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Rede von Thomas Krüger zur Pressekonferenz "Datenreport 2008: Der Sozialbericht für Deutschland" | Presse | bpb.de

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Rede von Thomas Krüger zur Pressekonferenz "Datenreport 2008: Der Sozialbericht für Deutschland"

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Seit bald 25 Jahren liefert die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Datenreport wichtige Informationen zur politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland.

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit bald 25 Jahren liefert die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Datenreport wichtige Informationen zur politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland. Wie Sie beim Durchblättern der diesjährigen, der 12. Auflage, bereits bemerkt haben werden, erscheint der "Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland" in einem neuen, größeren Format und einem anderen Layout als noch die Ausgabe von 2006. Zudem hat der "Datenreport 2008" eine andere Struktur: Die bisherige strikte Zweiteilung in amtliche Statistiken auf der einen Seite, ermittelt vom Statistischen Bundesamt (Destatis), und auf der anderen Seite die wissenschaftliche Sozialberichterstattung der Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen (GESIS) und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) wurde aufgehoben. Stattdessen finden Sie innerhalb der insgesamt 16 nach unterschiedlichen Themen geordneten Kapitel, beginnend beim Thema "Bevölkerung" und endend mit "Deutschland in Europa", die entsprechenden Zahlen und Daten und ihre sozialwissenschaftliche Einordnung nebeneinander (farblich unterschieden: blau – Statistisches Bundesamt, gelb – GESIS und WZB). Dies erleichtert den Leserinnen und Lesern den Zugang und erhöht den Gebrauchswert für die Wissenschaft und die politische Bildung.

Der Datenreport hat seit 1985 im Repertoire der Bundeszentrale für politische Bildung einen besonderen Stellenwert, wird mit diesem den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Funktions- und Entscheidungsträgern in der Gesellschaft doch eine wichtige Orientierungs- und Argumentationshilfe gegeben. Der Datenreport liefert den Leserinnen und Lesern einen Überblick über die aktuelle wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Situation in Deutschland, auf dessen Grundlage sich fundiert Meinungen bilden lassen. Lassen Sie mich einige Bemerkungen aus Sicht der politischen Bildung machen. Politische Bildung passiert ja nicht im luftleeren Raum sondern kontextbezogen.

Die vergangenen Wochen wurden bestimmt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise und das wird auch das kommende Jahr mit seiner Vielzahl von Wahlen, darunter die Bundestagswahl im September, prägen. Ein zentrales Thema des Wahlkampfes wird wohl wie in den USA die soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftsordnung werden und damit verbunden der soziale Umbau der Gesellschaft. Auch zu diesen Themen finden sie wichtige Hinweise im Datenreport 2008. Dazu passt ein interessanter Datenbefund. Gestern überraschte der Dietz Verlag die Öffentlichkeit mit einer Konjunktur. Der Verlag wird das Buch "Das Kapital" von Karl Marx nachdrucken.

Der Sozialismus ist auch fast 20 Jahre nach dem Fall der Mauer für viele Bürgerinnen und Bürger insbesondere in Ostdeutschland noch positiv konnotiert. 74 % der Ostdeutschen (und 47 % der Westdeutschen) waren 2006 der Meinung, der Sozialismus sei eine "gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde". Diese Einstellung reicht bis weit in die Mitte des politischen Spektrums hinein und sogar darüber hinaus: 75 % der Menschen in Ostdeutschland (49 % der Westdeutschen), die sich politisch der Mitte zuordnen, sind dieser Auffassung.

Nach jüngsten Zahlen gibt es erhebliche Differenzen zwischen Ost und West, insbesondere was die Erwartungen an die Politik und ihre wirtschaftspolitische Handlungskompetenz angeht. Während für 55 % der Ostdeutschen die Verringerung der Arbeitslosigkeit "viel mit der Demokratie zu tun hat", sehen in Westdeutschland nur 39 % einen direkten Zusammenhang (Stand 2000). Allerdings ist zu vermuten, dass in Folge der Finanzkrise auch weite Teile der Bevölkerung in Westdeutschland ein stärkeres Eingreifen des Staates in die Wirtschaft befürworten. Derzeit ist trotz der gegenläufigen Besetzung der wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle eine Renaissance keynesianischer Ideen zu beobachten. Angesichts der ökonomischen Lage wünscht sich z.B. inzwischen selbst der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eine aktivere Rolle des Staates. Sozialistische Planwirtschaft und soziale Marktwirtschaft sind freilich nicht dasselbe.

Hier stellt sich deshalb die Frage, ob es sich nur um die Fortsetzung der Grundgedanken des jeweiligen politischen Systems handelt, in dem viele der Befragten aufgewachsen sind oder ob es mit den persönlichen Erfahrungen zusammenhängt, die sie in den vergangenen Jahren gemacht haben und wie sich beides mental verknüpft.

Die Schere zwischen Arm und Reich scheint in unserem Land weiter aufzugehen. Insbesondere bezüglich der Einkommensverteilung sind weiterhin erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West festzustellen – und sie wachsen. So lebten 2006 in Ostdeutschland 22,7 % in Armut, 2001 lag die Armutsquote dort noch bei 15,3 %. In Gesamtdeutschland ist in diesem Zeitraum die Armutsquote ebenfalls angestiegen, aber verglichen mit dem Osten in sehr viel geringerem Maße, von 11,4 % auf 13,9 %. Besonders betroffen von Armut sind, und da spreche ich auch als ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, Kinder und Jugendliche: 30,2 % der Kinder (bis 10 Jahre) und 33,6 % der Jugendlichen (11-20 Jahre) in Ostdeutschland leben in Armut, etwa doppelt so viele wie in Westdeutschland. Das Armutsrisiko wächst mit dem Alter der Kinder und Jugendlichen.

Zudem hat sich in den vergangenen Jahren bundesweit das Risiko deutlich erhöht, in der untersten Einkommensklasse zu verbleiben. Insbesondere für Personen ohne Bildungsabschluss bzw. mit geringer Bildung hat sich das 2001 bereits überproportionale Armutsrisiko noch weiter erhöht.

Hier wirken, das waren auch die Ergebnisse der PISA-Studie, Bildung und Ausbildung als Zugangssperren. Besonders betroffen sind die in Deutschland lebenden Migranten und ihre Nachkommen.

2006 lebten in Deutschland 15,1 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, die entweder selbst zugewandert oder in Migrantenfamilien aufgewachsen sind, d.h. 18,4 % der Bevölkerung haben einen (in)direkten Migrationshintergrund. Vergleicht man das Bildungsniveau von Deutschen mit dem von Nachkommen von Migranten, zeigen sich große Unterschiede. So verfügen 2006 die Nachkommen der türkischen Migranten (63 %) fast dreimal so oft wie Einheimische der gleichen Altersgruppe (23 %) über einen Hauptschulabschluss. Bei der Betrachtung der Nachkommen von Migranten insgesamt liegt der Anteil mit Hauptschulabschluss 2006 bei 46 % (Abitur 22 %). Hier möchte ich Sie auf die am 1. Dezember 2008 erscheinende Ausgabe von "Aus Politik und Zeitgeschichte" zu "Bildung und Chancen" verweisen, in der u.a. auf die Benachteiligung von Migrantenkindern im deutschen Bildungssystem eingegangen wird. Nicht zuletzt solche Zahlen veranlassen die Bundeszentrale für politische Bildung dazu, im Bereich der "Politikfernen Zielgruppen" verstärkt tätig zu werden und neue Formate für Menschen mit Migrationshintergrund zu entwickeln.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen: Wie stehen Menschen mit dieser Erfahrung zu diesem politischen System und was heißt das für die politische Bildung?

Bei keiner Bundestagswahl zuvor war die Wahlbeteiligung mit 77,1 % so gering wie 2005. Insbesondere die Jung- und Erstwähler verweigerten sich der Stimmabgabe. So lag die Wahlbeteiligung derjenigen unter 21 Jahren bei 70 %, die der 21-24-Jährigen bei 66,5 %. Zugleich haben die Parteien einen erheblichen Mitgliederschwund zu verzeichnen. 2006 waren 1,4 Mio. Deutsche Mitglieder einer Partei, 1990 betrug die Mitgliederzahl noch 2,3 Mio. Insgesamt hat seither die Mitgliederzahl der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien um etwa ein Drittel abgenommen.

Diese "Mitgliederkrise" beschränkt sich allerdings nicht auf die Parteien oder die Gewerkschaften. Auch die Freizeitorganisationen sind davon betroffen: Waren beispielsweise 2002 noch 32 % der deutschen Bevölkerung in einem Sportverein, sank dieser Anteil 2006 auf 26 %.

Entgegen dem Trend bei der politischen Beteiligung im Rahmen von Parteien, Gewerkschaften etc. wirken immer mehr Menschen an alternativen, nichtinstitutionalisierten Formen der politischen Willensbekundung mit. So stieg der Anteil der Ostdeutschen, die sich an Demonstrationen beteiligten seit 1998 von etwa 21 % auf rund 34 % im Jahr 2004 (Westdeutschland 1998: 18 %, 2004: 26 %). Hier sind es vor allem die Jüngeren, die an dieser unkonventionellen Art der politischen Beteiligung mitwirken.

Die große Mehrzahl der Deutschen in Ost und West halten die Demokratie immer noch für "die beste Staatsform". 2005 waren in Westdeutschland 85 % der Bevölkerung dieser Auffassung, gegenüber 64 % in Ostdeutschland.

Bei der Bewertung des Funktionierens der Demokratie in Deutschland zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West. 2006 waren im Westen 61 % mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden; demgegenüber stehen 33 % im Osten.

Im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten liegt Gesamtdeutschland mit 55 % Zufriedenheit im Mittelfeld, deutlich hinter Dänemark (94 %), Luxemburg (86 %), aber vor Frankreich (47 %). Betrachtet man allerdings die Zufriedenheit in Ostdeutschland, weisen nur fünf Länder einen geringeren Wert auf.

Zusammenfassend heißt das für die politische Bildung: präzise, zielgruppenspezifische Bildungsangebote schaffen, aktivierendes Lernen und milieunahe Multiplikatoren/innen fördern sowie integrierte Lernmodelle einsetzen.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten