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Warum wählen? | Wahlen in Deutschland: Grundsätze, Verfahren, Analysen | bpb.de

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Warum wählen?

Karl-Rudolf Korte

/ 7 Minuten zu lesen

Wahlen legitimieren politische Herrschaft, kontrollieren die Regierenden und garantieren die Bindung der Politik an die Meinungen der Regierten. Die Regierung bleibt durch die Wahlen gegenüber der Wählerschaft politisch verantwortlich.

Mitglieder der Jugendorganisation von Amnesty International haben sich kurz vor der Europawahl im Mai 2019 auf dem Pariser Platz in Berlin zu einem Flashmob zusammengefunden. Die Aktion richtet sich an junge Menschen, die aufgefordert werden, Kandidatinnen und Kandidaten zu wählen, die sich verstärkt für Menschenrechte einsetzen. (© picture-alliance/dpa, Paul Zinken)

Aufgrund der regelmäßig stattfindenden freien Wahlen muss die Politik den Aspekt der Herrschaft auf Zeit stets miteinkalkulieren. Die Politikverantwortlichen müssen, wenn sie wiedergewählt werden wollen, die Meinungs- und die Willensbildung der Wählerschaft berücksichtigen. Das gilt unabhängig davon, ob sich durch Kreuze auf dem Wahlzettel die Machtverhältnisse ändern oder nicht. Die Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger auf die Politik sind somit umfassender und längerfristiger, als es der kurze Wahlakt vermuten lässt – vorausgesetzt, es stehen tatsächlich unterschiedliche Personen, Parteien und Programme zur Wahl. Parteien sowie Politikerinnen und Politiker reagieren auf Trends der öffentlichen Meinung und berücksichtigen die Erwartungen sowie die Reaktionen derjenigen, die sie gewählt haben, in ihren Entscheidungen. Karl R. Popper hat diesen Zusammenhang treffend beschrieben: "Jede Regierung, die man wieder loswerden kann, hat einen starken Anreiz, sich so zu verhalten, dass man mit ihr zufrieden ist. Und dieser Anreiz fällt weg, wenn die Regierung weiß, dass man sie nicht so leicht loswerden kann."


Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden nicht nur über die Verteilung der politischen Macht für eine bestimmte Zeit, sondern sie legitimieren diese auch. Regieren kann nur dann legitim sein, wenn es auf einer Form der Zustimmung der Regierten beruht. Wahlen legitimieren politische Herrschaft, kontrollieren die Regierenden und garantieren die Bindung der Politik an die Meinungen der Regierten. Die Regierung bleibt durch die Wahlen gegenüber der Wählerschaft politisch verantwortlich. Der Wahlakt ist eine aktive Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess. Aber auch diejenigen, die nicht wählen, üben Einfluss aus. Die Höhe der Wahlbeteiligung hat Auswirkungen auf das Ergebnis. Je nach Wahltypus können die Wählenden über die Zusammensetzung der Parlamente, über die Regierungsbildung und somit über die politischen Sachprogramme der kommenden Jahre entscheiden. Die Auswirkungen der Stimmabgabe sind vielfältig. Sie bedeutet weit mehr als die Entscheidung darüber, wer die zukünftige Regierung bilden wird.


Das Thema "Wahlen" wird in den folgenden Kapiteln in drei Schritten analysiert:

Ein Wahllokal in Bremen am 24. September 2017: Knapp 61,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger waren an diesem Tag aufgerufen, über die Zusammensetzung des 19. Bundestages mitzuentscheiden. (© picture-alliance/dpa)

Wahlen und Demokratie hängen eng zusammen: Ohne Wahlen zu den Institutionen der politischen Macht gibt es keine Demokratie im westlich-liberalen Grundverständnis. Gemeint ist damit die Anerkennung von Herrschaft, die jedoch durch Gewaltenteilung, die Geltung von Menschenrechten und die Chance der Opposition, die Macht zu übernehmen, kontrolliert wird. Das westlich-liberale Grundverständnis drückt sich in der repräsentativen Demokratie aus. Diese Demokratieform hat sich in einem jahrhundertelangen Prozess als die für den demokratischen Verfassungsstaat angemessene Ordnung herausgebildet. Ihre Grundlage ist die Konkurrenztheorie der Demokratie. Gemeint ist damit – im Gegensatz zur Identitätstheorie – die Anerkennung und Legitimität unterschiedlicher Interessen in einem politischen Gemeinwesen. Die politische Willens- und Meinungsbildung geschieht dabei über den konfliktträchtigen Austausch von heterogenen Interessen.

QuellentextWahlaufruf des Bundespräsidenten

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in der Bild am Sonntag vom 24. September 2017 zur Stimmabgabe bei der Bundestagswahl aufgerufen.

"Wahlrecht ist Bürgerrecht. Für mich ist es in einer Demokratie die vornehmste Bürgerpflicht.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (© picture-alliance/dpa, Bernd von Jutrczenka)

Gehen Sie zur Wahl! Überlassen Sie Ihre Stimme nicht anderen. Denn: Wer nicht wählt, lässt nur andere über die Zukunft unseres Landes entscheiden. Darüber, wie es weitergeht bei Arbeit und Wirtschaft, Bildung und Gesundheit, Pflege und Alterssicherung, in der Flüchtlingspolitik und bei der Integration, bei innerer und äußerer Sicherheit, bei Klima und Umwelt.

Vielleicht war nie so spürbar wie jetzt, dass es in Wahlen auch um die Zukunft der Demokratie und die Zukunft Europas geht.

Es geht bei dieser Wahl um viel. Wenn Sie wählen, geht es um das, was Ihnen wichtig ist. Wenn Sie nicht wählen, entscheiden andere. Heute ist Bundestagswahl. Jede Stimme zählt – Ihre Stimme zählt.

Daher bitte ich Sie: Gehen Sie heute zur Wahl. Stärken Sie unsere Demokratie!"

Voraussetzung dafür ist, dass ein Minimum an gemeinsamen Grundüberzeugungen in der Gesellschaft vorhanden ist. Dazu gehört die Anerkennung des Mehrheitsprinzips als Grundlage der Entscheidungsfindung. Das Mehrheitsprinzip beschreibt einen Rechtsgrundsatz, nach dem sich eine Minderheit – das sind diejenigen, die bei einer Abstimmung unterliegen – dem Beschluss der Mehrheit zu fügen hat. Die freie Selbstbestimmung Einzelner wird dadurch zwar eingeschränkt, aber ohne Mehrheitsprinzip wären Entscheidungen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht zu fällen. Es wird dabei von den Unterlegenen erwartet, dass sie diesen Entschluss respektieren und anerkennen. Das Mehrheitsprinzip liegt auch dem Wahlrecht zugrunde, bei dem die Anerkennung der politischen Mehrheiten verlangt wird. Damit daraus jedoch keine Tyrannei der Mehrheit wird, die sich über unveräußerliche Menschenrechte hinwegsetzt, muss das Mehrheitsprinzip durch den Minderheitenschutz ergänzt werden.

Der Parteivorsitzende des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) Flemming Meyer bei einer Rede im Schleswig-Holsteinischen Landtag im März 2019. Als Partei der dänischen Minderheit ist der SSW bei Landtagswahlen in Schleswig-Holstein von der Fünfprozentklausel befreit. (© picture-alliance/dpa, Carsten Rehder)

Die Gültigkeit der Mehrheitsregel hat die Beachtung der Menschenrechte zur Voraussetzung. Das Prinzip des Minderheitenschutzes verbietet es, dass kleinere Gruppierungen von der politischen Willensbildung ganz ausgeschlossen werden können. Nach dem Verständnis des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sind Mehrheitsentscheidungen nur dann akzeptabel, wenn das Recht der politischen Minderheit gesichert ist. Doch wodurch? Zunächst einmal durch die Garantie der gleichen Ausgangschancen, ihre Meinung im politischen Wettbewerb durchzusetzen. Dazu eignen sich Wahlen, denn sie legitimieren die Herrschaft nur auf begrenzte Zeit. Keine Gruppierung regiert automatisch auf Dauer. Mehrheitsdemokratische Elemente werden zusätzlich durch Gerichte und durch den gewaltenteilenden Föderalismus durchbrochen. Und letztlich dient auch die grundsätzliche Möglichkeit, dass eine neue Mehrheit im Parlament Beschlüsse der alten Mehrheit ändert, dem Minderheitenschutz.

Wahlen können Mehrheitsverhältnisse verändern: Frank Nopper (CDU) ‒ hier am Wahlabend im Rathaus ‒ wurde am 29. November 2020 zum neuen Oberbürgermeister von Stuttgart gewählt und löste Fritz Kuhn (Bündnis 90 / Die Grünen) ab, der nicht zur Wiederwahl angetreten war. (© picture-alliance/dpa, Sebastian Gollnow)

In Wahlen drückt sich nicht nur die Verbindung von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz aus. Denn Demokratie ist außer Herrschaft auf Zeit auch Herrschaft mit Zustimmung des Volkes. Das ist nicht zu verwechseln mit einer Herrschaft des Volkes. Herrschaft mit Zustimmung des Volkes – dahinter verbirgt sich der Gedanke der Repräsentation. Die Wahlbürgerinnen und -bürger nehmen indirekt durch Repräsentanten an der Ausübung staatlicher Herrschaft teil. So regelt es das Demokratiegebot in Artikel 20 des Grundgesetzes (GG). Das Volk ist Träger der Staatsgewalt. Volkssouveränität bedeutet in diesem Kontext eine durch Wahlen legitimierte Herrschafts- bzw. Regierungsform mit verfassungsmäßig geregelter periodischer Zustimmung des Volkes. Volkssouveränität ist nicht Volksherrschaft oder Selbstregierung, sondern Herrschaft mit Zustimmung des Volkes durch gewählte Repräsentanten. Die Abgeordneten sind "Vertreter des ganzen Volkes" (Art. 38 GG). Sie sind während ihrer Amtszeit nicht an Aufträge und Weisungen gebunden, wie es in Artikel 38 des Grundgesetzes weiter festgelegt ist.

An dieser Stelle kann man zu Recht einwenden, dass es auch direktere Beteiligungsrechte für die Wahlberechtigten gibt, die es ihnen ermöglichen, unmittelbar Einfluss zu nehmen und damit den Gedanken der repräsentativen Demokratie mit dem der direkten Demokratie zu konfrontieren. Im Grundgesetz, das dem repräsentativen Demokratieverständnis folgt, ist zwischen Wahlen und Abstimmungen unterschieden worden. Mit Wahlen sind die regelmäßigen Wahlen zu den Volksvertretungen gemeint, während der Begriff der Abstimmung Plebiszite – Volksbegehren, Volksentscheid, Volksabstimmung – umfasst. Nur in Artikel 29 des Grundgesetzes bieten sich Möglichkeiten für Formen direkter Demokratie, jedoch eingeschränkt auf die Veränderungen von Ländergrenzen zwischen den Bundesländern:

  • Volksentscheid: Bestätigung gesetzlicher Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes durch Volksentscheid (Art. 29, Abs. 2 GG);

  • Volksbegehren: Einwohner bestimmter Gebiete können die Neuregelung ihrer Landeszugehörigkeit durch ein Volksbegehren erreichen (Art. 29, Abs. 4 GG);

  • Volksbefragung: Mit ihr soll festgestellt werden, ob die vom Gesetz vorgeschlagene Neugliederung die Zustimmung der Betroffenen findet (Art. 29, Abs. 5 GG).

Eine Form der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene ist der Bürgerentscheid ‒ hier ein Stimmzettel zur Bebauung des geplanten Stadtteils Dietenbach in Freiburg im Breisgau. Geplant ist der Bau von Wohnungen für rund 16.000 Personen. Nach einer erfolgreichen Unterschriftensammlung dagegen, die das Quorum von sieben Prozent der Wahlberechtigten überschritt, konnten die Freiburger Bürgerinnen und Bürger am 24. Februar 2019 darüber abstimmen, ob das Gelände bebaut werden soll. Sie entschieden sich mehrheitlich dafür. (© picture-alliance, Winfried Rothermel)

Hingegen ist in allen Landes- und Kommunalverfassungen größerer Raum für weitere Instrumente direkter Demokratie gegeben. Die direkten Beteiligungsverfahren erfreuen sich seit einigen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland großer Beliebtheit. Mit diesen Instrumentarien plebiszitärer Demokratie und der Auszehrung repräsentativer Formen scheint ein Allheilmittel gefunden zu sein, um das Unbehagen an der Politik, den Parteien und den politischen Institutionen aufzufangen. Die Kritik an der konkreten Gestalt der komplexen und schwerfälligen repräsentativen Demokratie ist gut verständlich und die Bereicherung der parlamentarischen Demokratie durch weitere plebiszitäre Elemente sicherlich auch nützlich. Doch unmittelbare, direkte Demokratie ist häufig auch Betroffenheitsdemokratie: möglichst ohne "lästige" Politiker, Parteien, Parlamente. Dabei wird durch direktere Formen das beschleunigt, was oft so mühselig im politischen Meinungsstreit erscheint: die argumentative Aushandlung der Entscheidung in Verhandlungssystemen. Was somit vermeintlich den Prozess der Entscheidungen verkürzt, beschneidet gleichzeitig wichtige Grundbedingungen unseres Demokratieverständnisses. Direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist eine wichtige und sinnvolle Ergänzung der mittelbaren, repräsentativen Demokratie. Es sollte das repräsentative Demokratieprinzip dabei jedoch nicht ausgehebelt werden.

Wenn Demokratie auf der Freiheit beruht, sich politisch durch regelmäßige Wahlen zu organisieren, dann müssen bestimmte Grundfunktionen erfüllt sein, die nachfolgend noch einmal gebündelt aufgelistet werden.

Grundfunktionen und Merkmale demokratischer Wahlen

  • Repräsentation des Volkes: Die Gewählten, zum Beispiel die Abgeordneten, repräsentieren die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger. Repräsentiert wird das gesamte Volk. Jede soziale Gruppe muss sich an dem politischen Wettbewerb beteiligen können, um die Offenheit der Machtkonkurrenz zu gewährleisten. Repräsentative Demokratien verlangen Mehrheitsentscheidungen.

  • Legitimation und Kontrolle von politischer Herrschaft: Durch Wahlen legitimieren die Wählerinnen und Wähler bestimmte Personen zur Ausübung politischer Funktionen. Diese sind hierdurch dazu berechtigt, im Namen aller und für alle verbindlich zu entscheiden. Durch die regelmäßige Wiederholung der Wahl gewinnt diese die Funktion der Machtkontrolle. Die Opposition muss immer die Chance haben, an die Macht zu kommen.

  • Integration der Meinungen: Die Wahl ist die Stimmabgabe jeder und jedes einzelnen Wahlberechtigten. Das Wahlergebnis spiegelt insgesamt die Willensartikulation der Wählerinnen und Wähler wider. Durch die Wahlen erfolgen eine Integration des gesellschaftlichen Pluralismus und die Bildung eines politisch handlungsfähigen Gemeinwillens. Letzteres ist jedoch auch vom jeweiligen Wahlsystem abhängig, das die Integration der Wählerschaft fördern oder auch hemmen kann. Nicht immer geht aus dem Wahlprozess eine handlungsfähige Regierung hervor. Je strikter sich die politischen und die sozialen Gruppen voneinander abkapseln, desto weniger sind die Funktionsbedingungen der Integration der Meinungen durch Wahlen zu erreichen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Professor Dr. Karl-Rudolf Korte hat einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne und ist Direktor der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Er ist zudem geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft.

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