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Wirtschaftlicher Strukturwandel und Interessenvertretung

Stefan Schmalz

/ 12 Minuten zu lesen

Wie hat sich die Rolle der großen Unternehmens- und Arbeitgeberverbände seit dem 19. Jahrhundert verändert? Und welche Akteure der wirtschaftlichen Interessenvertretung versuchen heute maßgeblich Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen?

Die DAX-Konzerne überlassen die politische Interessenvertretung nicht den Dachverbänden, sondern werden selbst in Brüssel oder Berlin aktiv. (© picture-alliance/dpa)

Es ist mittlerweile zu einem Allgemeinplatz geworden, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein tief greifender Wandel der wirtschaftlichen Interessenvertretung vollzogen hat. Die großen Dachverbände der Wirtschaft (BDI, BDA und DIHK) und ihre Branchenorganisationen haben seit den 1990er Jahren deutlich an Einfluss verloren. Es kam zu einer Diversifizierung von Akteuren und Interessen, die den wirtschaftlichen Strukturwandel (Marktliberalisierung, Privatisierung, Globalisierung und Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft) abbildet. Große DAX-Konzerne, spezialisierte Agenturen und Kanzleien, unternehmensnahe Stiftungen und andere professionelle Lobbyorganisationen agieren seitdem oftmals unabhängig von den Verbänden und versuchen direkt auf Gesetzgebungsverfahren Einfluss zu nehmen. Dies ist ein weitgehender Wandel, existieren die Grundzüge des Verbandswesens doch schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Vom Deutschen Reich zur Bundesrepublik: Geburt der koordinierten Marktwirtschaft

Die Entstehung der Unternehmer- und Arbeitgeberverbände reicht in die erste Hälfte des 19. Jahrhundert zurück (Lösche 2007: 24ff.; Schroeder 2013). Die Grundlage hierfür war die Durchsetzung des Industriekapitalismus im Zuge der Industrialisierung, durch den nicht nur kapitalistische Eigentumsrechte an Stelle des Feudalbesitzes traten, sondern auch die ständische Ordnung aufgelöst wurde. Dieser Prozess lief in Deutschland langsam ab, erst mit der Reichsgründung 1871 bildete sich der deutsche Nationalstaat heraus, fundamentale bürgerliche Rechte wie die Koalitionsfreiheit, also das Recht, Vereine, Gesellschaften und Gewerkschaften zu gründen, waren lange nicht gewährleistet. Die Unternehmen mussten sich in der Kontinuität des Zunftwesens zudem in staatsnahen Kammern organisieren, die sich 1861 zum Deutschen Industrie- und Handelstag zusammenschlossen. Gleichzeitig bildeten sich jedoch branchenweite Unternehmerverbände in Industriezweigen wie Textilien, Bergbau oder Eisenbahnen heraus. Ein Schub für die Entwicklung der nationalen Wirtschaftsverbände brachte die Gründung des Deutschen Reiches: Als branchenübergreifende Dachverbände ragten vor allem der Centralverband deutscher Industrieller (1876), der die Rohstoff- und Schwerindustrie repräsentierte und regional im Ruhrgebiet und Preußen verankert war, und der Bund der Industriellen mit einem Schwerpunkt in der Fertigungsindustrie in Süddeutschland, Thüringen und Sachsen (1891) heraus. Die beiden Zusammenschlüsse standen im Konflikt über die Handelspolitik der aufstrebenden Industriemacht Deutschland. Der Centralverband galt als politisch konservativer Freihandelsgegner, während der Bund als eher liberale Institution bekannt war.

Neben den Unternehmensverbänden entstanden auch Arbeitgeberverbände. Sie waren anfangs vor allem eine Reaktion auf das Entstehen von Gewerkschaften. Es handelte sich also primär um "Antiwillensgruppen"(Cunis 1959: 731), die ihre Existenz zunächst der Gegnerschaft zur kollektiven Interessenvertretung der Arbeiterschaft verdankten. Nachdem erste "Anti-Streikvereine" bereits vor 1860 spontan entstanden waren, kam es in den 1890er Jahren nach dem Ende des Interner Link: Sozialistengesetzes zu einer Fülle von Neugründungen. Um 1900 bestanden bereits 154 Arbeitgeberverbände. Sie gewannen neben dem Kerngeschäft der Tarifauseinandersetzung weitere Aufgaben (Sozialversicherungswesen, etc.) hinzu und dadurch auch an organisatorischer Stabilität. Dies hatte mit dem raschen Wachstum der Gewerkschaften zu tun: Im Jahr 1890 hatten die sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbände bereits 300.000 Mitglieder, bis 1914 stieg diese Zahl auf 2,5 Millionen an (Dörre 2018: 627). Der Streit zwischen den beiden großen Unternehmensverbänden führte 1904 zur Gründung zweier konkurrierender nationaler Arbeitgeberverbände, der Hauptstelle der deutschen Arbeitgeberverbände und den Verein Deutscher Arbeitgeberverbände, die 1913 schließlich fusionierten.

Kurzum: Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Grundlagen für die heutige Verbändelandschaft mit einer Drei-Säulen-Struktur aus Kammern, Unternehmensverbänden und Arbeitgeberverbänden gelegt. "Lobbying [wurde] praktiziert, ohne dass man das damals schon so genannt hätte"(Lösche 2007: 26). Hauptamtliche Mitarbeiter und Funktionäre versuchten Einfluss gegenüber staatlichen Institutionen, Parteien und einzelnen Politiker zu nehmen. Gleichsam bildeten sich politische Lager heraus, in denen Interessenverbände, Gesellschaft und Parteien eng miteinander interagierten. Dieser institutionelle Umbruch geschah vor dem Hintergrund eines nachholenden Industrialisierungsprozesses, bei dem der Nationalstaat den Aufbau großer Industriekonglomerate in Bereichen wie Elektrotechnik und chemische Industrie unterstützte. Hierfür waren bereits im Kaiserreich "praktisch alle Bestandteile des gegenwärtigen organisatorischen Rahmens der Wirtschaft"(Abelshauser 2010: 30) gegeben. Langfristige Beziehungen zwischen Banken und Unternehmen, ein kooperatives Branchensystem mit starken Verbänden und eine diversifizierte Qualitätsproduktion von anspruchsvollen Gütern, die von kleineren und mittleren Unternehmen mit gut ausgebildeten Beschäftigen produziert wurden, blieben über Jahrzehnte hinweg Kernbestandteile des deutschen Modells.

Der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik waren trotz dieser Kontinuitätslinien ein Einschnitt. Durch das Hilfsdienstgesetz von 1916 wurden mit den ständigen Arbeiterausschüssen erstmals tripartistische Strukturen für die Unterstützung der Kriegswirtschaft geschaffen, bei denen Gewerkschaften vom Staat als Partner der Unternehmerseite anerkannt wurden. Die betriebliche Interessenvertretung der Beschäftigten wurde vier Jahre später mit dem Betriebsrätegesetz 1920 dauerhaft verankert. In der Weimarer Republik kam es dann zum Zusammenschluss der verfeindeten Unternehmverbände zum Reichsverband der deutschen Industrie, der sich anfangs starken, konfliktbereiten Gewerkschaften mit über neun Millionen Mitgliedern gegenübersah. Die Zwischenkriegsperiode war von wirtschaftlichen Krisenprozessen (Hyperinflation 1922/23 und Interner Link: Weltwirtschaftskrise 1929) und heftigen politischen Auseinandersetzungen geprägt, aber die organisierte Verfasstheit der "koordinierten Marktwirtschaft" (Hall/Soskice 2001) nahm in der Zeit sogar noch zu. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 führte schließlich zur Auflösung der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, die Unternehmerverbände und Kammern blieben in modifizierter Form als Teil des NS-Staates bestehen. Sie spielten eine zentrale Rolle bei der Organisation der Kriegswirtschaft für den Zweiten Weltkrieg, die staatliche Nachfragepolitik und die Durchsetzung von Fließbandarbeit und Massenproduktion miteinander verband.

Die Bundesrepublik: Deutschland AG und entfalteter Korporatismus

Mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 wurden die Arbeitsgeber- und Wirtschaftsverbände wieder neu aufgebaut. Ihre Drei-Säulen-Struktur aus Unternehmerverbänden, Arbeitgeberverbänden und Kammern war bereits aus dem Deutschen Reich bekannt. Die Wirtschaftsverbände waren Teil eines Gefüges von Organisationen und Institutionen, die den bundesrepublikanischen Nachkriegskapitalismus regulierten. Dieser durchlief einen Strukturwandel: Der Industrieanteil am BIP schnellte in den 1960er Jahren auf den Rekordwert von über der Hälfte des BIP herauf. Neue Industriebranchen wie der Automobilsektor wurden zu Leitsektoren, Bergbau und Textilindustrie hingegen verloren rasant an Bedeutung. Die "soziale Marktwirtschaft" zeichnete sich durch eine ordoliberale Ordnungspolitik aus, bei dem der Staat den Rahmen für eine freiheitliche Wettbewerbs- und Marktordnung gewährleisten soll, war aber gleichzeitig von einer wachsenden Rolle des Staates gekennzeichnet. Der Ausbau des Sozialstaats und der öffentlichen Dienstleistungen trug zu einer Steigerung der Staatsquote, d.h. des Anteils der Staatsausgaben am BIP, von 29,8% auf 47,9% im Zeitraum von 1950 bis 1980 bei (Abelshauser 2010: 278). Wichtige Strukturmerkmale aus der Vorkriegsperiode existierten fort und entwickelten sich weiter: So konsolidierte sich ein Netzwerk aus Unternehmen (Daimler-Benz, BASF, etc.) und Finanzinstitutionen (z.B. Deutsche Bank, Allianz), das oftmals als Deutschland AG bezeichnet wurde. Die Unternehmen waren über gegenseitige Beteiligungen verflochten, die Hausbanken besaßen ebenfalls Unternehmensanteile und vergaben langfristige und günstige Kredite an einzelne Unternehmen. Der Staat konnte als industriepolitischer Akteur in diese Netzwerke über verschiedene Institutionen wie die Landesbanken wie die WestLB in Nordrhein-Westfalen intervenieren. Es herrschte eine gewisse Kooperation der beteiligten Akteure, etwa zum Schutz vor feindlichen Übernahmen aus dem Ausland.

Die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften übernahmen in dieser Konstellation eine neue Rolle. Sie wurden oftmals als "intermediäre Institutionen"(Müller-Jentsch 2008) bezeichnet, die die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit ausbalancierten und zeitweise sogar wesentliche Funktionen in der Sozial- und Arbeitspolitik zugewiesen bekamen. Die Tarifautonomie war in der Nachkriegsperiode durch einen hohen Organisationsgrad der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände unterfüttert. Rund ein Drittel aller Beschäftigten waren Gewerkschaftsmitglieder, für den mächtigsten Arbeitgeberverband Gesamtmetall bewegte der Organisationsgrad sich 1985 bei 55% aller Unternehmen, in denen rund drei Viertel aller Erwerbstätigen der Branche arbeiteten. Der Deckungsrad von Tarifverträgen betrug noch zu Beginn der 1980er Jahren rund vier Fünftel aller Beschäftigten, sodass die "Konfliktpartner" Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände effektiv Lohnstandards setzten, ohne regulierende Eingriffe der Politik. Mit rund 80 Prozent kamen fast alle Beschäftigte in den Genuss einer tarifvertraglichen Regelung von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Zudem arbeitete rund die Hälfte aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebsrat.

Auf makroökonomischer Ebene kam es ebenfalls zur Zusammenarbeit. Hohe Produktivitätszuwächse hatten bis in die 1960er Jahre kontinuierliche Reallohnsteigerungen ermöglicht. Mit der Rezession 1966/67 kam es erstmals zur Lohnstagnation. Die Folge war der Übergang zur keynesianischen Globalsteuerung der sogenannten Konzertierten Aktion (1967-1977), bei der die drei Akteure Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Staat gemeinsam – tripartistisch – zentrale Entscheidungen in Feldern wie Arbeits- und Sozialpolitik trafen. Diese enge Zusammenarbeit der Interessenverbände von Kapital und Arbeit mit dem Staat wurde in der Forschung oftmals als Korporatismus oder Neo-Korporatismus bezeichnet. Im Neo-Korporatismus, so die These, organisiert und formiert der Staat die gesellschaftlichen Interessen und ermöglicht Verbänden und großen Organisationen auf diese Weise privilegierten Zugang zu den staatlichen Bürokratien. Deren Aufgabe war es, "die Interessen zu bündeln, zu filtern und moderiert in den politischen Prozess einzubinden. Die Verbände waren keine Lobbyorganisationen, sondern Akteure, die mit ihrer Tätigkeit für den Staat Ordnungsleistungen erbringen und damit zur Verwirklichung des Gemeinwohls beitrugen."(Leif/Speth 2006: 17).

Die korporatistischen Strukturen standen vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Strukturprobleme, in den 1970er Jahren sozialer Konflikte und wachsender Arbeitslosigkeit jedoch vor einer Zerreißprobe. Der Versuch der sozial-liberalen Regierung Helmut Schmidt (SPD), eine stärker angebotsorientierte Wirtschaftspolitik mit Zugeständnissen wie dem Ausbau der Mitbestimmung (Mitbestimmungsgesetz 1976) durch die Aufnahme von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat zu verbinden, scheiterte. Die Phase des Tripartismus war mit der erfolglosen Klage der Arbeitgeberverbände gegen das Gesetz beendet. Im Folgejahrzehnt blieben die Institutionen, das Regulierungsgefüge und die Wirtschaftsstruktur des deutschen Modells jedoch weitgehend intakt. Aber verschiedene Veränderungen nach der Wahl der konservativ-liberalen Regierung Helmut Kohl (1982) wie (Teil-)Privatisierungen von staatlichen Industrieunternehmen wie dem Energieversorger VEBA (1987) oder VW (1988).sowie die Beschlüsse zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes 1985 (Europäischer Rat in Mailand) und 1986 (Einheitliche Europäische Akte) leiteten einen Umbruch ein, der in den 1990er Jahren zur Entfaltung kam.

Nach der Wiedervereinigung: Wirtschaftliche Umbrüche und Pluralisierung von Interessen

Mit der Wiedervereinigung 1990 kam zunehmend Bewegung in die Verbändelandschaft in Deutschland. In den 1990er Jahren zeichneten sich immer stärkere Konflikte in den Unternehmensverbänden zwischen größere Unternehmen und mittelständischen Zulieferern über die Preispolitik und verschiedene Interessenlagen bei der Lohnpolitik ab (Streeck 2009: 48ff.). Spätestens der Austritt von Daimler-Benz im Jahr 1996 aus dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall zeigte die Schwächung des Verbandes. Zwischen 1991 und 1996 hatte Gesamtmetall fast ein Viertel aller Mitglieder verloren (Behrens 2013: 474). Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie spaltete sich 1993 sogar in zwei Organisationen. Beinahe zeitgleich kam es zu Konflikten zwischen dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und dem Bundesverband der Deutschen Arbeitgeber (BDA), als der BDI den BDA dazu drängte, eine offensivere Agenda in den Tarifverhandlungen zu verfolgen. Im ersten Jahr der rot-grünen Regierung Gerhard Schröder (1998-2005) bremsten die beiden Verbände die Reform des Betriebsratssystems aus. Der Versuch der Regierung, mit dem Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit (1998-2003) korporatistische Strukturen wiederzubeleben, scheiterte. In den Folgejahren setzten sich die Wirtschaftsverbände vermehrt für neoliberal inspirierte Strukturreformen wie eine Teilprivatisierung der Altersvorsorge oder eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ein. Eine wichtige Rolle spielte hier die Gründung des Think Tanks Initiative Soziale Marktwirtschaft im Jahr 2000 durch Gesamtmetall, der seitdem mit einem Etat von jährlich rund 7 Millionen für marktliberale Reformen (wie etwa die Abschaffung der Mitbestimmung in Aufsichtsräten) lobbyiert.

Nicht nur die Unternehmensverbände, sondern auch die Wirtschaftsstruktur durchlief einen raschen Wandel. Es folgte eine Fülle von Marktliberalisierungen und Privatisierungen (Deckwirth 2008). Der Dammbruch ereignete sich mit der Wiedervereinigung. Im Osten der Republik privatisierte die Treuhandanstalt rund 8.000 ehemalige DDR-Betriebe, während in den 1990er Jahren im Westen auch zunehmend die öffentliche Daseinsfürsorge in das Visier der Privatisierungspolitik rückte. Triebkräfte waren hierfür neben der Schuldensituation der öffentlichen Haushalte auch Akteure der Finanzwirtschaft und andere Interessenverbände, die den Prozess aktiv vorantrieben, um neue rentable Anlagefelder zu öffnen. In der Folge wurden der Post- und Telekommunikationssektor, der Bahnverkehr, die Energieversorgung und kommunale öffentliche Dienstleister wie die Wasserversorgung privatisiert oder nach marktwirtschaftlichen Kriterien neu ausgerichtet. Hinzu kamen Deregulierungen – unter anderem vorangetrieben von den Institutionen der EU, zum Beispiel durch Vorgaben wie die Trennung von Netzbetrieb und Netznutzung – die den Zugang für andere Wettbewerber erleichterten. Die Privatisierungserlöse betrugen in Deutschland über 100 Mrd. Euro. Das Ergebnis war, dass Konzerne wie die Deutsche Post, Telekom, EON und RWE entstanden, die heute börsennotiert sind und weltweit expandieren.

Ein weiterer Strukturbruch bestand darin, dass die Netzwerke zwischen Unternehmen und Finanzinstitutionen in der Deutschland AG durch transnationale Verknüpfungen ersetzt wurden (Höpner/Krempel 2004). Denn nicht nur richteten sich die großen deutschen Konzerne zunehmend an den globalen Märkten aus. Vielmehr verlagerte die deutsche Industrie beachtliche Teile ihrer Wertschöpfung ins Ausland, insbesondere nach Osteuropa und auch -ostasien. Diese Formen des Outsourcing und Offshoring betrafen allein in der kurzen Phase von Mitte der 1990er bis Anfang der 2000er ein Viertel aller deutschen Unternehmen. Hinzu kommt ein Prozess der Finanzialisierung. In der ehemaligen Deutschland AG spielen heute verschiedene internationale Finanzmarktakteure (z.B. Blackrock) eine wichtige Rolle, die strategische Anteile an den DAX-Unternehmen halten. Dieser Globalisierungsprozess der deutschen Industrie und Dienstleistungsunternehmen ging beinahe zeitgleich mit einer Reorientierung der großen deutschen Konzerne auf kurzfristige Gewinnmargen auf den Kapitalmärkten (“shareholder value”-Orientierung) einher (Aglietta/Rebérioux 2004). Hieraus resultieren ein hoher Rationalisierungsdruck und eine vorwiegend an Markt- und Profitkriterien ausgerichtete Unternehmenssteuerung.

Eine Folge der wirtschaftlichen Umbrüche war, dass die Gewerkschaften zunehmend in die Defensive gerieten (Schmalz/Dörre 2014). Die Umbrüche in der Beschäftigtenstruktur wurden nicht kompensiert. So hatte die IG Metall noch vor rund einem Jahrzehnt eine Mitgliederbasis, die eher der Berufsstruktur der 1950er und 1960er Jahre entsprach. Die rasche Transnationalisierung der Unternehmen und die Shareholder Value-Orientierung setzten die Beschäftigten unter Druck. Betriebsräte mussten in diesem Umfeld oftmals primär über Kürzungen und Stellenabbau verhandeln. Die Wiedervereinigung führte dazu, dass große weiße Flecken bei der Tarifdeckung entstanden, da im Osten Strukturwandel und Massenarbeitslosigkeit mit einer Defensive der Gewerkschaften einhergingen. Das Ergebnis war ein deutlicher Mitgliederschwund, der gewerkschaftliche Organisationsgrad fiel bis 2017 – trotz Mitgliederzugewinne von Einzelgewerkschaften – von mehr als 30 Prozent auf nur noch rund 17 Prozent. Die Neuausrichtung der Arbeitgeberverbände wurde somit von der Schwäche der Gewerkschaften verstärkt. Immer mehr Unternehmen scherten aus der Tarifgemeinschaft aus. Dies führte dazu, dass die Tarifbindung zwischen 1996 und 2016 in Westdeutschland von 70% auf 56% und in Ostdeutschland von 56% auf nur 31% aller Beschäftigten sank (Ellguth/Kohaut 2018: 302). Um die Verbandsflucht der Unternehmen unter Kontrolle zu bringen, führten verschiedene Unternehmerverbände sogar eine Mitgliedschaft für Unternehmen ohne Tarifbindung ein.

Unternehmerverbände und Arbeitgeberverbände heute

Die Unternehmerverbände sind stark zerklüftet, am einflussreichsten ist der Spitzenverband und Dachverband BDI (Bundesverband der Industrie) (Schroeder 2013). Es existieren aber auch 41 nationale Branchenspitzenverbände wie der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) und der Verband der Chemischen Industrie (VCI), denen mehrere Hundert Einzelverbände angehören. Der BDI und die Branchenverbände konzentrieren sich vor allem auf die Einflussnahme in der Wirtschaftspolitik, darunter fallen alle Bereiche wie Steuer-, Handels- und Industriepolitik. Der BDA (Bundesverband der Arbeitgeber) und seine 48 Bundesfachspitzenverbände und 14 überfachliche Landesvereinigungen mit insgesamt über 1000 Einzelverbänden haben ihre Aufgabenfelder traditionell in der Sozial- und Arbeitspolitik, die Tarifpolitik obliegt den regionalen Arbeitgeberverbänden. Neben den Industrieverbänden wie Gesamtmetall sind auch die Arbeitgeber aus anderen Sektoren wie Dienstleistungen und Landwirtschaft in Arbeitgeberverbänden organisiert. Aktuell existieren 83 Industrie und Handelskammern, die im Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) organisiert sind und als öffentlich-rechtliche Körperschaften gelten. In den Kammern herrscht Zwangsmitgliedschaft für alle Unternehmen außer Landwirtschaft, Freiberufen und Handwerk, da hier öffentliche Aufgaben (z.B. Prüfungswesen) erledigt werden.

Die wirtschaftlichen Strukturveränderungen seit den 1990er Jahren hatten letztlich wesentlichen Einfluss darauf, wie wirtschaftliche Interessenvertretung heute in der Bundesrepublik organisiert ist. Dabei handelte es sich um einen wechselseitigen Prozess. Viele Konzerne scherten aus den Unternehmensverbänden aus und platzierten ihre Interessen für Deregulierungen oder Privatisierungen fortan direkt bei den politischen Entscheidungsträgern. Daraus entstanden gleichzeitig wieder Strukturen, die dem Lobbyismus Auftrieb verliehen: Neue Akteure wie private Energiekonzerne oder Logistikunternehmen expandieren weltweit und beteiligen sich an der nationalen und internationalen Interessenpolitik. Es handelte sich also um einen selbstverstärkenden Effekt mit dem Ergebnis, dass bereits kurz nach der Jahrtausendwende Großtrends wie Privatisierung, Globalisierung und Markliberalisierung das deutsche Modell weitgehend zersetzt hatten. Es folgte eine Pluralisierung von Interessen: Korporatistische Strukturen sind heute – mit der kurzen Ausnahme der Konjunkturgipfel während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 – nicht mehr von großer politischer Bedeutung. Neben den Verbänden dominieren Einzelakteure wie Großkonzerne (BASF, Daimler, etc.) professionelle Dienstleister (z.B. McKinsey) und Stiftungen (u.a. Bertelsmann-Stiftung) das Feld. Durch den schwindenden Organisationsgrad wurde außerdem die gewerkschaftliche Gegenmacht in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik geschwächt, dafür konnten in anderen Politikfeldern wie der Umweltpolitik oder dem Verbraucherschutz jüngere Organisationen und NGOs an Einfluss gewinnen. Die Lobbyisten sind heute vielfältig, in einer Liste mit Lobbyorganisationen mit Zugang zum Deutschen Bundestag aus dem Jahr 2015 finden sich 468 Verbände, Unternehmen und Organisationen, die Kontakt zu den Bundestagsfraktionen suchten, von denen die große Mehrheit wirtschaftliche Interessenvertreter sind. Mit der Interner Link: Europäisierung der Gesetzgebung ist zudem der Standort Brüssel zur europäischen Lobbyhauptstadt herangewachsen, wo sich analog zur Bundesrepublik Deutschland eine Vielzahl von unterschiedlichen Akteuren in die Gesetzgebung einmischen, die dem Modell der koordinierten Interessenvertretung (Neo-Korporatismus) nicht mehr entsprechen.

Zusammengefasst: Nachdem die korporatistische Interessenorganisation in den 1960er und 1970er Jahren ihren Höhepunkt gefunden hatte, kam es seit den 1980er Jahren und verstärkt seit der Wiedervereinigung zu einer schrittweisen Demontage des deutschen Modells und einer Pluralisierung der Interessenvertretung. Die Herausbildung des Lobbyismus ist folglich untrennbar mit der Veränderung von Eigentumsverhältnissen, einer Durchsetzung von Marktmechanismen und dem Aufstieg großer Unternehmensakteure verbunden. Die Lobbyorganisationen haben einen so starken Einfluss aufgebaut, dass sie oftmals als kommerzielle Dienstleister und direkte Berater für den Staat auftreten, ja, teilweise sogar Staatsfunktionen übernehmen. Dieses Phänomen wird etwa beim Gesetzoutsourcing an Wirtschaftskanzleien wie z.B. an Freshfields Bruckhaus Deringer beim Finanzmarktstabilisierungsgesetz deutlich. Die Entwicklung legt zudem nahe, dass Initiativen zur stärkeren Transparenz des Lobbyismus (verpflichtendes Lobbyregister, etc.) zu dessen Regulierung nicht ausreichen werden, sondern von wirtschaftspolitischen Strukturreformen in Deutschland und der EU begleitet werden müssten. Darunter fallen unter anderem Maßnahmen zur Kontrolle des Finanzsektors, zur Stärkung öffentlicher Banken und Dienstleistungsunternehmen sowie eine Re-Regulierung von Märkten und eine koordinierte Industriepolitik auf der EU-Ebene.

Quellen / Literatur

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Müller-Jentsch, Walther (2008). Gewerkschaften als intermediäre Organisationen, in: ders.: Arbeit und Bürgerstatus. Studien zur sozialen und industriellen Demokratie Wiesbaden: VS Verlag, 51-78.

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Streeck, Wolfgang (2009): Re-Forming Capitalism: Institutional Change in the German Political Economy. Oxford and New York: Oxford University Press

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bundesverband der Deutschen Industrie, Bundesverband der Deutschen Arbeitgeber, Deutscher Industrie- und Handelskammertag

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PD Dr. Stefan Schmalz ist Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Bereiche politische Ökonomie, Arbeitsbeziehungen und Entwicklungsforschung.