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Eröffnungsrede von Thomas Krüger auf der Tagung "Watching Europe" | Presse | bpb.de

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Eröffnungsrede von Thomas Krüger auf der Tagung "Watching Europe"

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Wie kommt es, dass gute Filme in den verschiedenen europäischen Ländern völlig unterschiedlich distribuiert und rezipiert werden? Liegt es an den kulturellen Codes, an den diversen Sprachen, an den tradierten Missverständnissen?

Die Geburtsstunde der Filmkritik ist wohl die erstmalige Darbietung des Höhlengleichnisses durch Platon. Dass die bewegten Schatten an der Wand das Eigentliche nicht sind, sondern nur auf etwas verweisen, was sich irgendwo abspielt, ist im Grunde nichts anderes als ein sich abspulender Film. Heute wissen wir zwar, dass in dieser Höhle, hinter uns und weit oben, ein Apparat steht. Dennoch drehen wir uns, gleich den Gefesselten bei Platon, nicht zur Wahrheit um, sondern betrachten die Schatten, denen wir – erst recht nach dem Verlust der Götter – gerne Glauben schenken. Sigmund Freud hat in seinem Essay "Über den Traum" darauf hingewiesen, dass die Psychoanalyse als Methode aus der "Verwerfung der mythologischen Hypothese" hervorgeht. Der Traum wird diesseits, also irdisch, erklärungsbedürftig. Das Kino als Traumfabrik kann insofern zunächst als ein Gotteshaus ohne Gott verstanden werden. Aber die frei gewordene Rolle des Schöpfergottes bleibt nicht lange vakant. Villem Flusser hat in seinem Gestenbuch darauf verwiesen, dass für den Filmemacher wie für Gott zwar zunächst Anfang und Ende zusammenfallen. Da er aber einzelne Phasen des Prozesses umstellen kann, den Ablauf des Prozesses beschleunigen oder verlangsamen, ja sogar zurücklaufen lassen kann, ist er im Unterschied zu Gott in der Lage, den Ablauf des Prozesses selbst in Zeitrichtungen außerhalb der strahlenförmigen Linearität umzulenken. Damit ist ihm ein Instrumentarium zur Hand, Geschichten zu erzählen und zu behaupten, die nicht zwingend wirklich geschehen. Nach Flusser wird die Geschichte im Kino zur "vorgestellten Geschichte".

Pech für den Filmkritiker! Er wird, so sehr er sich auch bemüht, nie zum idealtypischen Aufklärer werden können, der den Schattengaffern die Knoten löst und sie ans Licht führt. Im Gegenteil! Er bleibt, um im Bilde des Gotteshauses zu bleiben, ein Messdiener und assistiert verbal, vermutlich mit großer Lust, bei den Ritualen der Verzauberung. Dem politischen Bildner in der repräsentativen Demokratie postfordistischer Provenienz geht es in gewisser Weise ähnlich. Er changiert in seiner Profession zwischen seinem aufklärenden Selbstverständnis und seiner Disziplinierung, Politik und Politiker zu verteidigen, die kaum noch erklärt und legitimiert werden können.

In dieser Quadratur des Kreises, so hoffen wir als Veranstalter, entsteht Sympathie – Mitleiden. Mit der European Film Academy als Transmissionsriemen treffen wir auf namhafte Vor- und Nachdenkerinnen und -denker in der Sommerresidenz des ersten demokratischen deutschen Nachkriegskanzlers, quasi an einem genius loci des alten Europa. Weniger als trostlose schweigende Lämmer denn als kontemplativ bellende Hunde. Wieder geht es um Europa. Dieses Mal konkret um europäische Filmkritik.

Den Fokus auf die europäische Filmkritik zu richten, ermöglicht uns dabei, die komplizierte Frage nach dem europäischen Film zunächst einmal unbeantwortet zu lassen. Wer den Begriff des europäischen Films ausschließlich für Filme aus den europäischen Ländern reserviert, bleibt in seiner Definition euphemistisch, blass und profillos. Natürlich gibt es amerikanische Filme, die sehr europäisch sind und umgekehrt. Sprechen wir also lieber von den Filmen, die anders sind und die nicht in der globalen Grammatik der Entertainmentindustrie linear decodierbar sind. Originalität, Diversität und kulturelle Hermetik sind sicherlich Kennzeichen dieser Filme, die sich bei dem Transfer innerhalb Europas und darüber hinaus auch immer ein wenig verwandeln und so den Rezipienten eine Art multipler Hermeneutik abverlangen.

Wie kommt es, dass gute Filme in den verschiedenen europäischen Ländern völlig unterschiedlich distribuiert und rezipiert werden? Liegt es an den kulturellen Codes, an den diversen Sprachen, an den tradierten Missverständnissen, dass diesen guten Filmen eine oft völlig unterschiedliche Himmel- oder Höllenfahrt bevorsteht? Was können wir zu einer europäischen Öffentlichkeit beitragen, die diese Vielfalt aushält und ihre jeweilige Mitte trägt? Oder torkeln diese Filme jeweils nur in die nationalen Öffentlichkeiten und werden – je nach tagesaktuellem Alarmismus – auferweckt oder beerdigt?

Wie Sie an den Fragen sehen, wollen wir in den nächsten Tagen keine l'art pour l'art Diskussion führen. Wir werden uns im Kern an politischen Fragen abarbeiten. Auf welche geschichtlichen Erfahrungen gründet sich eine europäische Öffentlichkeit? Mit welcher Haltung bewegen sich Europäer in diesem verminten Gelände? Ute Frevert hat in Sachen europäischer Identität kürzlich in der ZEIT dazu geraten, an die Stelle "selbstgerechten Stolzes" eine "kritische Inspektion" zu rücken. Die konkreten Begegnungen und aktuellen Projekte generieren viel stärker eine europäische Bürgerschaft als Institutionen und Verfassung. In diesem Zusammenhang sind wir auch sehr auf Michael Hardt gespannt, dessen Veröffentlichungen mit Toni Negri die europäischen Universitäten im Sturm genommen haben. Wie kann man das politische Subjekt und seine Strategien in der prekären Lage des sich deregulierenden, neoliberalen Kapitalismus beschreiben? Etliche ambitionierte europäische, bzw. gute Filmstoffe entfalten ein wahrscheinliches und mögliches Geschehen, das sich auf Debatten dieser Art bezieht und nach Erklärungen sucht.

Ich hoffe sehr, dass Sie diese Tage in Cadenabbia als "Schule" (sxoln) im antiken Sinne, also auch als Muße genießen. Viel wäre erreicht, wenn wir statt endgültigen Antworten mit qualifizierteren Fragen nach Hause fahren. Europa ist eine Baustelle. "In substantia" nicht gerade hier in Cadenabbia, wo das alte Europa noch atmet. Aber durchaus "in res", wenn sie an einem so angenehmen Ort multiperspektivisch verhandelt werden kann.

Was aber auf dieser Baustelle entsteht, wird offen bleiben. Erlauben Sie mir noch einmal an Villem Flusser anzuknüpfen, der das Kino als Basilika und präzisierend als "falsches Theater" bezeichnet, an dem man ein Opfer bringt, um hineinzukommen und hypertrophe Schatten betrachtet, die einem den Schein des Wahren vorführen. Vielleicht geht es bei dem Projekt Europa ja in der Tat um ein postreligiöses Substitut. So etwas wie das Pfingstereignis, bei dem die Anhänger des auferstandenen Christus in verschiedenen Sprachen oder charismatischen Lautgebungen durcheinander geredet haben, sich dabei im Kern aber offenbar verstanden haben und dabei sogar eine gewisse 2000 Jahre anhaltende Emphase freigesetzt haben.

Aber zurück zum Kino! Zu einem konkreten Film, einem wunderbaren Film. "Was ist ein Mythos?", "Was ist eine Legende?" Die Frage hört man aus dem Mund eines kleinen Mädchens. Kinderfragen bilden den Leitfaden des streng komponierten Films "A Talking Picture". Erzählt wird von der Schiffsreise einer Mutter – sie ist Professorin für Geschichte – die mit ihrer Tochter am Mittelmeer entlang zum Suez-Kanal und weiter gen Bombay reist.

Auf merkwürdige Weise ganz leicht geht es in dem neuen Film des 95jährigen portugiesischen Altmeisters Oliveira um nicht weniger als alles – ein elegantes, feinsinniges Hohelied auf die Kultur des alten Europa, zugleich auch ein melancholischer Abgesang, denn bei aller Schönheit sind die Gespräche nicht durch Optimismus bestimmt. Wir erleben eine hochmoderne Auseinandersetzung darüber, was wirklich "Europa" heißt, was bleibt, wenn alles vorbei ist. Eine Reise von der westlichen Zivilisation an ihre Wurzeln nahe Troja, in den Krieg, die Barbarei.

-Es gilt das gesprochene Wort-

Fussnoten