Staatliche Defizite vermeiden, die Staatsverschuldung senken: In politischen und medialen Debatten werden diese wirtschaftspolitischen Ziele oft in den Mittelpunkt gestellt. Dabei ist es wichtig, die Staatsfinanzen stets im Kontext der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu betrachten. Hierfür bietet einmal mehr die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung die Grundlage.
Finanzierungssaldo der privaten Haushalte + Finanzierungssaldo der privaten Unternehmen + Finanzierungssaldo des Staates = Leistungsbilanzsaldo.
Wenn der Staat ein Defizit macht, muss entweder der inländische Privatsektor (Haushalte und Unternehmen) einen Überschuss in mindestens gleicher Höhe aufweisen oder das betrachtete Land hat ein Leistungsbilanzdefizit. Wenn hingegen ein Defizit des Staates nicht erwünscht ist, darf entweder der inländische Privatsektor keinen Überschuss haben oder das betrachtete Land weist einen Leistungsbilanzüberschuss auf.
Staatliche Defizite in verschiedenen Denkschulen
Aus theoretischer Sicht ergibt sich in neoklassisch orientierten Ansätzen eine andere Sicht auf staatliche Defizite als in keynesianisch orientierten Ansätzen. So spielt in neoklassisch orientierten Ansätzen der Mechanismus des „Crowding out“ (Verdrängung privater Ausgaben durch staatliche) eine wichtige Rolle. Wenn der Staat sein Haushaltsdefizit erhöht, indem er mehr konsumiert (das heißt weniger spart) oder mehr investiert, muss dies dazu führen, dass der private Sektor durch geringeren Konsum die Ersparnis erhöht oder die Investitionen senkt. Der Privatsektor kann dann weniger Ausgaben tätigen als dies ohne staatliche Defizite möglich wäre. Vermieden werden kann dieser Effekt nur durch Leistungsbilanzdefizite: In diesem Fall kann der Staat seine Ausgaben erhöhen, ohne dass sich der inländische Privatsektor einschränken muss, weil das Ausland Kredite oder andere Finanzierungsmöglichkeiten bereitstellt. Besonders problematisch wird es dabei aus neoklassischer Perspektive, wenn kreditfinanzierte staatliche Ausgaben nicht für Investitionen verwendet werden (etwa für den Ausbau der Infrastruktur), sondern in den Konsum fließen (etwa für Beamtengehälter in einer übergroßen Bürokratie).
Aus keynesianischer Sicht ist es hingegen wahrscheinlich, dass der private Sektor über längere Zeiträume weniger ausgeben möchte, als er einnimmt, er also tendenziell einen Finanzierungsüberschuss anstrebt. In dieser Situation sollte der Staat nach keynesianischer Empfehlung ein Haushaltsdefizit hinnehmen und die Ausgaben erhöhen, um eine anhaltende Nachfrageschwäche und hohe Arbeitslosigkeit zu verhindern. Dabei kann sich ein "Crowding in" von privaten Ausgaben durch staatliche Ausgaben ergeben, weil private Haushalte und Unternehmen bei steigenden Einkommen ebenfalls ihre Ausgaben erhöhen. In diesem Fall spricht man in keynesianischer Terminologie von einem Multiplikator größer 1. Zudem können durch staatliche Haushaltsdefizite aus keynesianischer Sicht hohe Leistungsbilanzüberschüsse vermieden werden, welche als Gefahr für die gesamtwirtschaftliche Stabilität angesehen werden. Finanzierungsüberschüsse sollte der Staat nach dieser Logik hingegen vor allem dann anstreben, wenn der Privatsektor bei überhitzter privater Nachfrage deutlich mehr ausgibt als er einnimmt und entsprechend hohe Leistungsbilanzdefizite drohen.
In der jüngeren wirtschaftspolitischen Debatte ist versucht worden, die neoklassische und die keynesianische Sicht auf staatliche Defizite miteinander zu verbinden (Neuer Konsens der Makroökonomik). So wird etwa im Rahmen der seit 2009 im deutschen Grundgesetz verankerten sogenannten Schuldenbremse zwischen dem strukturellen und dem konjunkturellen Defizit unterschieden. Das strukturelle Defizit soll demnach dauerhaft nahe Null sein, während das tatsächliche Defizit in konjunkturellen Schwächephasen vorübergehend größer sein darf. Für die Bewertung eines staatlichen Defizits ist demnach die Frage entscheidend, ob es strukturell bedingt ist, das Defizit also trotz guter konjunktureller Situation vorliegt, oder ob es konjunkturell bedingt ist, es also mit einer konjunkturellen Schwächephase im Privatsektor gerechtfertigt werden kann. Über die Frage, ob das Defizit eines bestimmten Staates zu einem bestimmten Zeitpunkt eher strukturell oder eher konjunkturell bedingt ist, streiten eher neoklassisch und eher keynesianisch orientierte Ökonomen und Ökonominnen weiterhin vehement.
Staatliche Defizite im Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) und im Europäischen Fiskalpakt
Im Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) wurde, basierend auf den Maastricht-Kriterien, festgelegt, dass die jährliche Neuverschuldung (das Haushaltsdefizit) der Mitgliedsstaaten der EU nicht mehr als drei Prozent des BIP betragen soll. Wenn Staaten gegen diese Regelung verstoßen, können sie mit Geldstrafen sanktioniert werden.
Im Rahmen des Europäischen Fiskalpakts sollen sogenannte Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild in den einzelnen Mitgliedsländern umgesetzt werden, die das sogenannte strukturelle Defizit der Staaten begrenzen sollen.
Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-SA 4.0 und des/der Autors/-in teilen. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Unter dem Motto "Europe Calling" wurde im Februar 2017 das 25-jährige Jubiläum der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags gefeiert. Der Vertrag schuf die Grundlagen für die Einführung des Euro.
Till van Treeck ist Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Er studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Lille, Münster und Leeds. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Einkommensverteilung aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, Wirtschaftspolitik und (sozio-)ökonomische Bildung.
Wir setzen auf dieser Website Cookies ein. Diese dienen dazu, Ihnen Servicefunktionen anbieten
zu können sowie zu Statistik-und Analysezwecken (Web-Tracking).
Wie Sie dem Web-Tracking widersprechen können sowie weitere Informationen dazu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.