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Wohnen als Grundrecht? Wohnungsbaupolitik in historischer Perspektive

Sasha Disko

/ 11 Minuten zu lesen

Bezahlbarer Wohnraum ist eine Herausforderung für die Stadtpolitik. Sasha Disko stellt wohnungspolitische Konzepte zur Lösung der Wohnungsfrage in der Geschichte vor.

(@ Meike Fischer)

In ihrem Buch zur „Verteidigung des Wohnens“ („In Defense of Housing“, 2016) plädieren der Soziologe David Madden und der Stadtplaner Peter Marcuse für eine Durchsetzung radikaler Maßnahmen, um die Wohnungskrisen der Großstädte und die damit einhergehenden sozialen Ungleichheiten zu bewältigen. Sie schlagen vor, das Wohnen als Menschenrecht zu behandeln, Wohnraum den Marktprozessen zu entziehen und ihn losgelöst von Einkommenshöhen bzw. Vermögenslagen zu verteilen.

Solche Appelle sind nicht neu: Seit der Urbanisierung im 19. Jahrhundert unter liberalem Vorzeichen verweisen Kritiker auf die Wohnungsbaupolitik als eine Schlüsselstelle für den Aufbau einer besseren, gerechteren Gesellschaft. Die folgende Skizze zur Geschichte des sozialen Wohnungsbaus zeichnet entlang einer Auswahl europäischer Beispiele nach, wie die politischen und ökonomischen Verhältnisse der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Ortes verschiedene wohnungspolitische Ansätze hervorriefen.

Die Wohnungsfrage

Der rapide fortschreitende Prozess der Industrialisierung und der Urbanisierung im 19. Jahrhundert, der von starken gesellschaftlichen Ungleichheiten sowie von einer aufstrebenden Arbeiterbewegung geprägt war, ließ in allen sich industrialisierenden Ländern die sogenannte soziale Frage aufkommen. Mit Blick auf die tatsächliche soziale Ungleichheit, die vor allem in den rasch wachsenden Städten (wie zum Beispiel Manchester) kaum zu verkennen war, ist die Thematisierung der sozialen Frage als eine Entgegnung auf die Diskrepanz zwischen den abstrakten politischen Werten der Freiheit und Gleichheit einerseits und den vorherrschenden konkreten sozialen Verhältnissen andererseits zu verstehen. Die soziale Frage umfasste einen vielfältige Problemkomplex, der unter anderem administrative, ökonomische, juristische, erzieherische, hygienische, wissenschaftliche, ästhetische und moralische Dimensionen aufwies.

Die Wohnungsfrage wiederum kann als Teil der übergeordneten sozialen Frage verstanden werden. Sie befasste sich mit den Auswüchsen der Industrialisierung und der Urbanisierung auf das Wohnen, etwa mit der Bodenspekulation, den überteuerten und überbelegten Mietskasernen und den unhygienischen Zuständen in den explosionsartig wachsenden Arbeitervierteln.

Die gesellschaftlichen Antworten auf die Wohnungsfrage wiederum lassen sich historisch betrachtet in zwei Kategorien einteilen: Erstens in eine revolutionär orientierte Tradition; zweitens in eine reformorientierte Tradition. Beide Ansätze prangerten die Missstände in den Wohnverhältnissen vor allem der urbanen Arbeiterklassen an. Die revolutionär orientierte Tradition zielte damit allerdings auf eine Umwälzung des gesamten politisch-ökonomischen Systems, während sich die reformorientierte Tradition auf eine Verbesserung der urbanen Wohnverhältnisse innerhalb des gegebenen gesellschaftlichen Ordnungsrahmens konzentrierte.

Revolutionär orientierte Antworten auf die Wohnungsfrage

Im Zuge der politischen Revolution in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts sahen Frühsozialisten wie Robert Owen oder Charles Fourier schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Lösung der Wohnungsfrage auch die Lösung der sozialen Frage. Sie setzten die ideale Stadt mit der idealen Gesellschaft gleich. Das Kollektiv wurde zur Grundlage der Erfüllung des individuellen Glücks erhoben. Fouriers Idee der Phalanstère – stadtnahe, jedoch in sich abgeschlossene Einheiten für bis zu 1.600 Menschen, in denen nicht nur zusammen gewohnt, sondern auch zusammen gearbeitet und sich gemeinsam erholt werden sollte – zeugte von der Kreativität einer Gesellschaft inmitten politischen und sozialen Wandels. Vorgesehen waren nicht nur Wohnungen und Werkstätten, sondern auch Bibliotheken, Schulen und Geschäfte, zudem opulente Ball- und Speisesäle. Im Zentrum stand die Idee der kommunalen Versorgung sozialer Bedürfnisse wie Essen, Kleiden, Freizeit und Kinderbetreuung.

Auch wenn Fouriers Phalanstère sich in der Tat als utopisch herausstellte und tatsächlich ausprobierte Experimente mit dieser Form des Wohnens nur von kurzer Dauer waren, beeinflussten frühsozialistische und utopische Ideen die späteren Verfechter der revolutionär orientierten Tradition des Wohnungsbaus, so etwa zu Anfang des 20. Jahrhunderts in der neu gegründeten Sowjetunion. In den ersten fünfzehn Jahren ihrer Existenz wurde dort versucht, eine gänzlich neue proletarische Kultur der Kooperation und des kommunalen Raums zu schaffen. In diesem neuen System gab es nicht nur ein Recht auf Wohnraum, sondern alle sozialen Bedürfnisse sollten, wie bei Fourier, kollektiv organisiert werden. Ein wichtiger Aspekt des neuen Wohnens zielte darauf, Frauen von der Haus- und Familienarbeit weitestgehend zu entlasten. Konkret hieß das, kommunale Küchen, Waschstätten, Bäder, Kindergärten, Turnhallen, Versammlungsräume und Grünflächen in die Planungen neuer Wohnungen miteinzubeziehen. Das wohl bekannteste Beispiel dieses neuen sowjetischen Wohntypus ist das von den konstruktivistischen Architekten Moisei Ginzburg und Ignatii Milinis entworfene und gebaute „Narkomfin“ in Moskau.

Obgleich die wirtschaftliche Lage in der UdSSR der 1920er Jahre nur wenige Exemplare dieses neuen Wohnungstypus realisieren ließ, wurde die zugrundeliegende Idee, eine neue Gesellschaft in einer neuen Architekturform zu verankern, weiter vorangetrieben: Die Formsprache der Architektur wurde zum bewussten Instrument der Politik gemacht, um die Gesellschaft, wenn nicht zu revolutionieren, so mindestens zu reformieren. Das Prinzip der Stadt als funktioneller Einheit wurde von vielen Architekten des 20. Jahrhunderts, beispielsweise des CIAM (Congrès International d’Architecture Moderne), von Le Corbusier oder von Walter Gropius, zur Planungsleitlinie erhoben.

Prägend für die revolutionär orientierte Tradition in der Beantwortung der Wohnungsfrage war auch die kurzlebige Pariser Kommune im Frühjahr 1871. Die Wut der Pariser richtete sich unter anderem gegen die städtebauliche Umgestaltung von Paris – gegen die sogenannte Haussmanisierung –, welche Bodenspekulation, überteuerte Mietverhältnisse und – damals schon – Gentrifizierung mit sich brachte. Dass eine der ersten und populärsten Forderungen der politisch heterogen zusammengesetzten Kommunarden der Erlass von noch ausstehenden Mietzahlungen war, zeugt von der Dringlichkeit der Wohnungsfrage für die Stadtbevölkerung sowie von deren Bedeutung für die Schaffung einer neuen sozialen Basis für eine neue Gesellschaft, die ohne „Klassen und damit der Klassenherrschaft“ auskommen sollte.

Als radikaldemokratischer Versuch, die selbstverwaltete Stadt als gesellschaftliches Ordnungsprinzip zu etablieren, steht die Pariser Kommune nicht nur für ein wichtiges historisches Beispiel der revolutionär orientierten Tradition in der Beantwortung der Wohnungsfrage. Sie diente auch als Inspiration für Teile der munizipalsozialistischen Bewegung (s. u.) und für Henri Lefebvre, einen Vordenker der heutigen „Recht auf Stadt“-Bewegung.

Reformorientierte Antworten auf die Wohnungsfrage

Auch reformorientierte Lösungen der Wohnungsfrage haben ihren Anfang im 19. Jahrhundert. Zahlreiche Reformer verschiedenster politischer Lager kritisierten die sozialen Probleme, die die zunehmende Industrialisierung und das ungeregelte Wachstum der Städte sichtbar machten. Statt aber auf einen radikalen Umbau der Gesellschaft zu setzen befürworteten Reformer, die meist aus dem bürgerlichen Milieu stammten, verbesserte Wohnverhältnisse innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei sahen manche Reformer in den Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnsituation der arbeitenden Bevölkerung durchaus zugleich die Möglichkeiten für eine allmähliche Umwandlung der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft.

Andere Vertreter der reformorientierten Tradition dagegen zielten darauf, das bestehende Gesellschaftssystem zu optimieren. Im Folgenden werden an einigen Beispielen die dafür vorgebrachten unterschiedlichen historischen Ideen zum Wohnungsbau und deren Umsetzungen näher beleuchtet. Für die reformorientierte Tradition bedeutsam waren Werkssiedlungen, Gewerkschaftswohnungen, die Genossenschaftsbewegung, der Munizipalsozialismus und die Gartenstadtbewegung.

(@ Meike Fischer)

In England, aber auch in Deutschland und anderswo, ließen manche sozial eingestellte Unternehmer Werkssiedlungen bzw. Werkswohnungen bauen, um Arbeitnehmer und ihre Familien in der Nähe der Fabriken unterbringen zu können. Diese paternalistische Lösung der Wohnungsfrage wurde von dem Glauben getragen, dass ein zufriedener Arbeiter auch ein produktiverer Arbeiter sein werde. Bekannte Beispiele für Werkssiedlungen sind Port Sunlight in der Nähe von Liverpool, Cité Frugès in der Nähe von Bordeaux oder die Siedlung Margarethenhöhe in Essen.

In Kontrast zu den von Unternehmen geförderten Werkssiedlungen sind der Gewerkschaftswohnungsbau sowie die Genossenschaftsbewegung zwischen den Traditionen der revolutionär orientierten und der reformorientierten Wohnungspolitik anzusiedeln. Beide Typen der gemeinnützigen Körperschaft betrieben eine Art kollektive Selbsthilfe in der Beschaffung von Wohnraum, die von den Ideen der Solidarität und der Mitbestimmung getragen wurden. Gewerkschaftswohnungen waren in Deutschland hundert Jahre lang fester Bestandteil der reformorientierten Tradition, bis sie mit dem Skandal um die Neue Heimat in den 1980er Jahren ein jähes Ende fanden. Falsche Entscheidungen und persönliche Bereicherungen seitens der Unternehmungsleitung der damals größten Wohnungsbaugesellschaft Europas führten zum Niedergang des gewerkschaftlich organisierten Wohnungsbaus in Deutschland.

Ein erfolgreiches Gegenbeispiel zum Bankrott des gewerkschaftlichen Wohnungswesens stellt die internationale Genossenschaftsbewegung dar. Sie organisierte neben produktiven auch nicht-produktive Bereiche. Arbeitnehmer setzten sich zusammen: Nicht nur, um die Produktion selbst in die Hand zu nehmen, sondern auch (und noch erfolgreicher), um ihre Alltagsbedürfnisse (wie den Konsum oder das Wohnen) selbst zu decken. Die Baukosten der Genossenschaftswohnungen wurden teilweise durch eigene Arbeit gesenkt. Sie lagen somit zehn bis dreißig Prozent unter den üblichen Preisen des freien Markts. Achtzehn Prozent der Neubauten in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik waren Genossenschaftswohnungen. Die Formsprache der Bebauung war heterogen und reichte von mehrstöckigen urbanen Wohnblocks bis zu suburbanen Siedlungen. Die Vielzahl der heutigen Neugründungen genossenschaftlicher Wohnungsbaugesellschaften zeugt von einer Wiederbelebung des genossenschaftlichen Selbsthilfekonzepts als Antwort auf den Rückzug der öffentlichen Hand aus der Wohnungsbaupolitik und auf das geringe Angebot an bezahlbarem Wohnraum in den Großstädten des 21. Jahrhunderts.

Wie die Genossenschaftsbewegung ist auch der Munizipalsozialismus politisch zwischen den revolutionären und den reformorientierten Traditionen zu verorten. Schon vor dem ersten Weltkrieg brachte der Munizipalsozialismus europaweit eine Kehrtwende in der Wohnungsbaupolitik. War der Wohnungsbau bis dahin mit wenigen Ausnahmen durch nichtöffentliche Träger ausgeführt worden, fingen neugewählte sozialistische Lokalpolitiker an, die Versorgung mit Wohnraum kommunal zu organisieren. Bekannt als „Fabian Socialists“, gründeten etwa britische Munizipalsozialisten 1889 das „London County Council“, um die Verantwortung für die städtische Infrastruktur – unter anderem für die Beschaffung von Wohnraum – in die öffentliche Hand zu überführen. Der Munizipalsozialismus war eine internationale und politisch heterogene Bewegung. Maßgeblich daran beteiligt waren die Gewerkschaften, die Genossenschaftsbewegung und verschiedene Vereinigungen von Mietern und Verbrauchern. Die Bewegung blieb bis zum zweiten Weltkrieg von politischer Bedeutung, auch wenn sie mit der Zeit von der politischen Idee der Städte als den Keimzellen einer kollektivistischen Gesellschaft abrückte, um sich zunehmend technokratischen Lösungen der Wohnungsfrage innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens zu widmen.

Ein ebenso bekanntes wie vielfältiges Beispiel der reformorientierten Tradition in der Beantwortung der Wohnungsfrage ist die Gartenstadtbewegung der vorigen Jahrhundertwende. Ihre Inspirationen speisten sich gleichzeitig aus der Werksiedlungs- sowie aus der Genossenschaftsbewegung. Ihre Befürworter – beispielsweise der Engländer Ebenezer Howard, dessen 1902 erschienenes Buch „Gärtenstädte von Morgen“ Leitschrift der Bewegung war –, sahen in Gartenstädten die bestgeeignetste Antwort auf die unwirtlichen Wohnverhältnisse in den Großstädten. Gartenstädte sollten eine systematische Formsprache entwickeln, so dass städtisches Leben mit den angenommenen positiven psycho-sozialen Eigenschaften eines naturnahen Lebens bereichert wird. Gartenstädte wurden mal privat, mal von der öffentlichen Hand bzw. von einer gemeinnützigen Organisation finanziert. Als Beispiele für Gartenstädte, die explizit als soziale und gemeinnützige Experimente konzipiert waren, sind die Gartenstadt Hellerau und die Weißenhofsiedlung nahe Stuttgart hervorzuheben. Da die Gartenstadtbewegung das dichte Wohnen aneinander in den Städten grundsätzlich verurteilte, hatte sie tendenziell einen antiurbanen Charakter und beförderte in der Regel architektonisch ein kleinbürgerliches Familienmodell. Gartenstadtsiedlungen können daher als Vorläufer des von staatlicher Seite subventionierten Baus von Einzelfamilien- und Reihenhaussiedlungen in den Vorstädten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen werden.

„Rotes Wien“ – von der revolutionär orientierten zur reformorientierten Tradition und darüber hinaus

Die Geschichte der Wiener Wohnungspolitik von Ende des 19. bis Anfang des 21. Jahrhunderts veranschaulicht verschiedene Modelle der sozialen Wohnungsbaupolitik und deren Verknüpfung mit den jeweiligen politischen und ökonomischen Verhältnissen. Wie fast überall wurde auch in Wien der Wohnungsbau am Ende des 19. Jahrhunderts privat, meist von kleinen Grundbesitzern, organisiert. Die durch die enormen Ausgaben für den ersten Weltkrieg ausgelöste hohe Inflation führte gleichzeitig in eine wohnungswirtschaftliche Krise und zur Einführung eines Mieterschutzes, der in veränderter Form heute noch gilt. Einen wichtigen Ansporn gab auch die Siedlerbewegung, die eine Wohnungsreform von unten vorantrieb und in den ersten Jahren nach dem ersten Weltkrieg das Bauen von Wohnraum selbst in die Hand nahm. Der vorherrschende Mangel am Wohnraum trieb Wohnungssuchende dazu, Land am Stadtrand zu besetzen und ihre Lebens- und Wohnbedürfnisse in Form von selbstorganisierten und kollektiv betriebenen Siedlungen zu befriedigen.

Als Anfang der 1920er Jahre in Wien das munizipalsozialistische Projekt der Hervorbringung einer neuen Gesellschaft durch die Bereitstellung von Wohnraum an Bedeutung gewann, institutionalisierten lokale sozialdemokratische Politiker auf städtischer Ebene die kollektivistischen Initiativen, die aus der Siedlerbewegung stammten. Um die Wohnungsnot zu bekämpfen erarbeitete der Munizipalsozialist Robert Danneberg ein stark progressives Steuergesetz, das den Bau von 61.175 neuen Wohnungen zwischen 1923 und 1934 finanzierte sowie „reine Instandhaltungsmieten“ ermöglichte. Ein beeindruckendes Exemplar der in diesem Rahmen entstandenen Gemeindebauten ist der Karl-Marx-Hof, der fast 1.400 Wohnungen für zirka 5.000 Einwohner umfasste sowie über viele soziale Einrichtungen wie Zentralwäschereien mit Badeanlagen, Kindergärten, eine Bibliothek, ein Jugendheim und eine Krankenkasse verfügte. Trotz halbkilometerlangen Fassadenfronten wurde nur ein Bruchteil der Grundfläche bebaut, so dass fast dreiviertel der Gesamtfläche für Gärten und Spielplätze reserviert waren, um die „Volksgesundheit“ sowie die Kommunikation untereinander und das Miteinanderleben zu fördern.

Die durch den lokalen Wohlfahrstaat zur Verfügung gestellten hochklassigen Gemeindebauten sollten der Arbeiterklasse die ihr zustehende Anerkennung verleihen und als gesellschaftspolitisches Instrument der Erziehung in einem sozialistischen Sinn dienen. Im Gegensatz etwa zu den zeitgleich vorgenommenen Wohnungsbauprojekten in der Stadt Frankfurt am Main lag der politische Schwerpunkt in Wien auf einer Sozialisierung des Wohnens statt auf einer Optimierung des privaten Wohnraums. Dadurch wurde der Gemeindebau in Wien zu einem festen Bestandteil eines sozialen Städtebaus, der sich noch heute in Wien bewährt.

Nach der Unterdrückung der städtischen Wohnungspolitik durch den Austrofaschismus und den Nationalsozialismus dehnte sich in der Nachkriegszeit auf sozialpartnerschaftlicher Basis der Wohlfahrstaat aus. Um die Kriegszerstörungen zu beheben wurden bis 1958 122.000 neue Wohneinheiten in der Hauptstadt Österreichs gebaut. In Wien wie auch in zahlreichen europäischen Städten dies- und jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs wurden in den folgenden Dekaden mit Hilfe industrieller Techniken große Wohnsiedlungen errichtet, teilweise ermöglicht durch die sogenannten Kahlschlagsanierungen. Ab den 1970er Jahren entwickelte sich in Wien eine Opposition von unten, die beispielweise auf eine sanfte Stadterneuerung oder eine partizipative Stadtplanung drängte. Allerdings fielen die Auswirkungen solcher Initiativen deutlich schwächer aus als in anderen europäischen Städten. In sozialer Hinsicht erwiesen sich diese wie auch spätere Initiativen oft als oberflächlich oder langfristig gar als kontraproduktiv, da sie neoliberale Stadtentwicklungsansätze der Wettbewerbsförderung kaum in Frage stellten.

Auch wenn die Stadt Wien heute noch über ein im Vergleich zu anderen europäischen Städten breites Angebot an sozial geförderten Wohnungen verfügt (rund 60 Prozent der Mietwohnungen) und dort Gentrifizierungsprozesse in einen langsameren Tempo voranschreiten als beispielsweise in Berlin, gibt es seit dem Kollaps des Ostblocks Anzeichen dafür, dass das gefeierte „Wiener Modell“ durch eine zunehmende Marktorientierung gefährdet wird. Vor diesem Hintergrund bildete sich auch in Wien ein „Recht auf Stadt“-Netzwerk, für das die Thematisierung der Wohnungsfrage zentral bleibt.

Fazit

Heute, im sogenannten neoliberalen Zeitalter, ist die Wohnungsfrage wieder zurück in die Städte gekehrt. Die Frage, ob Wohnen ein gesellschaftliches Grundrecht ist, und wenn ja, wie die Bereitstellung von Wohnraum zu organisieren wäre, wird in europäischen Städten von London bis Istanbul heiß debattiert. Kenntnisse über historische Lösungen und darüber, wie sie aus den jeweiligen politischen und ökonomischen Machtkonstellationen entstanden sind, können dazu verhelfen, heutige Ansätze in einen historischen Kontext einzubetten. So kann etwa die von dem 2016 neugewählten Londoner Bürgermeister Sadiq Khan angestoßene Intensivierung des intraurbanen Informationsaustausches unter anderem über Themen der sozialen Integration in die Tradition munizipalsozialistischer Bestrebungen aus dem vergangenen Jahrhundert eingeordnet und somit deren Möglichkeiten und Grenzen einschätzbar werden. Historische Beispiele können darüber hinaus auch als Warnsignale vor Irrwegen sowie als Quellen der Inspiration für heutige Interventionen in die städtische Wohnungsbaupolitik dienen.

Quellen / Literatur

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Ross, Kristin (2015): Communal Luxury: The Political Imaginary of the Paris Commune. Verso.

Stites, Richard (1988): Revolutionary Dreams: Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution. Oxford University Press.

Fussnoten

Fußnoten

  1. vgl. Madden und Marcuse 2016

  2. vgl. Häußermann und Siebel 1996

  3. vgl. Häußermann und Siebel 1996

  4. vgl. Buchli 1998

  5. vgl. Stites 1991; Förster 2006

  6. Marx 1871: 342

  7. vgl. Castells 1983

  8. vgl. Ross 2016

  9. vgl. Kunz 2004

  10. vgl. Häußermann und Siebel 1996

  11. vgl. Dogliani 2002

  12. vgl. Novy 2011

  13. vgl. Förster 2002

  14. vgl. Blau 2014; Förster 2002

  15. vgl. Blau 2014; Förster 2002

  16. vgl. Novy 2011

  17. vgl. Förster 2002

  18. vgl. Novy 2011

  19. vgl. Mattern 2016; Reinprecht 2016

  20. vgl. Novy 2011; Reinprecht 2016

  21. vgl. Holm 2014

Lizenz

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Sasha Disko ist promovierte Historikerin und freiberuflich tätig.