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Der Erste Weltkrieg als Inhalt im Unterricht | Presse | bpb.de

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Der Erste Weltkrieg als Inhalt im Unterricht Thomas Krüger beim interdisziplinären und internationalen Symposium "Der Erste Weltkrieg. Zwischen nationalgeschichtlichem Paradigma, populärer Erinnerungskultur und europäischer Integration" des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge

/ 13 Minuten zu lesen

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

im Juli 2009, vor fast fünf Jahren, starb Harry Patch, der letzte britische Veteran des Ersten Weltkriegs. Er wurde 111 Jahre alt. Es hatte bis zu seinem 100. Geburtstag gedauert, dass er über den Horror des Krieges sprechen konnte. Schwer traumatisiert, hatte er im Juli 1917 die Dritte Flandernschlacht um das belgische Dorf Passchendaele bei Ypern überlebt. Allein bei den Schlachten um Ypern fielen über 320.000 alliierte und rund 260.000 deutsche Soldaten. „Nicht ein einziges Leben ist es wert, dem Krieg geopfert zu werden“, meinte „the last fighting Tommy“, wie er in seinem Heimatland hieß. Erst gegen Ende seines Lebens mutete er es sich zu, erneut die Schlachtfelder um Ypern sowie britische und deutsche Soldatenfriedhöfe zu besuchen, wo er Kränze niederlegte. Patch bezeichnete den Krieg als „organisierten Mord“.

Wie hatte das Völkerschlachten begonnen? Das Attentat am 28. Juni 1914 auf Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo löste eine fatale Kettenreaktion aus. Der Erste Weltkrieg forderte weltweit Millionen Tote und Verwundete und gilt als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Millionen von Menschen verloren ihr Leben, Grenzen wurden neu gezeichnet, die den Keim neuer Kriege in sich trugen. Imperien wie die Habsburger K.u.K Monarchie, das Osmanische Reich und das russische Zarenreich zerbrachen und neue Nationalstaaten entstanden.

Die Nachwirkungen des Großen Krieges spüren wir bis in die Gegenwart. Auch heutige Konflikte lassen sich bis auf den Ersten Weltkrieg zurückführen, denken Sie etwa an die Grenzziehungen auf dem Balkan und im Nahen und Mittleren Osten.

Der Erste Weltkrieg war ein globaler Krieg, die Erinnerung ist jedoch bis heute sehr weitgehend national geprägt. In Großbritannien und allen Ländern des früheren Empires beispielsweise steht an jedem 11. November um 11 Uhr das öffentliche Leben still. Während einer Schweigeminute wird an die Gefallenen gedacht – heute übrigens an die Gefallenen aller kriegsteilnehmenden Nationen. Fast jeder Erwachsene trägt dort in der Remembrance Week die Poppy, die Mohnblume aus Papier am Revers, die an das Blut der getöteten Soldaten nicht nur in „Flanders Fields“ erinnern soll.

Wie in Großbritannien gilt der Erste Weltkrieg in vielen Ländern bis heute als „Der Große Krieg“ und zeigt im kollektiven Gedächtnis, in Ausprägungen des nationalen Selbstverständnisses sowie in Form von Gedenktagen und Mahnmalen starke Präsenz. Doch dies ist nicht überall in Europa und der Welt der Fall: Während der Zweite Weltkrieg und der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur aus nachvollziehbaren Gründen unvergleichlich größeren Raum einnehmen, hat der Erste Weltkrieg in den Nachbarländern, aber auch in den USA, in Australien und Neuseeland eine wesentlich größere Bedeutung. Diese Diskrepanz in der Erinnerung und Deutung eines weltumspannenden historischen Ereignisses wird in diesen Tagen deutlich, wenn sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal jährt.

