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Bürgerschaftliches Engagement als Gestaltungsengagement

Andreas Willisch

/ 7 Minuten zu lesen

In ländlichen Räumen fällt den Menschen vor Ort Engagement nicht leicht. Allerdings können schon wenige Aktive eine Menge bewegen. Die Gesellschaft braucht bei der Bewältigung von Umbruchsprozessen solche transformationserfahrenen Akteure.

Klara Fries (l.) ist Initiatorin des Demokratiebahnhofs Anklam, einem Jugend- und Kulturzentrum, das im Jahr 2014 gegründet wurde und seitdem ehrenamtlich organisiert wird. (© Jörg Gläscher/Thünen-Institut für Regionalentwicklung)

Fragt man nach dem bürgerschaftlichen Engagement in Dörfern und Kleinstädten, gibt es zwei Nachrichten – ein gute und eine auf den ersten Blick schlechtere. Die schlechte Nachricht zuerst: In ländlichen Räumen, insbesondere in Ostdeutschland, fällt den Menschen vor Ort Engagement durchaus schwer. Große Bereiche des klassischen ehrenamtlichen Engagements, zum Beispiel in Sportvereinen, Traditionsvereinen und selbst den Freiwilligen Feuerwehren, leiden unter der Zersplitterung der Gesellschaft und dem großen Aufwand für berufsbedingte Mobilität.

Sich trotzdem zu engagieren, fällt unter diesen Voraussetzungen nicht leicht. Für viele Menschen bleiben nur die Wochenenden, die zugleich noch mit den Familien und Arbeiten im Garten, am Haus oder auf den Grundstücken geteilt werden müssen. Für Mannschaftssportarten reichen die wenigen Aktiven in den Vereinen nicht aus. Kinder und Jugendliche müssen zu jedem Wettkampf und jedem Training von den Eltern gefahren werden. Vielfach bleibt die kontinuierliche Vereinsarbeit an den Älteren in den Gemeinden hängen, deren Leistungen dann nur schwer zu ersetzen sind.

Die gute Nachricht ist: Es braucht häufig in kleinen Dörfern und Städten überhaupt nicht viele engagierte Menschen, und diese wenigen Aktiven können eine Menge bewegen. Wenn es darum geht, ein Dorffest zu organisieren, reichen fünf, sechs gut organisierte Leute, die wiederum andere mitreißen können. Ein Scheunenkonzert wird von zwei, drei Musikliebhabern auf die Beine gestellt. Auch der Dorfputz kann von einem kleinen Team vorbereitet werden. Sich heute zu engagieren, muss keine lebenslange Verpflichtung mehr sein. Die Leute finden sich für ihr Anliegen zusammen, stellen etwas auf die Beine und suchen sich im besten Fall etwas Neues. Viele Wählerinitiativen funktionieren genauso. Nicht selten werden Bürgerinitiativen, die ursprünglich gegen Windräder, Tiermastanlagen oder Infrastrukturvorhaben mobilisierten, umgewandelt, um nicht nur gegen etwas sondern auch für etwas zu sein. Aus dem Widerspruch wächst Konstruktives.

Was ist das überhaupt – bürgerschaftliches Engagement?

Bürgerschaftliches Engagement sind soziale Tätigkeiten , die auf die Gesellschaft bezogen sind und in Gesellschaft mit anderen durchgeführt werden. Sie sind öffentlich und finden im öffentlichen Raum statt und sie sind freiwillig, nicht auf individuellen materiellen Gewinn aber durchaus auf den Lebensunterhalt stützende Einkommen gerichtet.

Die Formen des Engagements reichen vom klassischen Ehrenamt, für das sich BürgerInnen für den Staat in Anspruch nehmen lassen – so etwa für die Arbeit als Schöffen oder ehrenamtliche Bürgermeister –, über Engagementformen der (karitativen) Selbsthilfe, Sorge und Seelsorge bis hin zu Tätigkeiten im Sport-oder Kulturbereich. Adalbert Evers, Thomas Klie und Paul-Stefan Roß (2015) unterscheiden zudem zwischen Engagementformen freiwilliger Mitarbeit und der Mitsprache bei Entscheidungsprozessen, "bei denen es um Handeln im politischen Gemeinwesen in der Form von Forderungen, Argumenten, der Organisation von Meinungsführerschaft, Protest und Kampagnen geht." So sehen wir gerade in allen ländlichen Räumen, dass die Planung von Windkraftanlagen oder auch Anlagen der industriellen Tiermast meist mit dem Widerstand gut organisierter Protestgruppen einhergeht.

Das Engagement von BürgerInnen in ländlichen Räumen muss zudem dahingehend gesehen werden, dass der Selbstorganisation und Selbstverantwortung aufgrund der geringeren Bevölkerungs- und Infrastrukturdichte größere Bedeutung zukommen und dass es auf dem Land eine wesentlich geringere soziale Segregation als in urbanen Räumen gibt. Das hat zur Folge, dass sich soziale Unterschiedlichkeit auch immer relativ schnell in den Vereinigungen des Engagements abbildet. So sind die Nachbarn meist die ersten KritikerInnen des eigenen Engagements. Das macht es einerseits leichter miteinander in Austausch zu treten, hebt aber immer auch die Hemmschwelle an, sich diesen Bewertungen auszusetzen.

Vier Typen des Engagements

In einem Gutachten zur Erfassung bürgerschaftlichen Engagement für den Regionalen Planungsverband Westmecklenburg haben wir 1.800 Gruppierungen, Vereine und Initiativen der Region (außer Mittel- und Oberzentren) erfasst, nach Kriterien sortiert und daraus Cluster oder Typen abgeleitet. Wenn man sich die Engagementlandschaft in der Region anschaut, lassen sich vier Engagementtypen unterscheiden (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Vier Typen des Engagements (© Thünen-Institut für Regionalentwicklung/urbanizers Berlin )

Diese vier Typen haben wir unterschieden nach ihrer (über-)regionalen Einbindung, ihrem Wirkungskreis, ihrer internen Organisation und ihrer Motivation. Die Stützpfeiler und Alltagshelden werden demnach durch lokales Engagement und durch ihre landes- mitunter bundesweite Einbindung getragen. Typisch dafür sind Sportvereine, die in einem Landessportbund organisiert sind, Kirchgemeinden oder die Freiwilligen Feuerwehren. Die beiden Gruppen machen den weitaus größten Teil aller Erfassten aus.

Bei den Leuchttürmen – ca. einem Drittel der 1.800 von uns betrachteten Gruppierungen – handelt es sich vor allem um lokale Aktivitäten in den Bereichen Kultur, Heimat und Freizeitgestaltung sowie um Fördervereine. Die Leuchttürme vereinen die größte Mischung an Themen- und Aktivitätsfeldern. Zu ihnen gehören auch nachbarschaftliche Netzwerke. Ihr Engagement zielt auf die Stärkung der örtlichen Identität ab und möchte innerhalb des Ortes lokal-gesellschaftliche Orientierung bieten.

Barbara Klembt (vorne) war viele Jahre Bürgermeisterin der Gemeinde Wiesenburg/Mark in Brandenburg. Seitdem versucht sie gemeinsam mit anderen ihre Region lebenswerter zu gestalten und hat u.a. die "Perspektivfabrik Hoher Fläming" erdacht. (© Jörg Gläscher/Thünen-Institut für Regionalentwicklung)

Das kleinste der untersuchten Cluster haben wir die Gestalter genannt. Es sind insgesamt relativ wenige Gruppen (32), die wir den Gestaltern zuordnen konnten und es sind in der Regel auch nicht viele Aktive, die sich dort versammeln. Darunter finden sich auch die Wählergemeinschaften, die heute in den meisten Gemeinden Abgeordnete in den Gemeinderäten stellen (und dann nach Wahlen häufig wieder unsichtbar werden). Die Themen und Aktivitäten der Gestalter sind unmittelbar auf die gesellschaftlichen Veränderungen vor Ort gerichtet. Sie wollen umgestalten, Dinge selber machen und Einfluss nehmen.

Wenn man noch einmal die Unterscheidung von Evers/Klie/Roß in Mitarbeit und Mitsprache im Sinne von Protestengagement dagegen hält, handelt es sich bei den Aktivitäten von Gestaltern um ein politisches Engagement, das selbst Veränderungen herbeiführen will, das nicht protestiert, damit andere – "die Politik da oben" oder "die Verwaltung" – aktiv wird, sondern das eine eigene Agenda verfolgt und dazu auch die kommunalen Parlamente (zeitweise) nutzt. Ihr Protest verbirgt sich in ihren Ideen und Praxen für Veränderung.

Kritik als Potenzial wahrnehmen

Das Aussteigen aus der Gesellschaft, das lange Zeit als grundsätzliche Kritik am System galt, ist für viele engagierte, und nicht minder kritische Menschen zum Einstieg ins engagierte Handeln vor Ort geworden. Seitens der Verwaltungen werden diese gestaltungswilligen Akteure viel zu häufig als KritikerInnen und StörerInnen der Regelabläufe wahrgenommen. Auch wenn sie als gewählte Abgeordnete, gewählte BürgermeisterInnen oder OrtsteilvorsteherInnen mit Mandat der BürgerInnen agieren, wird ihr Veränderungshandeln noch viel zu selten als Potenzial für die Bewältigung anstehender Transformationsprozesse (Klimawandel, Stärkung der Demokratie, Digitalisierung) wahrgenommen und genutzt.

Es geht auch in den kleinsten Kommunen immer um Deutungshoheit über die Beschreibung der aktuellen Lage, um Einfluss auf die vor Ort gestaltbaren Prozesse und um den Zugang zu Ressourcen. Die Achillesferse der Gestalter und Gestalterinnen, – denn in der Tat sind es häufig Frauen, die die Initiative ergreifen und mehrheitlich Frauen, die die Initiativen tragen – ist der Zugang zu Ressourcen, die ihren Lebensunterhalt sichern. Diese lokalen, politisch gemeinten, auf gesellschaftliche Transformationsprozesse bezogenen Aktivitäten entstehen absolut freiwillig, aber in großer Verantwortung der Gesellschaft gegenüber. Sie sind parteiisch ohne eine Anbindung an konkrete Parteien zu haben und insofern erwarten die Akteure gesellschaftliche Anerkennung und finanzielle Ressourcen, wie sie auch anderen "Parteien" jenseits der lokalen Ebene gewährt werden.

Hier liegt zudem eine der Quellen für die Stärkung der demokratischen Strukturen. Gerade in "grundlegenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen" entstehen "neue soziale und politische Handlungseinheiten." Es treten neue, ungebundene, auf individuelle Selbstentfaltung und Selbständigkeit bedachte soziale Akteure in den Raum, die darauf drängen, Gesellschaft anders und vor allem selbst zu gestalten. Sie stöbern in den Lücken und Nischen der Umbruchsgesellschaft nach politischer Selbstwirksamkeit und individueller Entfaltung.

Ähnlich wie im 19. Jahrhundert werden gerade die Dörfer, Gemeinden, Kleinstädte und Stadtteile zu Probebühnen neuer demokratischer Aushandlungsprozesse, von wo der Weg in die überregionalen politischen Foren beginnt und von denen wir viel lernen können. Die Gesellschaft braucht bei der Bewältigung der anstehenden Umbruchsprozesse diese transformationserfahrenen Akteure. Insofern lohnt sich ein Blick auf das bürgerschaftliche Engagement und seine neuen Formen in ländlichen Räumen.

Weitere Inhalte

Andreas Willisch ist Soziologe. Er leitet das Thünen-Institut für Regionalentwicklung Schlemmin. Das Thünen-Institut forscht zu Transformationsprozessen insbesondere in ländlichen Räumen Ostdeutschlands und begleitet die Akteure dieser Veränderungsprozesse, u.a. mit dem Programm "Neulandgewinner - Zukunft erfinden vor Ort" und dem Magazin Externer Link: LAND.