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Die Bedeutung (schulischer) politischer Bildung in einer sich scheinbar polarisierenden Gesellschaft

/ 20 Minuten zu lesen

Vortrag des Präsidenten im Rahmen der Ringvorlesung "Civic Literacy als Themenfeld der Empirischen Bildungsforschung" des Institutes für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

mein heutiger Vortrag steht unter der Überschrift "Die Bedeutung (schulischer) politischer Bildung in einer sich scheinbar polarisierenden Gesellschaft". Ich möchte Ihnen in den kommenden 45 Minuten zu beiden darin aufgeworfenen Metafragen einige Überlegungen vorstellen.

Dabei werde ich zunächst die "sich scheinbar polarisierende Gesellschaft" fokussieren. Denn um den Mikrokosmus Schule in seiner Independenz zur Gesellschaft zu betrachten – schulische Entwicklungen sind Ursache und Wirkung gesellschaftlicher Zustände zugleich – sollten wir immer auch das makropolitische Umfeld im Blick behalten.

Anschließend werde ich einige grundlegende Bemerkungen über Schulen als politischen Lernort und über die Wechselwirkungen polarisierender Konflikte und schulischer politischer Bildung machen. Schließlich möchte ich Ihnen einige innovative Bildungsformate und -materialien in diesem Zusammenhang vorstellen.

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"Forscher sehen zunehmende Polarisierung in EU-Staaten" ,

titelte kürzlich eine große deutsche Wochenzeitung. Die hier und insgesamt in der Berichtserstattung breit rezipierte internationale Studie der Universität Münster identifiziert zwei ausgeprägte Gruppen mit entgegengesetzten Positionen zu Themen wie nationaler Zugehörigkeit, Demokratie und Vertrauen in die Politik.

Soweit, so bekannt. Neu sind die für diese beiden polarisierten Lager gewählten Bezeichnungen. Bisher nannten Politikwissenschaftlerinnen diese Kosmopoliten und Kommunitaristen, der britische Journalist David Goodhart hat die Begriffe Anywheres und Somewheres etabliert. Die Münsteraner Forscherinnen sprechen nun von "Verteidigern" und "Entdeckern".

Interessanter als dieses neue Label finde ich allerdings die für die Studie erhobenen aktuellen Zahlen. Sie helfen uns bei der Einordnung und zeigen warum das Wörtchen "scheinbar" im heutigen Titel eine gewisse Berechtigung hat. Denn in Deutschland zählen demnach 20 Prozent der Bevölkerung zu den "Verteidigern", 14 Prozent sind "Entdecker“.

Insgesamt handelt es sich demnach lediglich um ein gutes Drittel der Bevölkerung, während fast zwei Drittel – jedenfalls die deutliche Mehrheit der Deutschen – weder "Entdecker" noch "Verteidiger" ist. Im historischen Vergleich etwa mit den 1920er Jahren oder der Zeit nach 1968 erscheint mir das keineswegs ein Allzeithoch gesellschaftlicher Polarisierung zu sein. Kritischer formuliert passt der Stil der Berichterstattung über besagte Studie(n) mitunter besser zur aufgeregten Grundstimmung medialer Debatten als zum referierten Zahlenmaterial.

Gewiss zeigt insbesondere der internationale Vergleich auch die Risiken dieser global wirksamen Konstellation auf. Dort, wo sich etwa Regierungen selbst einem radikalen Lager verschreiben liegen die Zahlen deutlich höher. Im "semi-autoritär geführten Land Polen" bilden „Entdecker“ und „Verteidiger“ zusammen etwa bereits 72 Prozent.

Zudem geht auch von politischen Minderheiten ein erhebliches Destruktionspotential aus, selbst wenn sie nicht – wie es den Trumpisten zwischenzeitlich gelungen war – mit Hilfe einer historischen Sondersituation und spezifischen Hilfestellungen (in diesem Fall dem Wahlrecht) eine Mehrheit erringen.

In einer Aufmerksamkeitsökonomie wie der zeitgenössischen Medienlandschaft gelingt es offenkundig den lauten Stimmen besser als mancher abwägenden Position durchzudringen. Im Stresstest der COVID 19-Pandemie zeigen sich einige Symptome gesellschaftlicher Polarisierung besonders prägnant. Über die zugrundeliegenden Phänomene aber diskutieren wir schon länger. Emotionalität und erregte Debatten müssen nichts per se Schlechtes sein. Kontroversität ist eine der zentralen Prämissen der politischen Bildung – ich komme darauf noch zurück.

Leider müssen wir aber feststellen, dass ein Teil der politischen Landschaft und Debattenbeiträge einen derart kulturkämpferischen Charakter angenommen hat, dass die Demokratie insgesamt Schade zu nehmen droht.

Ein Teil der Bevölkerung hat offenbar jegliches Vertrauen in Institutionen verloren. Er agitiert gegen Journalistinnen und gegen Wissenschaftler, schon lange gegen „die Politik“ und neuerdings auch gegen medizinischen Sachverstand. Während sie den serösen Vertreterinnen dieser Berufsgruppen gar nichts mehr glaubt, folgt diese Minderheit umso unkritischer populistischer Propaganda und sich als Rebellen inszenierenden Scharlatanen.

Wenn wir über diese gesellschaftliche Polarisierung sprechen stehen häufig kulturell aufgeladene, mitunter gar kulturessentialistisch verstandene Themen im Vordergrund: Flucht und Migration, Islam, Identitäten, Populismus. In der Pandemie mit ihren unmittelbaren wirtschaftlichen Implikationen hat sich das etwas verändert. Doch auch hier prallen beispielsweise vermeintliche "Eliten" der liberalen Demokratie und selbsternannte "Querdenker" in erster Linie identitätspolitisch aufeinander, wie nicht zuletzt die gegenseitige kulturelle Verachtung zeigt.

Zu den genannten und vielen weiteren politischen Phänomenen ließe sich tagesaktuell einiges analysieren, polarisierende Debattenbeiträge und Mechanismen im jeweilen Themenfeld ließen sich identifizieren und eine mögliche Bearbeitung durch politische Bildung ließe sich skizzieren. Bei den schulischen Praxisbeispielen werde ich einige Aspekte nennen.

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Ich möchte meinen Blick jedoch hauptsächlich auf langfristige Ursachen werfen. Hierbei werden einige etwas zurückliegende Ereignisse im In- und Ausland eine Rolle spielen, die allgegenwärtige Pandemie wird nicht im Mittelpunkt stehen. Mit diesem geweiteten Blick können wir meiner Meinung nach zu einem besseren Verständnis der empfundenen Polarisierung gelangen und sie mit einem wichtigen Auftrag an (schulische) politische Bildung verbinden.

In den vergangenen Jahrzehnten hat ein umfassender Strukturwandel eingesetzt, der mutmaßlich weitere Dekaden andauern wird und der unsere Welt umkrempelt, wie es zuletzt die Industrialisierung getan hat. Technologische Entwicklungen (wie Mikrochips, Automatisierung, Konversion und zum Teil das Auslaufen klassischer Industrien verbunden mit einer Expansion von Dienstleistungen usw.), gesellschaftlicher Wertewandel (eine auch von „68“ inspirierte Individualisierung, die „Risikogesellschaft“, der Verfall klassischer Autoritäten) und politische Agenda stehen hier in einem komplexen, interdependenten Verhältnis. Zeitgeschichtlich wurde diese Entwicklung „nach dem Boom“ etwa von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben.

Die politische Moderation dieser Transformation wurde bis vor kurzem stark von der ideologischen Meinungsführerschaft der Chicago School of Economics und der „eisernen“ Durchsetzung ihres Programmes durch die verschiedensten Regierungen geprägt: Angebotspolitische Wende, insbesondere globale Konkurrenz um Direct Foreign Investments, Deregulierungen, Privatisierungen. Dadurch ging die Verunsicherung des Wandels mit der Erfahrung größerer Ungleichheit und dem Empfinden einher, dass weder Lasten noch Profite der neuen Zeit gerecht verteilt seien.

Das gilt umso mehr für den Osten, wo das erwähnte Politikmodell nach 1989 im Zeitraffer implementiert wurde, zudem weitgehend ohne die soziale Sicherheit und relative Nivellierung Westeuropas. Das Fehlen jeglicher Selbstzweifel – aus demokratischer Perspektive nie ein gutes Zeichen – lässt sich hier bereits daran erkennen, dass die oben erwähnten Apologeten diesen Prozess unter der von ihnen positiv verstandenen Bezeichnung der „Schocktherapie“ durchführten.

Diese Art von Therapie lässt in der Tat schockiert zurück, vor allem aber demotiviert sie. Wer hier nicht mitkommt, verliert die Lust. Warum an einer Gesellschaft partizipativ mitwirken, aus der man sozio-kulturell ausgeschlossen wurde?

Ökonomische Ungleichheit übersetzt sich oft in gesellschaftliche und politische Ungleichheit, damit verhindert sie gleiche Teilhabe(chancen). Die auf der Sonnenseite der Transformation Lebenden kennen ihre Interessen, sie partizipieren, sie werden repräsentiert und fühlen sich repräsentiert; für das „untere Drittel“ gilt das nicht oder nur eingeschränkt. Betroffen sind hier vor allem ein neues Dienstleistungsproletariat und der Niedriglohnsektor, beides Kinder der beschriebenen Angebotspolitik, aber auch ein wachsender Teil der Mittelschicht. Hier fürchtet man den Abstieg und hat im Gegensatz zu denen "ganz unten" viel zu verlieren.

Transformationsprozesse bedrohen Erwerbsbiografien und können zu Ohnmachtsempfinden und schwindendem Vertrauen in Institutionen führen. Ihre tieferen Ursachen sind komplex und erscheinen oft abstrakt, die vor Ort erfahrenen Auswirkungen können umso konkreter sein: Biographische Brüche, Verlust an Einkommen, Struktur und Status.

In betroffenen Regionen hat das, besonders wenn es wiederholt und/oder konzentriert erfolgt, Auswirkungen über Einzelbetriebe und -branchen hinaus: Verlust von Kaufkraft und Erwerbsmöglichkeiten; Wanderungsverluste insbesondere junger, gut ausgebildeter und weiblicher Bevölkerung, Erosion privater Beziehungen und Strukturen wie Vereine.

Nicht selten fallen der Verlust arbeits(platz)bezogener und lokaler / regionaler Identität zusammen. Zurück bleiben dann „angry white men“ und eine ausgedünnte bzw. zurückgebaute Infrastruktur. Ein Teufelskreislauf: Denn wer möchte sich in einem solchen Umfeld neu ansiedeln und hier (monetär oder ideell) investieren? Wer soll Ideen, Kreativität und Lebensfreude (zurück-)bringen?

Der Zeithistoriker Philipp Ther rekurriert in seiner Analyse politischer Auswirkungen dieser Entwicklungen auf Karl Polanyi. Dessen 1944 unter ganz anderen historischen Umständen veröffentlichte "Große Transformation" ging bereits von einem Wechselspiel zwischen dem selbst verwirklichenden Individuum und selbst regulierenden Markt einerseits und dem sozialen Schutzbedürfnis der Gesellschaft anderseits aus. Avant la lettre sprach Polanyi also in "Münsteraner Terminologie" bereits über Verteidiger und Entdecker.

Auf der „schutzsuchenden“ Seite gibt es verschiedene Strategien. Als Reaktion auf die erwähnten Krisen seit 2008 schlug das Pendel zum Teil nach links, zu Kapitalismuskritik in Deutschland, zur griechischen Syriza oder zu Occupy Wallstreet. Zunehmend schlug es aber auch nach rechts – und verschaffte den Verfechtern einer kulturessentialistischen Abwehrhaltung Rückenwind.

Derartige Konfliktlinien sind an sich kein Makel für eine lebendige Demokratie, so wie Heterogenität kein Makel für eine plurale Gesellschaft ist.

Zur Herausforderung wird selbiges, wenn integrierende oder zumindest moderierende Institutionen an Bindekraft verlieren. Über die Folgen diskutieren wir seit geraumer Zeit: Abgeschottete Diskurse, fragmentierte Öffentlichkeit(en), Filterbubbles. Ein „Diskurs der Freien und Gleichen“, um es nach Jürgen Habermas sagen, wird so zunehmend schwieriger.

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Was ist der tiefere Grund für diese Vertrauenskrise der Institutionen, warum können sie ihre moderierende Funktion derzeit nicht wahrnehmen? Wie bei solch komplexen Vorgängen üblich ist hier sicherlich von Multikausalität auszugehen. Einen gewichtigen Grund sehe ich indes im politischen Krisenmanagement der vergangenen beiden Dekaden.

In der öffentlichen Debatte erscheint der Krisenbegriff geradezu inflationär. Krisen und Kriege im Irak und in Syrien, in der Ukraine oder im Kaukasus. Krise der New Economy, Banken-, Immobilien-, Schulden- und Eurokrise, Flüchtlingskrise, Brexit, „Trump“ und schließlich Corona – währenddessen und besonders bedrohlich eine Krise des gesamten Planeten durch den menschlich erzeugten Klimawandel. Während all dieser und weiterer Verwerfungen steht insbesondere in den vergangenen Jahren häufig im Raum, die Demokratie insgesamt sei in der Krise.

Seit der Pleite der Lehmann Brothers 2008 und dem folgenden Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobilienmarktes ist die Welt kaum mehr in einen „stabilen Normalzustand“ zurückgekehrt. Die unter kurzfristigem Druck agierende Politik im Krisenmodus schwächt dabei vorausschauendes und nachhaltiges Handeln, sie produziert damit künftige Krisen bzw. verschärft Dauerkrisen, etwa den Klimawandel oder strukturelle Ursachen von Flucht und Armutsmigration. Die Wurzeln der derzeitigen zoonotischen Pandemie liegen in derartigen Versäumnissen, aber auch die Gründe der – wenn wir sie so nennen möchten – Krise der (liberalen) Demokratie.

Mit der Finanzkrise hätte eine demokratische Neuaushandlung der – wie eben beschrieben – ungerecht und entrückt wirkenden sozioökonomischen Ordnung einhergehen können. Stattdessen versuchten US-Regierung, Internationaler Währungsfonds und amerikanische Notenbank „die Krise im Schulterschluss mit ihren Verursachern zu überwinden“, wie Philipp Ther es formulierte.

4,3 Millionen Familien verloren ihre Häuser und Wohnungen, während Rettungsprogramme und Kapitalspritzen Börsen und Banken retteten.

Ich möchte dieses Vorgehen hier gar nicht politisch beurteilen, mir geht es eher um die rund um diese Krisenbewältigung etablierte Rhetorik. Besonders zwei verhängnisvolle Vokabeln wurden nun salonfähig: systemrelevant und alternativlos.

Bei der europäischen Neuauflage bzw. Fortsetzung der Finanzkrise rund um die Währungsunion und deren überschuldete Mitgliedsstaaten ging das europäische "Pendant" aus EU, EZB und erneut dem IWF ähnlich vor. "Während Europas Steuerzahler in die Mangel genommen wurden, wurden die Banken und andere Geldgeber mit Geld ausgezahlt, das man in die zu rettenden Länder gepumpt hatte", so beschrieb es Adam Tooze.

Die auch bei dieser Krisenbewältigung beschworenen Prämissen der Alternativlosigkeit und Systemrelevanz kumulierten in der besonders auch aus den Reihen unserer Bundesregierung – so selbstkritisch sollten wir sein – geäußerten Forderung, Wahlergebnisse, dürften „den wirtschaftspolitischen Kurs nicht beeinflussen". Dieses Signal einer thematischen Begrenzung von Partizipation wirkte umso gravierender, als anschließend tatsächlich Regierungsbildungen (in Spanien und Portugal) unter derartigem Vorbehalt standen.

Besonders fatal dokumentierte sich der Entzug demokratischer Agency im Sommer 2015 gegenüber Griechenland: Die Syriza-Regierung warb zunächst für die Ablehnung eines "Rettungspaketes" per Volksabstimmung. Als diese mit klarer Mehrheit erfolgt war, sah sie sich unter fiskalpolitischem Druck gezwungen, diametral gegenteilig zu handeln und eine Vereinbarung zu unterzeichnen, deren Inhalt sich kaum vom soeben per Referendum Abgelehnten unterschied.

Damit war nicht nur das Element direkter Demokratie ad absurdum geführt, sondern auch die repräsentative Demokratie blamiert: Der demokratisch herbeigeführte Regierungswechsel von der politischen Mitte zu Syriza war ausgerechnet in der offensichtlich (wahl-)entscheidenden Frage irrelevant, er führte politisch zum gleichen Ergebnis wie es mutmaßlich eine Wiederwahl der alten Regierung ergeben hätte.

Können wir uns unter derartigen Umständen über niedrige Wahlbeteiligungen beschweren?

In Deutschland bezeichneten fast alle Parteien und Akteure diese Rettungspolitik stoisch als "alternativlos" und verzichteten zunehmend auf argumentative Begründungen, so dass sich die inhaltliche Opposition schließlich als Neugründung formierte und dezidiert zur "Alternative" erklärte. Sie wurde zunächst ebenso wenig ernstgenommen wie die in Großbritannien anschwellende "Brexit-Stimmung", die sich keineswegs erschöpfend erklärt in klassischer britischer Europaskepsis, der Nord-Süd-Spaltung Englands oder misslungenen taktischen Manövern des damaligen Premierministers.

Vielmehr wiederholte die britische Remain-Kampagne sämtliche kommunikative Fehltritte rund um Finanz- und Eurokrise. Das mag kaum überraschen, waren hier doch mit der Finanzwirtschaft der Londoner City und den dort stark vertretenen US-Banken zum Teil identische Akteure führend, auch der IFW äußerste sich pointiert zum erwünschten Abstimmungsverhalten. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze spricht treffend von einem project fear, einer Angstkampagne, die mit Wohlstandsverlusten und Arbeitsplatzverlagerungen im Falle des Austrittes drohte, statt positiv für die europäische Integration zu werben.

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In den beiden hier skizzierten, internationalen Prozessen – der längerfristigen Transformation und damit einhergehende sozioökomischen Auswirkungen einerseits und den Krisenbewältigungs- und vor allem Kommunikationsstrategien seit 2008 anderseits – sehe ich Hauptursachen der beklagten Polarisierung; auch jener, die sich nun vordergründig um "Maskenpflicht", Impfgegnerschaft oder abstruse Verschwörungsideologien zeigen.

Zahlreiche Forschungen zeigen den Zusammenhang von vorenthaltenen Partizipations- und Selbstwirksamkeitserfahrungen und zivilisatorischer Rückentwicklung. Unsere Sprache verfügt über eine Art integrativem Doppelbegriff für derartige Verwerfungen: Mit "Regression" beschreibt sie bildungssprachlich eine rückläufige Tendenz, etwa in der Wirtschaft. Regression bezeichnet aber zudem innerhalb der psychoanalytischen Theorie einen Abwehrmechanismus der Angstbewältigung, bei dem ein zeitweiliger Rückzug auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung erfolgt.

Dass Armin Schäfer und Michael Zürn ihr aktuelles Buch über den Vormarsch autoritärer Bewegungen "Die demokratische Regression" nennen, erscheint insofern folgerichtig. Schäfer und Zürn betonen: "Die mangelnde Berücksichtigung der Anliegen unterprivilegierter Bevölkerungsteile im parlamentarischen Entscheidungsprozess sowie die Übertragung von Kompetenzen auf Gremien, die keiner Mehrheitsfindung bedürfen, riefen ein weit verbreitetes Gefühl hervor, kaum Einfluss auf politische Beschlüsse nehmen zu können."

Aus soziologischer Perspektive handelt es sich um eine gestörte Resonanz. Mit Harmut Rosa kann soziale Resonanz als Grundlage für das Welt- und Selbstverhältnis der Menschen gelten. Daher ist es wichtig, dass den Subjekten die Welt, also ihre Mitmenschen, die Gesellschaft und auch die Politik, als resonant begegnet. Damit ist gemeint, dass sich die Menschen verstanden, anerkannt und wertgeschätzt fühlen. Wenn dem so ist besteht eine große Chance, dass sie sich politisch nicht ab-, sondern zuwenden. Der US-amerikanische Psychologe und Pädagoge John Dewey hat bereits vor einem knappen Jahrhundert auf derartige Zusammenhänge hingewiesen.

Doch Dewey wusste auch: "The difficulties of democracy are the opportunities of education.“

Wer Demokratie, Partizipation und Empowerment im gesellschaftlichen Miteinander möchte, muss deswegen die Grundlagen dafür (auch) an den Schulen legen. Ohnmachtserfahrungen und verweigerte Partizipation hier wirken sich mindestens ebenso fatal aus wie Regierungsentscheidungen oder politische Krisen.

Politische Bildung an Schulen bietet spezifische Möglichkeiten, versammelt diese Institution doch regelmäßig und kontinuierlich soziale Gruppen, deren Aushandlungen verschiedenster Art mit dem individuellen Heranwachsen und der Persönlichkeitsbildung einhergehen.

Es sind aber auch einige Fallstricke zu beachten. Die Schule wird von jungen Menschen in der Regel nicht freiwillig besucht. Sie strukturiert durch Noten, Stundentafeln und zeitliche Taktung und produziert eine klare Hierarchie zwischen anweisenden Expertinnen und Experten mit Sanktionsgewalt und den lernenden Laien. Schon vor gut 200 Jahren wusste Immanuel Kant: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freyheit zu bedienen, vereinigen könne." Mit Blick auf die Leitfrage "Was können Schulen leisten, um die Demokratie von morgen zu stärken" stellt sich auch heutzutage die Frage: Wie kann die Spannung zwischen Erfahrungen in einer Zwangsinstitution, in der demokratische Praxis erheblichen Begrenzungen unterliegt, und dem Ziel der Erziehung zu emanzipierten Bürgerinnen und Bürgern pädagogisch bearbeitet werden? Schulische Beteiligungsmöglichkeiten wie der Klassenrat können zwar einen Erfahrungsraum demokratischer Praxis bereitstellen, ein Spill-Over-Effekt sollte hier jedoch nicht erwartet werden.

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Wie aber sollen gesellschaftliche Kontroversen, wie soll Polarisierung im Politikunterricht bearbeitet werden? Wie soll für die Demokratie geworben, aber Kritik und Schwierigkeiten, wie ich sie eben beispielhaft skizziert habe, ebenfalls angemessen thematisiert werden?

In der Fachdidaktik besteht Einigkeit, dass sich politische Bildung in Schulen nicht auf Institutionenkunde begrenzen darf. Strittig ist hingegen, inwieweit Schule zum Raum oder sogar Agenten gesellschaftlicher Transformation werden soll und darf. Dagegen wird mitunter mit einer Pflicht zur politischen Neutralität argumentiert, die eine staatliche Institution auszeichne.

Die Vorstellung von Schule als einem neutralen Ort ist aus meiner Sicht unrealistisch und gesellschaftspolitisch naiv. Anders als vielfach behauptet verpflichten die Leitlinien politischer Bildung an deutschen Schulen (wie auch in der außerschulischen Bildung) auch keineswegs dazu. Der in diesem Zusammenhang maßgebliche Beutelsbacher Konsens ist weder in seiner historischen Funktion noch in seiner Aktualität als Neutralitätsgebot zu verstehen.

Lassen sie mich die drei Beutelsbacher Leitprinzipien, auch wenn sie vielen von Ihnen sicherlich bekannt sind, an dieser Stelle betonen:

1. Das Überwältigungsverbot, nach dem Lehrende der Schülerschaft ihre politische Meinung nicht aufnötigen dürfen. 2. Das Kontroversitätsgebot: Lehrende müssen ein in Wissenschaft und/oder Politik kontroverses Thema auch im Unterricht kontrovers darstellen und diskutieren lassen. 3. Die Schülerorientierung: Lehrende sollen Lernende in die Lage versetzen, politische Interessenlagen zu erkennen und ihre Interessen zu vertreten.

Der meist übersehene dritte Satz fordert insofern auch, dass sich Schule an dem Interesse der Lernenden orientieren soll. Sie sollen ermächtigt werden, sich selbst im Politischen zu verorten und das eigene Potential zu reflektieren, politisch zu handeln sowie Fähigkeiten zu entwickeln selbst politisch aktiv zu werden.

Dazu gehört für mich auch, die oben beschriebene Begrenztheit demokratischer Praxis an Schulen als auch aus einem Machtgefälle resultierende Realität zu reflektieren, anstatt sie etwa mit "warmen Worten" oder scheindemokratischen Inszenierungen zu verschleiern. Kommen wir nun auf die Interdependenzen gesellschaftlicher und schulischer Zustände und auf "Polarisierung" zu sprechen, so steht unweigerlich der zweite Beutelsbacher Leitsatz im Fokus. Was bedeutet das Kontroversitätsgebot in einer Zeit und Gesellschaft, der es an Kontroversität nicht zu mangeln scheint?

In einem basalen Sinne der reflektierenden Darstellungen virulenter Konflikte im Unterricht und einer Vermittlung multiperspektivischer Fähigkeiten bei deren Analyse erscheint die Aufgabe evident.

Darüber hinaus kann es kaum allgemeine Lösungen oder pauschale Aussagen darüber geben, was Schule gegenüber gesellschaftlicher Polarisierung leisten kann oder muss. Denn wenn wir über das Handlungsfeld Schule sprechen, müssen wir uns vergewissern, dass wir es mit vielen sehr unterschiedlichen Institutionen zu tun haben. Die Schulform und vor allem der Sozialraum einer Schule spielen eine entscheidende Rolle für individuelle Bedarfe und Herangehensweisen.

Häufig übersehen werden dabei die beruflichen Schulen, obwohl sie doch mit ihrer direkten Orientierung an der Arbeitswelt und etwa auch wirtschaftspolitischen Entwicklungen eine große Nähe zu den eben skizzierten Konflikten der Transformationsgesellschaft aufweisen.

Doch gerade bei der politischen Bildung an beruflichen Schulen ist die allgemein zu beklagende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders eklatant. Wie das 4. Ranking zur Politischen Bildung in der Sekundarstufe I und in der Berufsschule gerade nochmals herausgestellt hat, handelt es sich bei der Berufsschule um eine in ihrer Größe und zahlenmäßigen Relevanz überraschend vernachlässigte Institution.

Mit 2,4 Millionen Lernenden waren im Schuljahr 2019/20 knapp zweieinhalb Mal so viele Schülerinnen und Schüler an beruflichen Schulen wie im allgemeinbildenden Sekundarbereich II. Die Berufsschule wird zudem von eineinhalb Mal so vielen Schülerinnen und Schülern besucht wie das das allgemeinbildende Gymnasium.

Die Politikdidaktikerin Anja Besand von der TU Dresden diagnostizierte bereits vor einigen Jahren: „Berufliche Schulen sollen die Integration Zugewanderter in Arbeitsmarkt und Gesellschaft unterstützen. An beruflichen Schulen ist der Unterschied im Alter und Vorbildung unter den Lernenden größer als in allen anderen Schulformen. Auch politische Spaltungstendenzen in der Gesellschaft finden in beruflichen Schulen ihren Widerhall. All das legt es nahe, dass politische Bildung an beruflichen Schulen eine große Bedeutung hat. Doch Politische Bildung an beruflichen Schulen gilt als ein vernachlässigter Bildungsbereich, wenig beachtet in der Profession der politischen Bildung selbst, aber auch randständig platziert im System der Berufsbildung."

Besands empirisch unterfütterte Problemdiagnosen, aber auch die Entwicklungsperspektiven beruflicher bzw. berufsschulischer Bildung sind zuletzt im aktuellen Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung bestätigt worden.

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Polarisierung an Schulen nimmt je nach Schulform und Sozialraum unterschiedliche Formen an. So spielt etwa der Israel-Palästina-Konflikt auf manchen deutschen Schulhöfen der Gegenwart eine wichtige Rolle.

Ein Aufflammen des latenten Konfliktes im Nahen Osten hat stets auch Auswirkungen auf die mitteleuropäische Migrationsgesellschaft. Das zeigen die pro-palästinensischen Demonstrationen in zahlreichen deutschen Großstädten während der letzten größeren militärischen Auseinandersetzungen im Zuge des Konflikts im Sommer 2014 oder erst jüngst im Mai 2021, die nicht selten von antisemitischen Stereotypen geprägt waren.

Lehrkräfte sehen sich dann kurzfristig mit der Bearbeitung einer komplexen historischen und regionalen Gemengelage konfrontiert, die sie selbst nicht immer vollständig überblicken. Mitunter geraten sie dann in eine schwierige Lage insbesondere gegenüber "ideologisch geschulten Stimmen" aus der Schülerschaft – die etwa familiär oder aus ihrer Community ein breites, wenn auch tendenziös vergiftetes und ressentimentgeladenes Wissen mitbringen.

Gelingt eine angemessene Thematisierung nicht, kann der israelisch-palästinensische Konflikt als Einfallstor für Antisemitismus an deutschen Schulen fungieren und zur Radikalisierung von Schülerinnen und Schülern beitragen. Hier bedarf es nachhaltiger Konzepte einer gleichermaßen außenpolitisch und regionalhistorisch informierenden als auch einer antisemitismuskritischen politischen Bildung.

Dies gilt umso mehr, als verschiedene aktuelle Studien die massive Verbreitung von Antisemitismus an deutschen Schulen dokumentieren – und zwar sowohl bei nahöstlicher Herkunft und/oder muslimisch geprägter Schülerschaft als auch unabhängig davon. Israelbezogener Antisemitismus, sekundärer Schuldabwehr-Antisemitismus und mit Stereotypen spielende Verschwörungsideologien bilden hier eine gefährliche Melange und stehen in engem Zusammenhang mit der beschriebenen gesellschaftlichen Polarisierung.

Ein wichtiger Aspekt dieser Polarisierung sind weiterhin menschen- und demokratiefeindliche Einstellungen verschiedenster Provenienz.

Die bpb verfolgt in diesem Themenfeld seit vergangenem Jahr ein Kooperationsprojekt, das den Titel „Starke Lehrer – starke Schüler“ trägt. Gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung setzen wir ein Modellprojekt fort, das in Sachsen unter Leitung der TU Dresden erprobt wurde. Es fokussiert auf die Qualifizierung von Lehrkräften zur Förderung einer bewussten Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und antidemokratischen Einstellungen.

Ziel des Projekts ist eine dreijährige Begleitung von Lehrerinnen und Lehrern durch gemeinsame Planung, Durchführung und Reflexion von Handlungs- und Reaktionsstrategien am Beispiel der eigenen Schule, der eigenen Klassen und des eigenen Fachunterrichts. Evaluationen zeigen, dass sich bei den teilnehmenden Lehrkräften über den Projektverlauf eine deutliche Zunahme ihrer Selbstwirksamkeit einstellte. Sie fühlten sich fortan kompetenter im Umgang mit Rechtsextremismus.

Dieser Befund ist insofern von Bedeutung, als Selbstwirksamkeitserwartungen eine wichtige Voraussetzung für das professionelle Handeln von Lehrkräften darstellen. Sie fördern die Erweiterung persönlicher Handlungsstrategien und unterstützen einen reflektierten Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die Affinitäten zu antidemokratischen Denkweisen zeigen.

Jedoch zeigte sich im Projekt auch, dass ausgrenzende Äußerungen und diskriminierende Handlungen von Jugendlichen oftmals als gesellschaftliche Normalität wahrgenommen und als nicht weiter problematisierungsbedürftig betrachtet werden. Entsprechende Interventionsformen werden von vielen Lehrkräften als riskant wahrgenommen – man mache sich angreifbar und laufe Gefahr, in der Auseinandersetzung mit rechtsaffinen Schülern zu unterliegen, heißt es häufig.

Auch bei derartigen Hemmungen spielt die vermeintliche Neutralitätsverpflichtung eine Rolle. So berichtete Anja Besand bereits in den Anfängen der "Pegida"-Bewegung, dass Dresdener Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit dieser Herausforderung von einer aus dem Beutelsbacher Konsens resultierenden „Notwendigkeit, sich in der Sache neutral zu verhalten“ ausgingen.

In der Folge eines derartigen (Miss-)Verständnisses politischer Bildung können sich verfassungswidrige und menschenverachtende Inhalte unter dem Etikett der Neutralität gleichberechtigt neben „andere politische Meinungen“ stellen – und sich lauthals beschweren, wenn ihnen ein vermeintlicher Neutralitätsbruch etwa durch kritische Kommentierung seitens der Lehrkräfte „angetan“ wird.

Was ein derartiger didaktischer Ansatz in der Konsequenz bedeuten würde, hat der Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher einmal pointiert formuliert: „Meinungen konkurrieren dann liberal wie Waren und überzeugen je nach Performanz und Verpackung“.

Demgegenüber müssen wir immer betonen: Normative Grundsätze liberaler Demokratien – wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit und eine freiheitlich-demokratische Grundordnung – müssen zwar erklärt und begründet, der Diskurs offen gestaltet werden. Trotzdem sind sie auch nach den Beutelsbacher Prinzipien unverhandelbar, ja demokratische politische Bildung basiert geradezu auf diesen Werten.

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Allerdings darf es polnische Bildung, gerade wenn sie zur Demokratieförderung beitragen soll, nicht bei der normativen Einforderung derartiger Werte belassen. Interessenorientierung gemäß dem dritten Beutelsbacher Satz bedeutet immer auch: Aufzeigen von realen Partizipations- und Teilhabemöglichkeiten. Wir als Institution, die Lehrerinnen und Lehrern in Deutschland Bildungsmaterialien zur Verfügung stellt, denken daher stetig und intensiv darüber nach, wie wir eben diese Materialien partizipativer und inklusiver gestalten können.

Eine Möglichkeit sind beispielsweise Freie Bildungsmaterialien unter offener Lizenz (so genannte Open Educational Resources). Durch ihre Veränderbarkeit sind OER gut geeignet, die Vielfalt von Schülerinnen und Schülern zu berücksichtigen und auch Lehrenden die Möglichkeit zu geben, sie an deren Bedürfnisse anzupassen. Eine regelmäßige Aktualisierung und Adaption bestehender Materialien kann gerade in einem Umfeld mit einer heterogenen Schülerschaft besonders zielführend sein.

Über Onlinekanäle wie die Plattform „werkstatt.bpb.de – Bildung im digitalen Wandel“ setzen wir uns auf vielen Ebenen für das Thema OER ein und geben einen Überblick, aber auch konkrete Tipps für andere innovative digitale Bildungsformate und -materialien. Parallel werden auf bpb.de sukzessive immer mehr Unterrichtsmaterialien unter freien Lizenzen veröffentlicht.

Aktuelles Beispiel sind die neuen „Themenblätter im Unterricht“, die seit dem letzten Jahr in verschiedenen Nutzungsvarianten angeboten werden – so auch als lizenzoffene ODT-Dateien mit veränderbaren Arbeitsblättern. Auch die didaktischen Materialien zum Wahl-O-Mat stehen unter einer freien Lizenz.

So können Bildungsmaterialien von der Theorie letztlich in die schulische, aber auch außerschulische Praxis der politischen und historischen Bildung überführt, dort multipliziert und gemeinsam weiterentwickelt werden.

Nicht nur zur Nutzung dieser in der Regel online angebotenen Materialien ist es zudem essentiell, digitale Ungleichheiten zu reduzieren – in der schulischen und gesellschaftlichen Realität der 2020er Jahre ist Digitalkompetenz vielmehr conditio sine qua non von Teilhabe.

Die Diskussionen in der Öffentlichkeit darüber waren, gerade zu Beginn der Coronapandemie und des Distanzlernens, stark auf materielle Aspekte fokussiert – erste Initiativen dementsprechend vor allem auf die materielle Ausstattung mit digitaler Infrastruktur ausgerichtet.

Deutlich größere soziale Ungleichheit besteht allerdings bei den digitalen Kompetenzen. Diese haben sich schon vor den Schulschließungen im Zuge der Pandemie zwischen benachteiligten und privilegierten Schülerinnen und Schülern stark unterschieden. Zudem zeigte sich: Schulen, die bisher schon viel in die Bereiche digitale Kompetenzen und metakognitive Strategien investiert haben, sind häufig auch besser durch die Phase des Fernlernens gekommen.

Neben dem weiterhin wichtigen Zugang zu digitaler Infrastruktur für alle sollte daher ein Fokus auf der Aufgabe liegen, deren selbstbestimmte und ermächtigende Nutzung herkunftsunabhängig sicherzustellen.

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Meine Damen und Herren,

die von mir heute vorgetragenen Befunde reflektieren gesamtgesellschaftliche Prozesse, die inhaltlich voraussetzungsvoll und zeitlich langfristig wirksam sind. Polarisierung in (lautstarken) Teilen der politischen Debatte ist einerseits Symptom dieser Transformationen, anderseits kann sie aufgrund ihrer inhärenten Tendenz zur self fulfilling prophecy deren Richtung in antiaufklärerischer und illiberaler Richtung beeinflussen.

Mehrere Schlüssel zur Versachlichung und Deeskalation stehen Politik und Gesellschaft zur Verfügung. Sie heißen unter anderem: (Macht-)kritische und transparente Aufarbeitung politischer Prozesse und Entscheidungen, Gestaltungsanspruch politischer Mehrheiten gegenüber Alternativlosigkeits-Rhetorik und Empowerment sämtlicher gesellschaftlicher Subjekte.

Diese Gemengelage stellt politische Bildung sicherlich vor immense Herausforderungen. Aber sie bietet beiden ebenfalls große Chancen, insbesondere auch an Schulen. Hier werden erste Erfahrungen gemacht und Eindrücke gesammelt, die sich tief ins (Unter-)Bewusstsein einschreiben können.

Lehrkräfte dürfen nicht alleine gelassen werden bei ihrer Aufgabe, Schulen (respektive außerschulische Bildungsformate) zu demokratischen Lernorten zu entwickeln. Hierbei gilt es Erkenntnisse über Ursachen gesellschaftlicher Polarisierungen – tatsächlicher wie vermeintlicher – zu berücksichtigen. Das bedeutet für mich: Darstellung der Motive und Vorgehensweisen polarisierender Akteure; Offenlegung und kritische Reflektion von Machtgefällen und auch von Demokratiedefiziten und Ohnmachtssituationen in Politik, Gesellschaft – und auch in der Schule.

Genauso wichtig ist die respektvolle Austragung (an sich völlig legitimerer) Kontroversen in Gesellschaft wie Klassenzimmer sowie der individuelle Raum für Selbstbestimmtheit und für Selbstwirksamkeit. Politische Selbstwirksamkeit bedarf dabei Empowerment, Partizipation und Teilhabe. Auch das gilt für Politik, Gesellschaft und Schule.

Gelingen diese beiden Ansätze kann der Politikunterricht im Speziellen und der Sozialraum Schule im Allgemeinen eben jene integrierende oder zumindest moderierende Institution sein, deren Fehlen ich eingangs beklagt habe. Ihre Aufgabe ist dann nicht weniger als ein „Diskurs der Freien und Gleichen“.

Es versteht sich schon aufgrund der Größe dieser Herausforderung, dass wir alle gefordert sind, das Lehrpersonal „an der Front“ hierbei zu unterstützen. Dafür wünsche ich Ihnen und uns in unseren jeweiligen Rollen gutes Gelingen!

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

– Es gilt das gesprochene Wort –

Fussnoten

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