Bilder von Schlachtfeldern und Schützengräben haben sich ins kollektive Gedächtnis der Nationen eingeprägt. Während Briten und Franzosen von „Great War“ und „la Grande Guerre“ sprechen, hat der Erste Weltkrieg in der Erinnerungskultur Deutschlands kaum eine Rolle gespielt. Der Erste Weltkrieg stand bislang im Schatten des Zweiten und des Nationalsozialismus. Aber dies scheint sich gerade zu verändern. Der Erste Weltkrieg hat in Deutschland wohl noch nie so viel Aufmerksamkeit erhalten wie in den vergangenen Wochen. Literatur zum Ersten Weltkrieg findet sich in den Bestsellerlisten, und das umfängliche Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung findet eine derart große Nachfrage, dass wir selbst ein bisschen überrascht sind.

Ist dieser 100 Jahrestag ein Medienhype? Oder geht es um mehr als Quote und Auflagen? Unsere Veranstaltung „Europe 14/14“ des Externer Link: HistoryCampus anlässlich „100 Jahre Beginn des Ersten Weltkriegs“ belegt das große und nachhaltige Interesse vieler junger Menschen an den Ursachen, Verlauf, Nachwirkungen sowie der Rezeption und Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Europa. Das ist eine große Gelegenheit für die zeithistorische politische Bildung, die wir sehr gerne nutzen – nicht als „Retro-Veranstaltung“, sondern als Möglichkeit, nach vorne, ins Hier und Jetzt zu schauen.

Dabei geht es in diesen Tagen auch um aktuelle politische Fragen, um das Leben in Europa hier und heute. Die Finanzkrise und der sich täglich verschärfende Konflikt in der Ukraine fordern uns heraus, und es stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit Interessenkonflikten in der Europäischen Union um? Trägt die Gründungserzählung der Europäischen Union noch, Frieden und Kooperation nach dem „Zeitalter der Weltkriege“ von 1914 bis 1945 zu schaffen? Und wie gehen wir heute mit politischen Krisen um? Wie lassen sich Kriege vermeiden? Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat vor Kurzem die Ukraine-Krise als „schwerste in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges“ bezeichnet. Und weiter: „Wenn wir nicht achtgeben, droht die Rückabwicklung des zivilisatorischen Fortschritts, den wir nach der Auflösung des Ost-West-Konfliktes erleben durften. Dass sieben Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg Grenzen korrigiert werden, ist, glaube ich, in seinen politischen Konsequenzen noch gar nicht zu übersehen.“

Seit 70 Jahren herrscht weitgehend Frieden in Europa. Haben wir nicht alle geglaubt, dass Grenzen immer durchlässiger, ja unwichtiger werden? Für die junge Generation lag ein Krieg in Europa als Teil der globalisierten Welt lange fern jeder Vorstellung. Doch auch 1914 war die Welt bereits „globalisiert“. Der internationale Handel blühte, Baumwolle kam aus Indien, Kaffee aus Zentralamerika, das Kaiserreich war ein multiethnisches Gebilde, die Adelshäuser feierten grenzübergreifende Familienfeiern, eine selbstbewusste Arbeiterschaft beschwor internationale Solidarität. Wie kam es trotz der transnationalen Beziehungen zu einem Krieg, der vier lange Jahre dauerte und so viele Opfer forderte? Ahnten die gekrönten Häupter und die Regierungschefs den Ausbruch eines Krieges? „Schlitterten“ die Länder in den Krieg? „Schlafwandelten“ sie gar?

Am Abend des 3. August 1914 blickte der britische Außenminister Edward Grey aus seinem Büro auf den Londoner St. James Park, in dem gerade die Laternen angezündet wurden, und sagte: „In ganz Europa gehen die Lichter aus, wir werden es nicht mehr erleben, dass sie angezündet werden". Die meisten der politisch Verantwortlichen in den Hauptstädten ahnten den Krieg, er war nicht geplant, aber er war vielen willkommen und galt als legitimes Mittel der Politik.

Heute in Europa ist dies nicht mehr der Fall, aber die aktuellen Ereignisse in Europa, die angespannte Situation in der Ukraine, die vielfältigen Erscheinungen von Re-Nationalisierung machen deutlich, wie schnell ein Konflikt eskalieren kann, wie fragil Frieden, Demokratie sind. Sie sind nicht selbstverständlich. Dies wird in diesen Tagen 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nochmals sehr deutlich. Lange, sehr lange haben wir alle geglaubt, dass es in einem prosperierenden Europa gänzlich unwichtig sei, ob Spanier in Italien, ob Ungarn in Rumänien, ob Russen in der Ukraine leben. Das war ganz offensichtlich ein böser Trugschluss.

Der Slogan unserer Veranstaltung „Europe 14/14“ lautet „Look back, think forward“. Zurückschauen, vorwärts denken. Das klingt gut. Aber viele stellen sich wohl die Frage: Warum lassen wir als Veranstalter von Europe 14|14 überhaupt den Blick in die Vergangenheit schweifen? Warum laden wir 400 junge Menschen ein, sich vier Tage lang mit einem folgenreichen historischen Ereignis zu beschäftigen, dessen Beginn zufällig 100 Jahre zurückliegt? Warum veranstalten wir nicht viel eher anlässlich der nahenden Europawahl hier und heute ein großes Festival zur Zukunft Europas?

Ich gebe ehrlich zu, als 19-jähriger hätte ich mich das wohl auch gefragt. Und es wäre mir vielleicht zunächst schwergefallen, den Bezug herzustellen zwischen der Zeit von vor 100 Jahren und meiner Lebenswelt. Doch die beeindruckenden Zahl der Anmeldungen, die uns sehr rasch nach Freischaltung des Anmeldetools im Internet beim Aufruf zur Teilnahme am HistoryCampus erreicht hat, hat uns eines gezeigt: Wir wollen, wir müssen zurück schauen. Wir brauchen die Vergangenheit. Nur wer sie ergründet und begreift, hinterfragt und erinnert, bekommt damit das Werkzeug, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft bewusst zu gestalten.

Für die politische Bildung im schulischen Unterricht wie im außerschulischen Bereich geht es immer darum, Geschichte als etwas Konstruiertes zu verstehen. Geschichtsbilder erzählen mehr über die Gegenwart als über die Vergangenheit. Uns geht es darum, Geschichte zu de-konstruieren, um das Eingeschriebene, die Spur der Vergangenheit in der Gegenwart zu entdecken. Wie weit geht der Interpretationsspielraum beim Umgang mit der Vergangenheit? Wo fängt die Geschichtsklitterung oder die Lüge mit der Vergangenheit an? Bis wohin ist es legitim, Geschichte zu „gebrauchen“, wie weit darf Geschichtspolitik, zumal staatliche, gehen? Was sind Bewertungsmaßstäbe, nach denen wir die Qualität und den Wahrheitsgehalt von historischen Darstellungen messen?

Wir alle kennen die Berichte und Bilder vom Jubel beim Verkünden der Nachricht vom Kriegsbeginn oder von den lächelnd ins Feld ziehenden Soldaten. Doch gab es 1914 wirklich eine derart verbreitete Kriegsbegeisterung? Oder handelt es sich um ein Konstrukt der nationalen, rechtfertigenden Geschichtsschreibung? Schaut man in eher ländlich geprägte Regionen, so war von Kriegsbegeisterung nicht viel zu spüren. Die Erntezeit stand bevor, und da wurde jede Hand gebraucht. Für die Metropolen dagegen ist es sicher nicht verfehlt, von einer „Erweckung“ durch das „Augusterlebnis“ zu sprechen, als insbesondere städtisch geprägte, junge Männer von der Oberschulbank oder von den Universitäten geradezu an die Front drängten. Bevor die Blätter braun werden, seid ihr wieder daheim, versprachen Kaiser und Heeresleitung den Freiwilligen. Uns allen stehen die Kreideslogans auf den Eisenbahnwaggons vor Augen, die „Menschenmaterial“ zu den Fronten brachten.

Und doch handelt es sich bei der Beschwörung des „Augusterlebnisses“ auch um eine kulturelle und historiografische Inszenierung. Es gab auch sehr verbreitete Angst. Und bisher kaum beachtet und erforscht sind die Massenkundgebungen und -versammlungen gegen den Krieg, die vor allem die Sozialdemokratie noch Tage vor dem eigentlichen „Ausbruch“ des Krieges auf die Straße brachte.

Zudem müssen wir konstatieren, dass viele bewegte und unbewegte Bilder des Ersten Weltkriegs lügen. Quellenkritik, besonders im Schulunterricht, ist wichtiger denn je. Der Medienwissenschaftler Rainer Rother, lange Jahre Leiter der Kinemathek des Deutschen Historischen Museums, mit dem wir gerade ein Lesebuch zum Ersten Weltkrieg komponiert haben, wies mich darauf hin, dass die meisten Bild- und Filmdokumente des Kriegs, die zurzeit auf uns einstürzen, gestellt oder nachgestellt sind – das Grauen des Schützengrabens also quasi aus zweiter Hand. Es war mit der damaligen technischen Ausstattung viel zu gefährlich, tatsächlich in die Schützengräben an der Front zu gehen. Viele „knopp-authentische“ Filmschnipsel entstammen tatsächlich Spielfilmen oder Dokumentationen, die in den 1920er und 1930er Jahren entstanden.

Politische Bildung leitet dazu an, derartige „Originaldokumente“ auf ihre Authentizität hin zu überprüfen. Das geht nur mit dem Blick zurück. Doch wir dürfen bei diesem Blick zurück nicht stehen bleiben: Trotz des Anlasses „100 Jahre Erster Weltkrieg“ ist „Europe 14|14“ eine zukunftsgewandte Veranstaltung – zurückschauen, um vorwärts zu denken. Es geht nicht allein um die historische Aufarbeitung der „Urkatastrophe“ und ihrer weitreichenden Folgen. Es geht es in der historisch-politischen Bildung darum, die – oft grausame – Geschichte zu thematisieren, Zusammenhänge zu begreifen und zu verstehen, dass Geschichte nicht „einfach passiert“, oder wie ein Schicksal über uns hereinbricht.

Hinter der Geschichte stehen immer Akteure und Entscheidungen. Durch die Einbeziehung verschiedener Perspektiven wird eine differenzierte Auseinandersetzung mit Geschichte möglich und eröffnet Fragen nach alternativen Handlungsoptionen. Wie haben die Menschen reagiert? Wie haben Verantwortliche gehandelt, wurden Handlungsoptionen genutzt? Die Perspektiverweiterung verdeutlicht, dass die Rollen nicht eindeutig festgelegt sind. Moralisch eindeutige Urteile werden so deutlich schwieriger, wenn nicht unmöglich. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte“, meinte Marx im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“, „aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Diesen Alp aufzuspüren und für das Heute in produktives „Nie wieder“ zu verhandeln, ist ein primäres Ziel politischer Bildung, wie wir sie in der Bundeszentrale verstehen.

Besonders bedeutend finde ich diesen Ansatz in der Arbeit mit jungen Menschen. Hier bin ich wie Theodor W. Adorno zutiefst davon überzeugt, dass es unsere Aufgabe ist, Jugendliche und junge Erwachsene zur Mündigkeit erziehen, ihnen die „Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ zu geben.

Beim HistoryCampus etwa eröffnet sich dazu eine einmalige Möglichkeit: 400 junge Menschen aus 40 verschiedenen Ländern Europas kommen in Berlin zusammen, um sich auf unterschiedlichste Arten mit dem Ersten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Wir müssen nicht einmal das breite thematische und methodische Spektrum ansprechen, das hier in Workshops und vielen anderen Aktivitäten angeboten wird, um schon jetzt zu sehen: das hier ist ein Ort, an dem sich Horizonte öffnen, Perspektiven ausgetauscht werden und europäische Verständigung gelebt wird.

Jugendlichen und jungen Erwachsenen soll die Gelegenheit gegeben werden, ihren eigenen Bezug und ihre eigenen Fragen zur Geschichte und Europa heute zu entwickeln. Ziel ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Europa zu erkennen und darüber einen Dialog zu führen. Bei allen Veranstaltungen soll es nicht bei einem rückwärtsgewandten Blick bleiben, vielmehr soll der Erste Weltkrieg als „Folie“ dienen, um sich über Trennendes und Gemeinsames in Europas Geschichte und Gegenwart auszutauschen. Daneben formulieren die jungen Europäer Antworten auf die Frage, was dieser Teil der Geschichte für sie persönlich und für ihre Generation in Europa bedeutet. So werden nationale Perspektiven aufgebrochen und zu einer transnationalen Sicht erweitert und um bislang ungehörte Stimmen ergänzt.

Mittels kreativer Zugänge eröffnet sich Raum für eine Vielzahl spannender Fragen mit aktuellen Bezügen. Warum ist es für junge Menschen heute überhaupt wichtig, sich mit dem Ersten Weltkrieg auseinanderzusetzen? Wie wird in den einzelnen Ländern an den Ersten Weltkrieg erinnert? Was können wir in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem Thema voneinander lernen? Welche Bezüge gibt es zur Gegenwart? Und ist nicht der Erste Weltkrieg, trotz der vielfältigen Perspektiven und Deutungen, ein bedeutender und verbindender Teil kollektiver europäischer Erinnerungskultur?

Die Notwendigkeit, dass wir die Geschichte aus den verschiedensten Blickwinkeln begreifen lernen, um gemeinsam eine friedliche Zukunft zu gestalten, ist heute leider überaus aktuell. Frieden ist keine Selbstverständlichkeit, er ist kein Grundzustand, auf dem man sich ausruhen kann. Frieden wird immer wieder herausgefordert und bedroht. Das haben wir auch in Europa, in einer Union zur Bewahrung des friedlichen Miteinanders, in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder schmerzhaft zu spüren bekommen. Seien es die Balkankriege der 1990er Jahre oder der aktuelle Konflikt in der Ukraine – Frieden besteht nicht von allein, er muss mühsam erarbeitet und aktiv erhalten werden. Diese Erkenntnis ist elementar für die Zukunft Europas als gemeinsamer Friedensraum. Darum hat jeder von uns die Verantwortung, zu lernen, wie Frieden erhalten werden kann – und einer der besten Lehrmeister ist die Geschichte. Sie lehrt uns begangene Fehler zu begreifen und diese nicht zu wiederholen. Wir können sehr wohl aus der Geschichte lernen.

Als Veranstalter des HistoryCampus verfolgen wir den gemeinsamen Ansatz, historisches Lernen mit gegenwartsorientierten Fragen zu verbinden, um Hinweise für das eigene Denken und Handeln ableiten zu können. Wo junge Menschen gemeinsam lernen, eigene Fragen stellen und selbstbestimmt handeln können, realisiert sich „Erziehung zur Mündigkeit“ in der historisch-politischen Bildung.

Die Beschäftigung mit individuellen Schicksalen und Familiengeschichten ist dabei sehr wichtig, weil sie „niedrigschwellig“ erfolgt. Die Fakten und Zahlen des Krieges sind erdrückend. Aber sie sind und bleiben abstrakt. Was sagt einem Jugendlichen die Angabe von Millionen Toten? Erst die Darstellung der einzelnen Schicksale dieser Millionen – das Hungern eines Kindes in Russland, die Eindrücke des allgegenwärtigen Todes in den Schützengräben von Belgien und Frankreich, die Trauer einer Witwe in Serbien machen die Geschichte greifbar. Zu erleben, dass der Erste Weltkrieg zwar hundert Jahre her ist, die Sorgen und Probleme der Soldaten, der Angehörigen und der Zivilbevölkerung aber absolut greifbar für uns sind, kann eine Menge auslösen.

Mir selbst ist das klar geworden, als ich kürzlich unter einigen Mühen meine eigene Familiengeschichte aus der Zeit um 1914 recherchierte. Der Vater meiner Mutter, mein Großvater mütterlicherseits, wurde im Ersten Weltkrieg an der Front in die Lunge getroffen. Die Kugel konnte damals nicht entfernt werden. Er hat deshalb bis zu seinem Tod mit der Kugel in der Lunge gelebt – was ihn übrigens nicht vom Rauchen unzähliger Zigaretten abhielt. Aber das wichtigste für meine Familie war, dass er wegen dieser Kugel in seiner Lunge nicht zum Zweiten Weltkrieg eingezogen wurde. In dieser Anekdote steckt letztlich das ganze Schicksal meiner Familie und damit auch das meiner eigenen Existenz. Das zeigt mir ganz deutlich: In dem Moment, indem man intensiv in die Geschichte eintaucht, begreift, was sie für den Einzelnen bedeutet, wirkt die Geschichte plötzlich zum Greifen nah.

Am 1. Januar 2008 starb der letzte deutsche Veteran des Ersten Weltkrieges mit 107 Jahren in Pulheim bei Köln. Heute ist es nicht mehr möglich, Beteiligte nach ihren Erfahrungen und Erinnerungen zu fragen. Zum Ersten Weltkrieg können Schülerinnen und Schüler und Studierende keine Zeitzeugen mehr einladen, sie haben keinen direkten emotionalen Bezug zu diesem Krieg, und das unmittelbare Familiengedächtnis verblasst. In diesem zeitlichen Abstand steckt aber auch eine Chance, so beklagenswert das Schwinden von Zeitzeuginnen und -zeugen ist. Unsere heutige Generation kann souveräner über die Geschichte urteilen und es wird deutlich, dass Geschichte komplex und eben nie schwarzweiß ist, sondern vielmehr grau. All diese Grauschattierungen – in die Sprache politischer Bildung übersetzt: alternative Handlungsoptionen – werden in 22 Workshops während des HistoryCampus deutlich werden. Vorschnelle Urteile und Erklärungen wie es gewesen sein muss, werden nicht möglich sein. Diese Erfahrung kann uns helfen zu verstehen, warum Menschen handelten, wie sie handelten. Und wir können sie ermächtigen, „empowern“, ihre eigenen Interessen zu erkennen und die öffentlichen Dinge mitzugestalten.

Beim HistoryCampus wird mit diesen individuellen Geschichten und Schicksalen gearbeitet. Die jungen Gäste ergründen und recherchieren ihre Familien- und Stadtgeschichten und tauschen sich miteinander darüber aus, wie in ihrem Herkunftsland an den Ersten Weltkrieg erinnert wird. Und schon jetzt können wir sehen: Die nationalen Sichtweisen auf dieses Ereignis unterscheiden sich von Gesellschaft zu Gesellschaft gewaltig! Wenngleich Europa politisch zu einer Union zusammengewachsen ist, sind wir von einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur weit entfernt. Ich möchte hier aber ein kleines hoffnungsvolles Wort einfügen: „noch“. Denn Veranstaltungen wie der HistoryCampus Berlin machen einen ersten Schritt in diese Richtung. Die junge Generation Europas hat ganz offensichtlich ein großes Verlangen danach, miteinander in den Dialog zu treten, Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten zu erkunden. Hier findet Gedenken aus der Gesellschaft heraus statt. Erinnerung wird im Dialog mit anderen Nationalitäten neu geformt und bereichert. Hier wächst eine europäische Öffentlichkeit.

Ebenfalls 2009, kurz vor dem eingangs erwähnten Harry Patch, starb Henry Allingham, damals der älteste noch lebende Kriegsteilnehmer, im Alter von 113 Jahren. Er sagte der BBC kurz vor seinem Tod: "War's stupid. Nobody wins. You might as well talk first, you have to talk last anyway.” Wie wahr.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten