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Politische Bildung im vereinten Deutschland sowie Ansatzpunkte der politischen Bildung im vereinten Korea (26.5.2016, Berlin) | Presse | bpb.de

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Politische Bildung im vereinten Deutschland sowie Ansatzpunkte der politischen Bildung im vereinten Korea (26.5.2016, Berlin) Input auf der 6. Sitzung des Deutsch-Koreanischen Konsultationsgremiums zu Wiedervereinigungsfragen

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Sehr geehrte Damen und Herren,

meine eigene Schulzeit liegt schon einige Zeit zurück und ich habe sie in einem anderen Land „genossen“. Das heißt: genießen müssen. Im DDR-Lehrplan Staatsbürgerkunde, 1978 vom Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik herausgegeben, heißt es:

„Gegenstand des Unterrichts (…) sind die politischen und ökonomischen Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft, der Charakter und die Hauptaufgaben des sozialistischen Staates sowie das Wesen der sozialistischen Demokratie. Es ist Aufgabe des Unterrichts, die Schüler mit politischen Kenntnissen, vor allem über den Klassencharakter des sozialistischen Staates, vertraut zu machen, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln, sich marxistisch-leninistisches Wissen anzueignen und es zur Begründung ihrer politischen Standpunkte zu nutzen. Der Unterricht leistet einen Beitrag zur weiteren Ausprägung des klassenmäßigen Verhaltens der Schüler.“

Schulbücher und Schulunterricht in der DDR waren Instrumente der SED-Ideologie und dazu da, Schülerinnen und Schüler wie mich „auf Linie“ zu bringen.

Zum Glück ist das heute anders. Wir, die Bundeszentrale für politische Bildung, setzen uns auf vielfältige Weise dafür ein, Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken. Anders als in der Diktatur sind wir der „Aufklärung“ verpflichtet, und zwar überparteilich und unabhängig von der Farbe der jeweiligen Regierung. Dafür arbeiten wir mit zahlreichen Partnern, den „Trägern“ politischer Bildung zusammen. Nicht zuletzt an den Folgen der Indoktrination, wie in dem oben zitierten Beispiel beschrieben.

Warum gibt es „Besonderheiten“ politischer Bildung in Ostdeutschland?
Die starke Betonung der schwindenden, aber nach wir vor vorhandenen Unterschiede zwischen Ost und West in allen möglichen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens ist selten hilfreich. Sie führt dazu, dass diese Unterschiede stärker wahrgenommen werden, als sie in vielen Fällen sind, befördert Vorurteile und verhindert den Abbau der „Mauer in den Köpfen“.

Es ist aber auch klar, dass die Deutsche Einheit vor 26 Jahren und die Eingliederung Ostdeutschlands in die bestehenden Strukturen der bundesrepublikanischen Marktwirtschaft ein Vorgang war, der sich stark von der gesellschaftlichen Neuordnung anderer sozialistischer Staaten unterscheidet. So ist der weitverbreitete Begriff "Wiedervereinigung" zwar positiv gemeint, er ist aber nicht korrekt: Faktisch wurde ja nichts wieder-vereint. Nach dem Fall der Mauer sind zwei völlig unterschiedliche Gesellschaftsmodelle zusammengeführt worden, und Deutschland hatte nie zuvor in seiner Geschichte die seit 1990 geltenden Grenzen. Deshalb sind die Begriffe "Vereinigung" oder "Beitritt" eher angemessen.

Oberflächlich betrachtet, erlebten die Ostdeutschen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine historisch einmalige "nachholende Wohlstandsexplosion". Das rapide Tempo, mit dem der Lebensstandard anstieg, stellte das der westdeutschen Nachkriegsgeschichte bei weitem in den Schatten.

Allerdings verloren viele Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer im Zuge der Umbrüche nach der Vereinigung ihre Arbeitsplätze und die gewohnte soziale Sicherheit. Die Annäherung an die Westeinkommen stagnierte ebenfalls schon bald. Das Lohnniveau ist bis heute niedriger als im Westen. Die hohen Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft konnten nur bedingt erfüllt werden und viele Menschen sind enttäuscht darüber, dass der Rechtsstaat eben keine allumfassende Gerechtigkeit garantieren kann. Leider ist es so, dass sich manche Menschen in Ostdeutschland noch heute als Bürger zweiter Klasse fühlen.

Das scheinbare Ausgeliefertsein und die gefühlte Alternativlosigkeit führten zu sehr niedrigen Wahlbeteiligungen. Man war soweit über das Phänomen der Post-Demokratie zu sprechen. Diese Stimmung nutzte zum Beispiel der organisierte Rechtsextremismus für sich aus, baute Bastionen in Sachsen und Brandenburg aus und konnte in Landesparlamente einziehen.

Die Gründe für das starke Auftreten des Rechtsextremismus in den neuen Ländern, insbesondere in Sachsen, sind vielfältig. Ein Grund sind sicherlich die transgenerationell überraschend wirkmächtigen Überbleibsel der politischen Kultur der DDR - die „mentale Infrastruktur“ hinkt auch 26 Jahre nach der Vereinigung in bestimmten Regionen der „baulichen Infrastruktur“ hinterher.

Zwar sind die meisten Straßen, Plätze und Häuser im besten Zustand, aber eben nicht die „Denk- und Aktionsformen“ jener Menschen, die viele Jahrzehnte in einer Diktatur lebten. Politische Bildung in postdiktatorischen Gesellschaften dauert lange, das ist ein Generationen-Projekt.

Schwerpunkte der Arbeit der bpb in Ostdeutschland
Genau deshalb konzentrieren sich die Aktivitäten der Bundeszentrale für politische Bildung in Ostdeutschland stark auf die Aktivierung zivilgesellschaftlichen Engagements, die Förderung des Interesses am demokratischen Prozess und den Kampf gegen rechtsextremes Gedankengut sowie die Beschäftigung mit der Vermittlung der DDR-Diktatur als Teil einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte.

Lassen Sie mich das an drei Beispiel konkret machen:

Erstens: Ein zentrales Steuerungselement der Bundeszentrale für politischen Bildung ist dabei die Förderung von zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort in den fünf östlichen Bundesländern. Wir fördern hier Vereine, Bildungsstätten und Stiftungen, die zwischen Dresden und Erfurt, zwischen Rostock und Cottbus politische Bildungsaktivitäten anbieten. Auch wenn wir mit 24 anerkannten Trägern und Unterträgern noch weit weniger Organisationen in dieser Region unterstützen als im Westen, so wächst die Zahl doch seit Jahren kontinuierlich. Dieser Ausbau des Trägernetzwerkes ist mir persönlich ein besonderes Anliegen und wir werden den Ausbau weiter vorantreiben.

Zweitens: Ein weiteres Beispiel neben der Trägerförderung dafür, wie politische Bildung im besonderen Umfeld Ostdeutschlands funktionieren kann, ist das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ des Bundesministeriums des Innern, mit dessen Umsetzung die Bundeszentrale für politische Bildung betraut ist. Das Programm fördert in ländlichen und strukturschwachen Gegenden eine selbstbewusste, lebendige und demokratische Gemeinwesenskultur. Die bereits angesprochenen großen Veränderungen der letzten beiden Jahrzehnte haben sich ganz besonders in ländlichen Regionen und sogenannten „strukturschwachen“ Gebieten niedergeschlagen. Dort muss mit den Folgen von Abwanderung und schrumpfenden Bevölkerungszahlen umgegangen werden. Der Fußballverein oder die Freiwillige Feuerwehr in den Kommunen sind dabei oft so etwas wie die letzten Bastionen, in denen Gemeinschaft gelebt wird. Das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ (ZdT) fördert deshalb Projekte für demokratische Teilhabe und gegen Extremismus und setzt an die noch bestehende Strukturen an. ZdT unterstützt gezielt Vereine und Initiativen, die regional verankert sind – klassischerweise eben den Fußballverein oder die Feuerwehr. Demokratie, das ist der Grundgedanke des Projekts, soll dort gefördert werden, wo sie entsteht: an der Basis. ZdT ist daher auch ein Präventionsprogramm gegen Rechtsextremismus, es wirkt extremistischen und verfassungsfeindlichen Strömungen entgegen und wir sind derzeit dabei, dass Projekt auch auf die westlichen Bundesländer auszudehnen (sozusagen als Ost-West-Export).

Drittens: Wir diskutieren hier in Deutschland ja gerade die Zukunft der BSTU, der „Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen“. Nicht zuletzt in dieser Debatte versuche ich immer wieder deutlich zu machen, worin die Besonderheit der politischen Bildung liegt, wenn wir uns mit den Folgen der DDR-Diktatur beschäftigen: Unsere Aufgabe ist es, den Horizont zu erweitern, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Handlungsoptionen in der Geschichte aufzuzeigen, den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich eine eigene Haltung und Meinung zu bilden. Denn: Wer über Geschichte redet, redet immer über Gegenwart. Nehmen Sie das Beispiel Stasi-Akten. Daran lassen sich Diktaturmechanismen diskutieren, Zivilcourage und sehr aktuelle Fragen. Auch diese: Wie werden Nachrichtendienste demokratisch kontrolliert? Was hat die Stasi-Aufarbeitung mit der Diskussion um den US-Geheimdienst NSA zu tun? Wie verhält man sich zur Diskussion über Datenüberwachung? Für die heutige Generation, für die die DDR oftmals so weit weg ist wie das Mittelalter, ist das ein Ansatz. So wird Zeitgeschichte handhabbar. Und zugleich hilft eine so verstandene historisch-politische Bildung dabei, die Diskrepanz einer „zerstückelten“ Geschichte zweier deutscher Diktaturen aufzulösen. Sie kann Brücken bauen und Brüche erklären.

Die aktuelle Lage und ein Ausblick
Heute sehen wir starken Zulauf zur rechtspopulistischen Partei „Alternative für Deutschland“, die zwar eindeutig kein rein ostdeutsches Phänomen ist, hier aber doch einige ihrer bisher größten Erfolge „feiern“ konnte. Auch die anti-islamische und scharf rechtes Gedankengut transportierende „Pegida“-Bewegung hat ihren Ursprung in Ostdeutschland, genauer in Dresden, der Landeshauptstadt Sachsens.

Doch ich kann der aktuellen Situation unter dem Aspekt der Partizipation durchaus etwas abgewinnen. Was haben wir uns in den vergangenen Jahren über die mangelnde Wahlbeteiligung beklagt. Das Auftreten der AfD hat viele erst wieder in die Wahllokale gebracht. Dies ist ein günstiger Augenblick, wieder in den politischen Diskurs einzusteigen. Was heißt Wirtschaftswachstum unter dem Vorzeichen der Globalisierung? Inwieweit haben der liberale innen- und außenpolitische Kurs in Deutschland und die Modernisierung der sozialpolitischen Instrumente dazu beigetragen, unsere so vielfältige Gesellschaft robuster zu machen? Was bedeutet das für das Gelingen von Zuwanderung?

Es ist keine neue Erkenntnis, dass zwischen 10 und 20 Prozent der Mitglieder westeuropäischer Gesellschaften antidemokratisch und fremdenfeindlich denken, fühlen und dies auch äußern. Gefährlich wird es allerdings, wenn sich dieser Wert den 30 Prozent nähert, denn dann fangen auch andere Menschen an, die Argumente aufzugreifen. Dass wir dieses Phänomen im Verlauf der letzten Jahre in vielen Teilen Ostdeutschlands beobachten konnten, ist besorgniserregend.

Wenn nun mein Kollege Frank Richter, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, von einem „Crashkurs in Sachen freiheitlich demokratische Grundordnung“ spricht, der sich gerade im Land vollziehe, dann muss vorher etwas falsch gelaufen sein. Dann hat politische Bildung entweder versagt oder war gar nicht erst vorhanden.

Wir müssen selbstkritisch erkennen, dass wir es verpasst haben, eine Zielgruppe, nämlich Personen, die tendenzielle Anhänger der Pegida-Bewegung oder der AfD sind und sich nicht mehr mit dem politischen System identifizieren, stärker zu adressieren. Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt hat kürzlich auf einer Tagung der bpb in Kassel von einem „kommunikativen Nahkampf“ gesprochen, in den sich die politische Bildung eben mit jenen begeben muss, die eben noch nicht umfangreich politische gebildet sind.

Auch müssen wir nach Kenntnis der Entwicklungen in Sachsen und anderer Teile Ostdeutschlands eindeutig feststellen, dass die politische Bildung im schulischen Bereich dort zu lange zugunsten der sog. MINT-Fächer vernachlässigt wurde. Sicherlich gibt es viele Gründe, dass Sachsen so sehr mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus zu kämpfen hat – ich habe einige skizziert. Aber es ist bestimmt kein Zufall, dass jenes Bundesland, in dessen Schulen – laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2014 – mit am wenigsten Unterrichtsstunden für politische Bildung aufgewendet werden, in den letzten Monaten so häufig negative Schlagzeilen schreibt und bundesweit als Hort für Rassisten und Anti-Demokraten gilt. Wenn Lehrer sich nicht trauen, politische Inhalte im Unterricht offensiv zu behandeln, wenn bei ihnen Angst davor herrscht, was passieren könnte, wenn sie es tun, dann liegt der Fehler im System.

Es gibt erkennbare Defizite in der politischen Bildung, es gibt ein mangelhaftes Verständnis unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Wie funktionieren Medien, Parteien, wie funktioniert unser Staatsaufbau? Viel Unmut, der sich in der Pegida-Bewegung nur am sicht- und hörbarsten artikuliert, hat mit mangelndem Verständnis zu tun.

Mittlerweile hat das Land Sachsen reagiert und das dortige Kultusministerium hat erste Maßnahmen ergriffen, um Politik und Geschichte künftig wieder stärker in den Schulunterricht einzubinden. Die Erkenntnis ist also auch hier angekommen, dass die Zukunft Ostdeutschlands nicht nur auf dem Wissen von Ingenieuren fußen kann. Auch Basiskompetenzen, wie man mit den Herausforderungen einer Gesellschaft von heute umgeht, müssen in der Gesellschaft verankert werden.

Fazit: Wir brauchen einen Solidarpakt 3
In diesem Sinne lassen Sie mich zum Schluss festhalten: Auch fast 40 Jahre nachdem ich in der DDR Staatsbürgerkunde ertragen musste und 26 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands ist politische Bildung wichtig für die Stärkung der Demokratie in ganz Deutschland. Aus meiner Sicht brauchen wir gerade in den „neuen Ländern“ eine Großinvestition in die Stärkung der Demokratie und damit in politische Bildung. Ein solcher „Solidarpakt 3“ sollte die mentale Innenseite von großen Veränderungsprozessen mitdenken und entsprechende Anstrengungen – nicht zuletzt finanzieller Natur - beinhalten.

Meine Damen und Herren, es gibt keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Im Gegenteil: Kopf hoch und nicht die Hände!

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten