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„Das Potenzial von Religion zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in einem säkularen Staat“ (Berlin, 24.März 2017) | Presse | bpb.de

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„Das Potenzial von Religion zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in einem säkularen Staat“ (Berlin, 24.März 2017) Konferenz „Religionspluralismus weiter gedacht“ am 24. März 2017 in Berlin

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Sehr geehrte Damen und Herren,

über 80 Prozent der Menschen weltweit gehören – zumindest nominell – einer Religionsgemeinschaft an. Eine Zahl, die dafür spricht, dass die Theorie, nach der eine fortschreitende Säkularisierung aller Lebensbereiche die Religion letztlich zurückdrängt, durchaus widerlegt werden kann.

Wir sollten uns mit dem befassen, was Horkheimer und Adorno als bereits in der Aufklärung dialektisch angelegt verortet haben:

Der Aufklärung wohnt, entgegen ihrer Intention, auch ein (neuer) Mythos inne. Der Traum von der wissenschaftlich-technischen Beherrschbarkeit der Welt durch den aufgeklärten Menschen, wird, sofern er scheitert, und das wird geradezu zwangsläufig, wieder mit Magie und Mythos bekämpft. Heidegger feierte das einst als „Wiederverzauberung der Welt“.

Schauen wir uns in der Welt um, die uns umgibt, so müssen wir feststellen: Nicht selten gelten „die“ Religionen als Ursachen von Gewalt und Terror. Die Weltreligion des Islam wird denunziert – nicht nur von denen, die in ihrem Namen schreckliche Verbrechen begehen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und ihren Zusammenhalt.

1. Religion bewirkt gesellschaftspolitisch Ambivalentes: Nicht selten gelten „die“ Religionen als Ursachen von Gewalt und Terror – nicht ohne Grund: Es gibt viele Beispiele, in denen die Anwendung von Gewalt und Terror mit Religion gerechtfertigt werden.

Dabei erheben doch alle Weltreligionen zugleich den Anspruch, friedfertig zu sein.

Religion als subsidiärer Narrativ kann konstruktiv sein für heterogene, plural verfasste Gesellschaften. Aber Religion hat immer auch einen exklusiven Charakter. Sie schließt ein und sie schließt aus. Das ist eine Gefahr für Pluralität.

Betrachtet man die stabilisierenden Funktionen von Religionen, sieht man, dass sie schon in der Altsteinzeit eine wichtige Rolle spielten. Sie halfen den frühen Menschen dabei die eigene Sterblichkeit oder Naturphänomene begreifen zu können; das zumindest ist eine Erklärung für die Vielzahl an übernatürlichen Wesen, die überall auf der Welt seit Beginn der Menschheitsgeschichte entstanden sind.

Für den Religionssoziologen Detlef Pollack ist das eine Form der Kontingenzbewältigung: Menschen hätten schon immer versucht, „über Religion, über magische Praktiken, über religiöse Riten (…) Einfluss zu nehmen auf dasjenige, was sie mit natürlichen Mitteln nicht beherrschen können“.

Religionen gelten als moralisch-ethische Quellen. So ist etwa sie Nächstenliebe eine zentrale Figur, die sich in jeder Religion wiederfindet und aus der menschenfreundliche Prinzipien des Zusammenlebens und der Kooperation abgeleitet werden.

Religiöse Riten können Stabilität, können Sinn stiften, Orientierung und Hoffnung geben. Religionen sind soziologisch betrachtet also sogenannte „Ligaturen“ par excellence.

Nach Ralf Dahrendorf bilden sie mit ihrer sozialen Bindekraft die Basis für „tiefe kulturelle Bindungen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden“.

Religiöse Autoritäten können als gesellschaftliche Ordnungsfaktoren wirken, etwa in Konfliktsituationen: Der freiheitlich-demokratische Staat bedarf dieser Wortmeldungen und Quellen, auch wenn sie keine Deutungshoheit überweltlicher Angelegenheiten mehr beanspruchen können und dürfen.

2. Der freiheitlich-demokratische Staat bedarf dieser Wortmeldungen auch, weil er von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann: Ich zitiere den Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde:

„Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.“ Das ist das berühmte Böckenförde-Dilemma.

Eine Ordnung der Freiheit setzt daher voraus, dass ihre Bürger Freiheit verantwortlich ausgestalten. Dafür bedarf es grundlegender gemeinsamer Werte und Orientierungen. Nicht wenige Menschen sehen in Religionen eine wichtige Basis für Werteorientierungen.

Allerdings entsteht zwangsläufig hier auch ein Spannungsverhältnis. Denn „[d]ie Unbedingtheit ist zumindest den monotheistischen Religionen in die Wiege gelegt. Wer sie ernst nimmt, hat seine (oder ihre) Moralvorstellungen und gibt sich nicht damit zufrieden, selbst nach diesen sittlichen Regeln zu leben – er (oder sie) will, dass das auch die anderen tun. Er (oder sie) versucht, diese Vorstellungen anderen aufzuzwingen.“ Dies bemerkt der österreichische Journalist und Autor Robert Misik zu Recht 2013 in seinem Beitrag der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema „Religion und Moderne“.

Religion, eine monotheistische zumindest, basiert auf Exklusivitätsanspruch, der auf Anders- oder Nichtgläubige ausschließend wirken kann.

Sie basiert auf einem Wahrheitsanspruch der, je nach Auslegungsdogmatik, gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen entzogen ist. Diese Unantastbarkeit des dogmatischen Kerns von Religion kann individueller Entfaltung enge Grenzen setzen, sowie Kontrolle, Zwang bis hin zu Gewalt führen.

Frieder Otto Wolf, Präsident der Humanistischen Akademie Deutschland, hat eine präzise Linie gezogen, um sich der Frage zu nähern, bis wohin Religion unantastbar ist, weil sie unter dem von Artikel 4 des Grundgesetztes steht.

Die für eine Religion konstitutive Bindung müsse als solche respektiert werden, auch von denen, die sie selber nicht akzeptieren, allerdings unter einer wichtigen Voraussetzung:

„Dass die entsprechende Religion vollständig darauf verzichtet, nicht freiwillige Formen ihrer Ausbreitung auf andere Menschen als Subjekte der Weltanschauungsfreiheit einzusetzen. (…) Zusammenfassend bedeutet das, dass Religion oder auch Weltanschauung nicht als solche unantastbar sein kann. Unantastbar ist die Menschenwürde.“ Er plädiert für ein Eingreifen in den Fällen, in denen Gewalt angewendet wird, oder aufgrund von sozialem Druck freie Entfaltung verhindert wird.

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Gefahren für die plurale Gesellschaft, die von Religionen ausgehen können, sind ebenso real und vielfältig wie die positiven Einflussfaktoren.

So stellt denn auch der Philosoph Winfried Hinsch fest, dass religiöse Glaubensüberzeugungen „Kompatibilitätsbedingungen erfüllen [müssen], um in einer liberalen Demokratie einen begründeten Anspruch auf gleiche Berücksichtigung erheben zu können.“ Hinsch weiter: „Sie müssen erstens vereinbar sein mit den allgemeinen Bedingungen eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft auf der Basis gegenseitiger Achtung. Und insofern sie Aussagen über die empirische Wirklichkeit implizieren, müssen sie zweitens mit wohletablierten zeitgenössischen wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen vereinbar sein.“

Die verfassungsrechtlich gesicherte Religionsfreiheit gibt Bekenntnissen und damit Lebensentwürfen Spielräume, setzt aber auch Grenzen.

Und zwar genau dort, wo man im Sinne des Kant’schen Kategorischen Imperativs die Spielräume der anderen garantieren muss, um sie glaubwürdig für sich selbst einzuklagen. In postsäkularen Gesellschaften, die Jürgen Habermas als Gesellschaften definiert, die im Rahmen ihrer liberalen Selbstdefinition die eigenen säkularistischen Vorurteile reflektieren, spitzt sich das sogar nochmal zu.

3. Der Rückzug des Staates aus dem Streit um religiöse Wahrheit geschah schrittweise, er ermöglichte aber zugleich Religionsfreiheit und Religionsfrieden. Religion und Kirchen müssen deshalb, auch um ihrer selbst willen, Weltlichkeit und religiöse Neutralität des modernen Staates anerkennen.

Der Religionssoziologe Jose Casanova beschrieb vor Kurzem im Jüdischem Museum die Aufgaben des säkularen Staates folgendermaßen: Der Staat sei erstens kein Religionskritiker, das heißt keine Religion darf aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Er habe zweitens eine neutrale Distanz und Respekt für alle Weltanschauungen zu wahren. Anders geht es auch nicht, denn der Staat hat keine theologische Kompetenz, um religiöse Wahrheitsfragen zu entscheiden. Der Staat habe drittens die Aufgabe, Minderheiten zu schützen und sie – trotz des Mehrheitsprinzips in repräsentativen Demokratien – nicht dem Diktat der Mehrheit zu überlassen.

Fassen wir zusammen, bedeutet das: Der Absolutheitsanspruch von Religionen muss durch die Verfassung und das Verfassungsrecht domestiziert werden. Dabei ist der religiöse „Resonanzboden“ unserer Gesellschaften vielfältiger denn je: Andersglaubende haben denselben Anspruch wie Nicht- oder Nichtmehrglaubende – so die Verfassungstheorie. Dass dieser Anspruch in der Realität nicht konfliktfrei umgesetzt werden kann, hat sich immer wieder gezeigt.

So sind zum Beispiel die Reichweite und Immunität des kirchlichen Arbeitsrechts immer wieder Diskussionsgegenstände. Denn nach dem sogenannten „Dritten Weg“ werden die Arbeitsbedingungen nicht durch Tarifverträge, sondern nach kircheneigenen Ordnungen festgelegt.

Was unter anderem bedeutet, dass die Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen aus dem Geltungsbereich der staatlichen Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrechts ausgeklammert sind.

Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der Konflikt um die Anerkennung muslimischer Verbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts.

Hier ging es neben der Frage um die Vereinbarkeit demokratischer und religiöser Normen innerhalb der muslimischen Verbände auch um die Frage der Gleichberechtigung zwischen christlichen und muslimischen Akteuren.

Ein weiterer – und wohl der bekannteste – Konfliktfall ist der sogenannte „Kopftuch-Streit“, also die Diskussion über das Tragen religiös begründeter Kopfbedeckung im Staatsdienst. Hier ging es neben der Frage der positiven Religionsfreiheit der Kopftuch-Trägerin auch um die Einhaltung der staatlichen Neutralität und die negative Religionsfreiheit derjenigen, denen sie gegenüber als staatliche Vertreterin auftritt.

4. Waren wir eben bei den Aufgaben des Staates, gilt es auch, Religionen in die Pflicht zu nehmen.

Religionen selber werden herausgefordert, vor diesem Hintergrund die Häresiefrage neu zu stellen.

Es geht um nichts mehr und nichts weniger als die verfassungsrechtliche Domestizierung des Exklusivitätsanspruchs von Offenbarungsreligionen im globalen Zeitalter. Gleichzeitig wird jedoch die subsidiäre Religionspraxis anerkannt.

Das bedeutet: Häresie ist nicht nur legitim, sondern völlig in Ordnung!

Eine radikale Infragestellung sämtlicher religiöser Normen und Wahrheiten muss in einer Demokratie möglich sein, auch wenn es sich hierbei um Anliegen von gesellschaftlichen Minderheiten handelt. Sie ist sogar notwendig, wenn diese Normen und Wahrheiten den Anspruch erheben, sich in gesellschaftliche Strukturen und Institutionen einschreiben zu wollen. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist dabei ein zu achtendes Grundrecht. Jedoch eher eines, dass eine staatliche Intervention rechtfertigt, als dass es diese unterbinden würde.

Aber auch für die Infragestellung der Religionen gibt es Regeln, die beachtet werden wollen:

Es darf niemals so weit kommen, dass Religionskritik übergeht in Diffamierung oder als Herrschaftstechnik instrumentalisiert wird. Das heißt Kritik muss konkret, sachlich und informiert sein. Wenn es der Anspruch ist, Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Missstände führen zu wollen, die mit Religion in Verbindung gebracht werden, muss die Kritik auch Raum für Gegenkritik und sich auch auf diese einlassen. Das bedeutet, normative Ansprüche der Diskurspartner ernst zu nehmen.

Es ist ferner notwendig sich dem Trend der Essenzialisierung von Religionen zu widersetzen. Es ist weder angebracht, noch objektiv möglich allgemeingültig von „den Muslimen“, „den Christen“, „den Juden“ zu sprechen. Wir alle wissen es, müssen uns und unseren Mitmenschen aber immer wieder in Erinnerung rufen, dass die realen Leben auch religiöser Menschen in den seltensten Fällen mit den Dogmen und Vorgaben ihrer jeweiligen Religionen passgenau übereinstimmen.

5. Meine Damen und Herren, zu Beginn meiner Ausführungen habe ich festgestellt, dass die Theorie der aus allen Lebensbereichen zurückgedrängten Religion widerlegt scheint. Religionen sind und bleiben auf verschiedene Weise tief in der Gesellschaft verwurzelt.

Deshalb ist die Voraussetzung für das Verständnis von Religionen und Formen des Religiösen die Erkenntnis ihrer Einbettung in die jeweiligen Gesellschaften.

Die dafür notwendige Aufklärung ist ohne Bildung, ohne politische gar, nicht vorstellbar. Wie Immanuel Kant sagte: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen.“

Für die Bundeszentrale für politische Bildung ist es wichtig, alle Bürgerinnen und Bürger im Sinne des Grundgesetzes und damit unabhängig von ihrem religiösen und weltanschaulichen Bekenntnis zu behandeln.

Als staatliche Einrichtung bewegen wir uns in einem besonderen Spannungsverhältnis, wenn es in unserer Arbeit konkret um Religion und Religiosität geht. Das Leitmotiv heißt: Keine Deutungsmodelle für religiöse Normen anbieten, sondern – wenn überhaupt – die Vielfalt der Deutungsansprüche zu vermitteln.

Hier möchte ich es mit dem Präsident des Bundeverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle halten. Denn für die Bundeszentrale für politische Bildung geht es – wie für den Staat als solchen – darum, zu religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen keine abweisende Distanz einzunehmen, sondern ihnen gegenüber offen zu sein und Raum zur Entfaltung zu bieten. Das alles freilich ohne uns mit ihnen zu identifizieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten