler*innen die Fahrt mit dem Schul- oder Linienbus die tägliche Routine. Doch auch im Bus ist so mancher Schulweg durch Umstiege und weite Touren über die Dörfer für viele eine Herausforderung.

Werfen wir einen Blick auf die Bildungschancen im deutschlandweiten Stadt-Land-Vergleich. Vielbeachtet von der Öffentlichkeit publizierte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2019 den Teilhabeatlas Deutschland , der die ungleichwertigen Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen prosperierenden und peripheren ländlichen Regionen veranschaulicht. Die Unterschiede in den Bildungschancen werden über den Indikator "Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss" erfasst. Ohne Schulabschluss ist die Chance auf eine gleichwertige Teilhabe an der Gesellschaft besonders gering. Abbildung 2 zeigt die deutlichen Unterschiede zwischen den Regionen.

Abblildung 2: Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss an allen Absolventen 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)

In den peripheren ländlichen Regionen, etwa in Sachsen-Anhalt oder im nördlichen Brandenburg, ist die Quote der Menschen ohne Schulabschluss mit neun Prozent besonders hoch. Die Erhebung verdeutlicht jedoch auch: In Kreisen mit "erfolgreichen ländlichen Regionen" – etwa in Bayern – liegt die Abbrecherquote teilweise unter vier Prozent. Dieser erste Blick auf zwei Bildungsindikatoren verdeutlicht: Ländliche Räume in Deutschland sind auch mit Blick auf die Bildungschancen sehr unterschiedlich, und vor allem periphere ländliche Räume haben mehr Schwierigkeiten als andere Regionen, diesen ungemein wichtigen Aspekt gleichwertiger Lebensverhältnisse umsetzen zu können. Sichtbar wird dies auch, wenn man sich die Statistiken der Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit Hochschulreife anschaut: Liegt die Quote in kreisfreien Großstädten bei über 40 Prozent, so ist sie in dünn besiedelten ländlichen Kreisen mit gerade einmal 28 Prozent deutlich geringer. Die Folge sind eingeschränkte Möglichkeiten für junge Menschen auf dem Land, an Bildung teilzuhaben.

Schüler warten vor der Schule auf Schulbusse, um in ihre Heimatgemeinden zu fahren, Gadebusch, Landkreis Nordwestmecklenburg (© picture-alliance/dpa)

Ein Blick in den Landkreis Vorpommern-Greifswald

Der Landkreis Vorpommern-Greifswald im äußersten Nordosten ist einer der größten Kreise in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist in der Thünen-Typologie ein sehr ländlicher Raum mit einer weniger guten sozioökonomischen Lage. Am Beispiel des Kreises wird deutlich erkennbar, welche Dimensionen sich hinter den allgemeinen Feststellungen langer Wege zur Schule im ländlichen Raum und den eingeschränkten Möglichkeiten zur Teilhabe an Bildung verbergen.

Abbildung 3 zeigt, wie sehr sich die Wege für die Schüler*innen im Landkreis seit 1995 verlängert haben. Jedes rote Kreuz steht für einen Schulstandort, der in den letzten 25 Jahren geschlossen wurde. Der demografische Wandel sorgte seit 1995 für einen Rückgang der Schüler*innenzahlen um 59 Prozent, die Schulschließungen folgten dieser dramatischen Entwicklung.

Abbildung 3: Bildungsinfrastruktur in Vorpommern-Greifswald: allgemeinbildende Schulen(Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Es gibt zudem große Unterschiede zwischen den Gemeinden innerhalb des Kreises Vorpommern-Greifswald hinsichtlich des prozentualen Anteils der Schüler*innen, die Privatschulen besuchen. Dies verdeutlicht, dass aufgrund der großen Entfernung einiger Gemeinden zum nächsten Schulstandort in freier Trägerschaft faktisch keine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Bildungsanbietern besteht. Geht man davon aus, dass eine Zunahme von Auswahlmöglichkeiten an Schulträgern auch einen Aspekt größerer Bildungschancen bedeutet, so ist auch hier eine gewisse Benachteiligung dieses peripheren ländlichen Raums erkennbar.

Benachteiligung zeigt sich jedoch nicht nur im erschwerten Zugang zu schulischer Bildung, sondern betrifft häufig auch die Nutzung sogenannter non-formaler Bildungsstrukturen. Institutionen der non-formalen Bildung sind etwa Volkshochschulen und Musikschulen, die in der Regel v.a. in städtischen Räumen aktiv sind und für deren Besuch die Einwohner ländlicher Räume nicht nur im Kreis Vorpommern-Greifswald entsprechend mobil sein müssen.

Lehrerinnen und Lehrer vorbereiten

Wie sollte die Bildungspolitik auf diese Ungleichheiten reagieren? Ein pragmatischer Umgang mit den skizzierten Herausforderungen ist die Vorbereitung angehender Lehrer*innen auf den Unterricht an ländlichen Schulen bereits im Studium. Durch Schulbesuche, Praktika und Projekte an Schulen im ländlichen Raum bekommen Studierende die Möglichkeit, diesen als potenziellen Arbeits- und Lebensraum kennenzulernen. Eine den Anforderungen entsprechende und praxisorientierte Qualifizierung von Lehrkräften ermöglicht auch eine aktive Kooperation von Schule und dörflicher "Bildungslandschaft". Die ländliche Region wird dann schon im Studium zur Bezugsgröße.

Ein Beispiel dafür ist das Projekt "Uni vor Ort" (UvO), welches als Modell- und Demonstrationsvorhaben "Soziale Dorfentwicklung" im Rahmen des Bundesprogramms Ländliche Entwicklung an der Universität Greifswald und in der Gemeinde Weitenhagen im Landkreis Vorpommern-Greifswald durchgeführt wurde. Studierende lernten neben den Potenzialen insbesondere auch die Herausforderungen und Problemlagen peripherer ländlich geprägter Regionen (z.B. lückenhafte Verkehrsinfrastruktur, fehlende soziale Räume wie Jugendclubs und eingeschränkte kulturelle Angebote) kennen und erforschten mit der Methode "Service Learning" ein Gemeinwesen mit seinen sozialen Strukturen. Als projektorientiertes Lehr-Lern-Format ermöglicht Service Learning die Verknüpfung von wissenschaftlichem Lernen ("Learning") und gemeinnützigem Handeln ("Service"), so dass Studierende ihre erworbenen Kenntnisse in der Praxis anwenden und überprüfen können.

Insbesondere vor dem Hintergrund der skizzierten demografischen Entwicklung in der Region Vorpommern-Greifswald spielten der Berufsfeldbezug und die Idee, Absolvent*innen für den ländlichen Raum zu begeistern, eine zentrale Rolle. Die Studierenden erlebten so z. B. über von ihnen organisierte "Erzählcafés" die besonderen Herausforderungen ländlicher Räume unmittelbar.

Im erziehungswissenschaftlichen Begleitstudium der zukünftigen Lehrer*innen nahmen über den gesamten Projektzeitraum etwa 130 Studierende an den eigens für das Projekt konzipierten "UvO – Werkstätten" teil. Mit dem neuen Lehr-Lernformat der "Werkstatt" entstand ein Lern- und Erfahrungsraum, der einen praxisorientierten Zugang in das Feld bot und gleichermaßen "Forschendes Lernen" ermöglichte. Parallel wurden non-formale und informelle Bildungsangebote sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche geschaffen, die vor Ort genutzt worden sind.

Probleme und Herausforderungen werden im Rahmen solcher Modellvorhaben bereits im Studium adressiert. Die zukünftigen Lehrer*innen finden mit Hilfe des neu erworbenen Wissens einen adäquaten Zugang zur Unterrichtspraxis und können diese Erfahrungen dann im (außer-)schulischen Arbeitsfeld nutzen.

Schulwege werden zwar durch solche Ansätze nicht kürzer, und die Auswahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Anbietern nicht größer. Wenn Lehrerinnen und Lehrer auf diese Weise jedoch auf eine Tätigkeit im ländlichen Raum vorbereitet werden, können diese Nachteile ein Stück weit ausgeglichen werden. Sie lernen etwa, das Naturkapital ländlicher Räume über die Anlage von Naturerlebnispfaden für die Bildung zu nutzen und tragen so dazu bei, das Lernen im ländlichen Raum attraktiver zu machen.

Projekt Uni vor Ort

Über den Projektzeitraum waren in jedes Semester ein bis zwei Werkstätten in das Studium integriert, die sowohl innerhalb der Universität als auch in den Gemeinden vor Ort stattgefunden haben.

  • Die fachwissenschaftliche Grundlegung erfolgte über die Themen Bürgerschaftliches Engagement in ländlichen Räumen, Sozialraumanalyse, Demokratiebildung und Partizipation an Hochschulen und Schulen, Ganztagsschulentwicklung und Partizipationsmodelle (Service Learning).

  • Studierende erarbeiteten ein Portfolio, das von Semester zu Semester weiterentwickelt wurde und sowohl inhaltliche Sammlung als auch reflektierendes Instrument war.

  • In jedem Semester fand in Kooperation mit der Politikwissenschaft eine sozialräumliche Dorfbegehung statt, die den Studierenden den ländlichen Raum anschaulich machen sollte.

  • Forschendes Lernen wurde über Methoden Qualitativer Sozialforschung (u. a. Leitfaden Interviews, Hermeneutischer Zirkel) realisiert, indem Studierende eigene Forschungsfragen generierten, Leitfragen entwickelten und Bürger*innen interviewten.

  • Mit einer Stakeholder Analyse gelang es, Multiplikator*innen in der Gemeinde zu identifizieren und in den Prozess der Ideenfindung für Projekte aktiv mit einzubeziehen.

  • Es entstanden unterschiedliche Ideen, insbesondere unter einem intergenerationellen Ansatz, mit Bürger*innen für die Gemeinde aktiv zu werden

  • Angebote im Jugendclub: Weihnachtsbasteln und -bäckerei, Lesenacht, Fußballturnier, Kerzenziehen, Erstellung einer Büchertauschecke in der Gemeinde

  • Angebote im "Dörphus": Erzählcafé: "Geschichten aus dem Konsum", Errichtung eines Naturerlebnispfades und eines Barfußpfades

Weitere Inhalte

Dr. Anne Heller ist Erziehungswissenschaftlerin und als Lehrerbildnerin an der Universität Greifswald tätig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Lehrer/-innenbildung im ländlichen Raum, demokratische Schulentwicklung und soziale Integration.

Dr. Stefan Ewert ist Politikwissenschaftler und Landschaftsökologe. Er ist Forscher im Cluster "Nachhaltigkeit" des Interdisziplinären Forschungszentrums Ostseeraum der Universität Greifswald. Zur Entwicklung ländlicher Räume publizierte er u.a. Landwirtschaftspolitik und die Entwicklung des ländlichen Raums – neue Felder der Politik der Bundesländer. In: Hildebrandt, Achim/Wolf, Frieder (Hrsg.) 2016: Politik in den Bundesländern: Zwischen Föderalismusreform und Schuldenbremse, Wiesbaden, 233-257.