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DDR, Wiedervereinigung und Reformpolitik | Presse | bpb.de

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DDR, Wiedervereinigung und Reformpolitik

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Thomas Krüger spricht im Interview über den Sozialstaat in der DDR, Reformen und die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Vereinigung.

Puente @ Europa: Welche Eigenschaften hatte der Sozialstaat der DDR vor der deutschen Vereinigung im Vergleich zu anderen Ländern mit einer zentralen Planwirtschaft. Gab es vergleichbare Elemente im sozialstaatlichen Bereich?

Krüger: Die DDR war ein unfreies Land, das Regime einer Staatspartei, der SED, und ihres Befehlsempfängers, des Geheimdienstapparates, und ein ausgeprägter Fürsorgestaat - die Lebenswege der Bürgerinnen und Bürger waren weitgehend vorgezeichnet. Der Preis für diese "Fürsorge": Verbot und Unterdrückung jeglicher Opposition gegen die Partei- und Staatsführung. Arbeitslosigkeit war offiziell unbekannt, dafür war das Arbeitsleben vieler von Leerlauf und Unterbeschäftigung geprägt. Eigeninitiative wurde nicht gefördert. Das galt für alle planwirtschaftlich organisierten Länder. Noch heute sind zivilgesellschaftliche Strukturen in Ostdeutschland stark unterentwickelt - ein wichtiger Ansatzpunkt für die politische Bildung. Dazu gehört auch, eine angemessene Form der Erinnerung an den Alltag in der DDR zu finden. 40 Jahre Diktatur haben biographische Prägungen hervorgebracht, die auch im 16. Jahr der deutschen Einheit nicht verschwunden sein können.

Puente @ Europa: Sind die politischen und gesellschaftlichen Reformen in den anderen ehemaligen Ostblockstaaten vergleichbar mit denen, die in der ehemaligen DDR nach dem Fall der Mauer stattgefunden haben?

Krüger: Der schwierige und für den Einzelnen oft auch schmerzhafte Prozess der gesellschaftlichen Transformation verlief in allen Ländern, die einst dem sowjetischen Machtbereich angehörten, ähnlich. Die DDR war insofern ein Sonderfall, weil sie sozusagen integriert wurde in ein demokratisches, pluralistischen politisches System, in die Bundesrepublik Deutschland. Wichtig ist, die mentalen Blockaden der Menschen zu lösen. Politisches Engagement in einer Diktatur setzt immer die eigene Freiheit aufs Spiel. Die Gewöhnung an plurale Strukturen, die in ihrer Uneindeutigkeit und Vielfältigkeit auch Unsicherheit bewirken, setzt eine lange Entwicklung voraus. Pluralismus heißt nicht Beliebigkeit. Ziel muss es sein, die demokratischen Gestaltungsspielräume in der Demokratie als Wert schätzen und praktizieren zu lernen.

Puente @ Europa: Welche gesellschaftlichen Veränderungen hat es nach der Vereinigung mit der BRD in der ehemaligen DDR gegeben, und wie beurteilen Sie diese Veränderungen?

Krüger: Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verlief so, dass "der Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland" nach der Vereinigung im Oktober 1990 auf das Gebiet der DDR ausgedehnt wurde. Das bedeutete einen Transfer von Institutionen und Menschen. Dabei wurde nicht immer beachtet, dass es nach gut 40 Jahren auch einen Reformbedarf in der "alten" Bundesrepublik gegeben hat. Der heute in Deutschland viel beschworene "Reformstau" ist auch ein Ergebnis dieses Prozesses. Zehn Jahre gingen verloren, weil die Strukturen der alten Bundesrepublik nahezu ungeprüft auf das ehemalige Gebiet der DDR übertragen wurden. Für die Menschen in der ehemaligen DDR und auch für die Menschen in den anderen ehemaligen Ostblockstaaten aber gilt: Die jetzt notwendigen Reformen zur Anpassung des Sozialstaates an die Herausforderungen der Globalisierung stellen für sie eine doppelte Anforderungen dar, weil sie gerade erst einen revolutionären Systemwechsel hinter sich bringen mussten.

Puente @ Europa: Welche Stellung nahmen die Intellektuellen und Beamten der kommunistischen Partei der DDR in der Debatte über Sozialreform in der BRD ein? Haben sie Positionen der sozialdemokratischen Partei eingenommen, der SPD?

Krüger: Viele Intellektuelle der DDR, die meist auch in Opposition zur herrschenden Partei, der SED, standen, fanden ihre politische Heimat bei den etablierten Parteien der Bundesrepublik, in der SPD, der CDU und bei den Grünen. Die heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel stammt aus Ostdeutschland. Die alte Funktionärsschicht der SED organisierte sich weitgehend in der Nachfolgepartei PDS, heute PDS/Die Linke. Diese Partei erzielt in den östlichen Bundesländern erhebliche Wahlerfolge und ist insbesondere in den Kreisen und Kommunen präsent. Ihre Integrationsleistung für das politische System insgesamt ist daher hoch, wenn auch nicht im Sinne einer Fundamentalopposition, wie sie manche ihrer Protagonisten anstreben.

Puente @ Europa: Hat die Aussicht des Eintritts in der Europäischen Union (EU) die Reformen in den ehemaligen kommunistischen Ländern beeinflusst? Hat die EU Reformen-Druck auf diese Länder ausgeübt? Wenn ja, auf welche Weise?

Krüger: Die Kriterien für den EU-Beitritt sind zusammengefasst im "Acquis Communautaire", dem Gesamtbestand der Rechte und Pflichten, der für alle Mitgliedstaaten der EU verbindlich ist. Ständige Fortschrittsberichte der EU-Kommission setzten die beitrittswilligen, ehemals kommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas unter hohen Anpassungsdruck. Der Regelkatalog muss vollständig akzeptiert und übernommen werden, bevor ein EU-Beitritt empfohlen wird. Wenn am 1. Januar 2007 Rumänien und Bulgarien der EU beigetreten sein werden, ist das Projekt der EU-Osterweiterung an sein vorläufiges Ende gelangt.

Quelle: Puente @ Europa, Dezember 2006, Numero 4

Fussnoten