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Eröffnungsrede von Thomas Krüger zum Kongress EUDEC am 31. Juli 2008 in Leipzig | Presse | bpb.de

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Eröffnungsrede von Thomas Krüger zum Kongress EUDEC am 31. Juli 2008 in Leipzig

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Die Basis unseres Bildungssystems wird und soll die öffentliche Schule sein und bleiben. Gesellschaftliche Anstrengungen zur Reform der Bildung müssen deshalb auch die öffentliche Schule im Fokus behalten.

Guten Morgen, meine Damen und Herren, verehrte Gäste.

Einen besonderen Gruß richte ich an die Gäste und Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die aus anderen Ländern Europas und aus Asien und Amerika hierher nach Leipzig gekommen sind. Ich begrüße sie sehr herzlich zum Beginn des öffentlichen Teils ihres Kongresses, der European Democratic Education Conference 2008. Natürlich gilt mein Gruß auch den Veranstaltern des Kongresses, der Freien Schule Leipzig, dem Gastgeber, der Universität Leipzig, und natürlich den unterstützenden Partnern.

Die Bundeszentrale für politische Bildung, deren Mission Statement lautet: Demokratie stärken, Zivilgesellschaft fördern, unterstützt nun im Jahr 2008 zum zweiten Mal eine internationale Veranstaltung der Alternativschulen oder besser: der Bewegung der demokratischen Schulen, diese Europäische Konferenz, die gleichwohl durch die Teilnehmenden aus Asien, Amerika und Israel eine deutlich internationale Ausrichtung hat. Das erste Mal waren wir Partner der demokratischen Schulen bei der IDEC, der 13. Internationalen Konferenz im Jahr 2005 in Berlin. Von dieser Konferenz ging auch, wenn ich mich richtig erinnere, ein wichtiger Impuls für die Gründung der Freien Schule Leipzig, des Veranstalters und Organisators dieser Konferenz aus.

Umso erfreulicher ist, dass die Freie Schule Leipzig heute als sogenannte "Ersatzschule" für Schüler und Schülerinnen der 1. bis 10. Klassen genehmigt ist und sich einiges Renommee erworben hat. Sie ist als offizielles Projekt der UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung anerkannt, ist ausgezeichnet worden bei einem Mathematik-Wettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und kann sich auch mit Stolz "Schule der Toleranz" nennen. Aber, meine Damen und Herren, es geht ja nicht darum, Auszeichnungen einzuheimsen, wenngleich das durchaus wichtig sein kann für das eigentliche Ziel, nämlich demokratische Strukturen und demokratisches Miteinander auch in Schule und Bildung zum grundlegenden Prinzip von Interaktion, Organisation, Didaktik und Lernen zu machen. Wie sieht es denn damit aus, haben sich in den vergangenen Jahren in Deutschland Entwicklungen ergeben in Richtung von mehr Demokratie wagen in Schule und Bildung? Bevor ich Anmerkungen dazu mache, muss ich um der Exaktheit Willen eine Definition, meine Definition erläutern, was mit Demokratisierung der Schule gemeint sein kann. Und damit auf einen Konflikt zu sprechen kommen, der unausgestanden ist, der alle Diskussionen um Schulreform seit Jahrzehnten begleitet. Worin besteht der Konflikt?

Da sind zum einen jene, und dazu gehört wohl die überwiegende Zahl der hier Anwesenden, deren Ziel eine "Demokratische Schule" ist. Wir sollten den Begriff Demokratische Schule durchaus ernst nehmen und nicht entschärfen nach dem Motto, na ja, für Demokratie in der Schule sind wir ja alle. Nein, demokratische Schulen sind Schulen sui generis, besondere Schulen, freie Schulen, nur begrenzt und wohl auch nur zwangsweise der staatlichen Schulaufsicht unterstellt. Und es sind Schulen, in denen das Prinzip Freiwilligkeit intern und letztlich auch was die Teilnahme anbetrifft, vorrangige Gültigkeit hat. Es ist so gesehen auch ein politisches, zumindest bildungspolitisches Schulprinzip, das damit vertreten wird. Darauf bin ich – durchaus kompromisslos – durch eine Mail von einem Teilnehmer dieser Konferenz aufmerksam gemacht worden, die mich in den letzten Tagen erreicht hat. Was, so lautete sinngemäß die Frage an mich als Präsident der bpb, gedenke die bpb zu tun gegen den furchtbaren ("horrendous") Zwang zur Schule gehen zu müssen, der in der BRD ausgeübt werde. Menschen, die ihre Kinder nicht in die Schule geben wollten, müssten aus dem Land fliehen, andere würden ins Gefängnis geworfen, nie könne es unter diesen Umständen eine sinnvolles Gespräch über Demokratie und Erziehung in Deutschland geben. Das Thema lautet natürlich: Schulpflicht und das Zwangssystem öffentliche Schule!

Nun, meine Damen und Herren, ich könnte darüber hinweg gehen und diese Mail als eine besonders unfreundliche radikale Stimme abtun. Gleichwohl weiß ich, dass sich zumindest ein Teil der Verfechter demokratischer Schulen per Definition in Gegnerschaft zum staatlichen Schulsystem und der allgemeinen Schulpflicht befinden. Aber ich möchte hier deutlich machen, dass ich diese Position weder als Person noch als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, immerhin eine Institution der staatlichen politischen Bildung, vertreten kann und will. Für mich gilt, dass ein großes und leider noch nicht erreichtes Ziel die "Demokratisierung von Schule und Lernen" ist. Auf der Basis eines – im übrigen hart errungenen – allgemeinen Rechts auf schulische Bildung und auch einer allgemeinen Schulpflicht. Und wenn ich von Demokratisierung der Schule spreche, meine ich eine Demokratisierung des Lernens oder der "Lernwelt", von Inhalten, Strukturen, der Zusammenarbeit von Lehrern, Kinder, Eltern – hier insbesondere und gerade auch in der öffentlichen Schule. Denn hier liegt die große gesellschaftliche Aufgabe, die es zu erfüllen gilt.

Damit, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, will ich nicht zurück fallen hinter Entwicklungen der vergangenen Jahre, in denen sich der Beginn einer Vielfalt auch im schulischen Bereich zeigt. Wir brauchen dieses Vielfalt, wir brauchen Freie Schulen mit innovativen, meinetwegen auch radikalen neuen Lernkonzepten, wir brauchen andere private Schulformen, unsere Gesellschaft muss leben lernen mit Schulen verschiedenster Ausrichtung und unterschiedlicher pädagogischer und didaktischer Konzepte. Wir brauchen nicht die umfassende Bewahrung des gesetzlich geschützten absoluten Monopols der öffentlichen Staatsschule. Aber natürlich kann es auch nicht so sein, dass es eine Flucht von bestimmten Schichten aus dem Bereich der öffentlichen Schule in nicht selten teure, privilegierte klassische und ausschließende Privatschulinseln gibt. Experten warnen meines Erachtens zu Recht davor, dass damit der gesellschaftliche Zusammenhalt, der ja schon bedroht ist durch die immer weiter auseinanderklaffende Einkommensschere, noch mehr bedroht ist, und die Entsolidarisierung fortschreitet. Immerhin gab es bei den privaten Grundschulen in den vergangenen zehn Jahren einen Anstieg von mehr als 100 Prozent.

Die Basis unseres Bildungssystems wird und soll die öffentliche Schule sein und bleiben. Gesellschaftliche Anstrengungen zur Reform der Bildung müssen deshalb auch die öffentliche Schule im Fokus behalten. Eine solche Reform aber muss die gesamten Schulverhältnisse umfassen. Das ist, seit die durchaus umstrittenen Pisa-Studien dem deutschen Schulwesen und insbesondere der deutschen Schulkultur regelmäßig schlechte Noten ausstellt, bis in den politischen Raum hinein zur Erkenntnis geronnen. Schulen müssen mehr Autonomie erhalten, ihre je individuelle Schul- und Lernkultur zu gestalten – bis hin dazu, dass Schulen Personal- und Budgetverantwortung erhalten. Die Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler über Angelegenheiten der Schule und des Lernens müssen substantiell verbessert werden – zwischen Schulleitungen, Kollegium und den Schülerinnen und Schüler braucht es so etwas wie einen neuen "Gesellschaftsvertrag", der die Rechte der Schülerschaft stärkt, Partizipation realisiert. Die "Lehrenden", die Lehrerinnen und Lehrer, müssen einen Rollenwechsel vollziehen – und entsprechend müssen sie ausgebildet werden – zu Inspiratoren und Förderern des Lernens der ihnen anvertrauten jungen Menschen. Und klar ist auch längst, dass sich damit die dominierende Strukturierung des Schulalltags in Stunden und Stundenpläne, Fachunterricht und Wissensprüfungen nicht verträgt und ebenfalls gründlich umgewälzt werden müsste. Die Lehrpläne müssen ihren quasi "hoheitlichen" Status verlieren, denn der Wert von Wissen und Erfahrung verfällt immer schneller, Komplexität und Kompliziertheit nehmen zu. Statt in Lehrplänen und Lehrinhalten als Kanon zu denken, muss Kompetenz definiert werden als Konglomerat aus Wissen, Können, Einstellungen, Fähigkeiten, als ein offenes intellektuelles und soziales Vermögen, auf künftige Anforderungen intelligent reagieren. Und das die jahrzehntelange bundesrepublikanische Praxis der frühzeitigen formalen Leistungsbewertung, der Segregation, der Feststellung von Defiziten und der darauf folgenden lebensgeschichtlich meist dauerhaften Ausgrenzung aus Bildung und damit auch die Zuweisung von Entwicklungs- und Lebenschancen ungerecht, unproduktiv, undemokratisch und gesellschaftlich schädlich ist, wissen wir spätestens seit uns die PISA-Studien die entsprechenden negativen Folgen regelmäßig um die Ohren hauen. Und, das muss immer wieder erwähnt werden: Wir müssen Bildung mit mehr Mitteln ausstatten. Stattdessen bleibt – leider – zu konstatieren, dass der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt in den vergangenen Jahren gesunken statt gestiegen ist (von 6,9% 1995 auf 6,2% im Jahr 2006).

Ich will nicht behaupten, dass es in den vergangenen Jahren in Deutschland keinerlei Entwicklung gegeben hat. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Stärkung demokratischer Einstellungen spiegelt sich auf europäischer Ebene diese Überzeugung im so genannten Weißbuchprozess, in dem Jugendliche in Europa ihre Forderungen an die europäische Jugendpolitik gestellt haben, wider. Oder in der europäischen Forderung, eine stärkere Einbeziehung der Jugendlichen in das System der repräsentativen Demokratie und verschiedene Formen des Erwerbs von Partizipationskompetenz zu ermöglichen. Es gab das "Europäische Jahr der Demokratieerziehung" des Europarats, das die aktive Teilhabe der Jugendlichen als Angelpunkt wirksamer Demokratie förderte. Und es gibt die inzwischen wohl allgemein anerkannte, gleichwohl insbesondere in Deutschland noch nicht umgesetzte Erkenntnis, dass die beste demokratische nachhaltige Bildung durch die Teilhabe der Schülerinnen und Schüler an demokratisierten Lernprozessen erfolgt.

Einiges wurde aber auch bei uns begonnen. Es gibt die ersten Schritte hin zu einer wachsenden Schulautonomie – Stichwort "selbstständige Schule" – und zu einer Öffnung von Schule. Alternative Lehr- und Lernstrukturen wie die Auflockerung des Stundenrasters und der Stundentafel, fächer- oder stufenübergreifender Unterricht, offene Angebote und Wahlangebote, Projektunterricht, individuelle Lernpläne, altersgemischte Gruppen, Binnendifferenzierung, selbstor-ganisiertes Lernen, Schülerklubs oder Schülerfirmen, Peer Education oder Service Learning werden von engagierten Kollegien praktiziert. Aber zu einem grundlegenden Wandel der Schulkultur, des Lernens und des Lehrer-Schüler-Verhältnisses hat das noch nicht geführt.

Demokratische und alternativen Schulen sollten sich um ihre Existenzberechtigung aber nicht nur deshalb keine Sorgen machen, weil sie in Konsequenz und manchmal auch Radikalität vorleben, was in der öffentlichen Schule noch erkämpft und durchgesetzt werden muss. Die Vielfalt der Bildungsmöglichkeiten und Bildungschancen, die wir für alle Kinder und jungen Menschen organisieren müssen, heißt in der Konsequenz natürlich auch, dass wir eine Vielfalt bei den schulischen Angeboten zulassen müssen und brauchen: demokratische Schulen, Schulen in kirchlichen oder anderen privaten Trägerschaften. Sie sind keine Antithese zur öffentlichen Schule, keine "Schullabors", in denen ausprobiert wird, Innovationen getestet werden für die öffentliche Schule, sie dürfen nicht länger als private "Ersatzschulen" definiert werden. Es sind normale Schulen, denen die Gründung leicht gemacht werden sollte, wenn in einer Kommune z.B. Eltern, Kinder und Lehrer sich auf eine solche Schule einigen wollen. Und als "normalisiertes" Schulangebot sind sie mit ihrer Innovationskraft, ihrer Flexibilität und Experimentierfreudigkeit eine Herausforderung der öffentlichen Schule. Sie, die öffentliche Schule, das öffentliche Schulwesen muss diese Herausforderung annehmen und von Innovationen lernen.

Wie ich dem mir bekannten Programm dieses Kongresses entnehme, werden hier viele Fragen und viele Lösungen diskutiert und werden Erfahrungen vorgestellt, die die Reform der öffentlichen Schule fördern und bereichern wird. Deshalb, liebe Teilnehmende und Gäste, geht Beides: Ein Plädoyer für die öffentliche Schule halten und die Gründung von alternativen demokratischen Schulen unterstützen. Das habe ich gern getan, hier heute als Eröffnungsredner und auch durch die Förderung dieses Kongresses durch meine Institution, die Bundeszentrale für politische Bildung. Ich bedanke mich und wünsche ihnen für diesen europäischen Kongress alles Gute und viel Erfolg.


− Es gilt das gesprochene Wort −

Fussnoten