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Flucht und Vertreibungen in Europa | Presse | bpb.de

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Flucht und Vertreibungen in Europa Grußwort zur Gesprächs- und Filmreihe

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Ein heftiger öffentlicher Diskurs ist um das Thema Flucht und Vertreibungen entbrannt. Den Fokus auf die Menschen und ihre Erfahrungen zu richten, könne diese Diskussion mitten in die Gesellschaft führen, meint bpb-Präsident Thomas Krüger in seiner Rede.

Heute abend darf ich Sie alle ganz herzlich auch für die Bundeszentrale für politische Bildung hier in Berlin in diesem wirklich schönen, frisch renovierten Zeughauskino begrüßen. Besonders freue ich mich darüber, dass so viele unserer Einladung gefolgt sind. 150 politisch interessierte Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft, die sich für dieses Thema interessieren, sind auch 150 Multiplikatoren und Multiplikatorinnen, die eine wichtige Debatte in die Gesellschaft tragen und sich einmal jenseits der sehr stark von der Politik dominierten Diskussion zum Thema "Flucht und Vertreibungen in Europa" informieren wollen.

Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die Tatsache, dass diese Thematik in der alten Bundesrepublik oft als rückwärts gewandt wahrgenommen wurde. Als jemand, der aus DDR kommt, kann ich mit Fug und Recht sagen, dass sie dort nahezu totgeschwiegen wurde. Diese Positionierungen weichen hier wie da seit den 90er Jahren zunehmend auf. Die Fernsehbilder aus dem ehemaligen Jugoslawien waren besonders für die junge Generation Anlass dafür, alte Fragen neu zu stellen und neue, plausible Antworten einzufordern. Auffällig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass sich heute ganz besonders auch die Enkelgeneration auf den Weg macht, historische Spuren in den eigenen Familien zu entdecken, was ja ein zutiefst historisch-politisches Denken spiegelt. Aus Perspektive der politischen Bildung begrüßen wir diese Entwicklung. Die Frage, die sich in den letzten Jahren zunehmend zugespitzt stellte, lautet, ob damals richtig gewesen ist, was wir heute missbilligen? Gilt es nicht, Vertreibungen generell als Mittel der Politik zu ächten? Sind nicht auch Deutsche – letztlich – Opfer jener Naziaggression geworden, die zuvor Millionen Opfer unter anderen Völkern forderte?

In der öffentlichen Debatte um die Vertreibungsthematik wurde quer zum politischen Spektrum auch darüber heftig in den vergangenen Monaten diskutiert – das Zentrum gegen Vertreibungen ist daran ja maßgeblich beteiligt – und es ist kein Ende dieser Diskussionen abzusehen. In diesem öffentlichen Diskurs gibt es scheinbar unüberbrückbare Gegensätze und Verkrustungen, die wir versuchen wollen aufzubrechen, indem wir den Fokus zunächst auf die Menschen richten, um so eine Chance zu eröffnen, die Diskussion dort zu führen, wohin sie gehört: mitten in die Gesellschaft. Das Gespräch über biographische Wurzeln, über Entwurzelungen, über Flucht und Vertreibungen, bietet die geeignete Projektionsfläche dafür, mit Hilfe der Familiengeschichten auch verlorene Orte in das kollektive Gedächtnis von Nationen zurückzuholen. Denn nicht der Wunsch nach Rückkehr treibt die Menschen um, sondern vielmehr die Suche nach Antworten auf Fragen, die heute von vielen Jungen an die Älteren gestellt werden und die Teil einer Identitätssuche sind: Wer bin ich eigentlich und wo komme ich her? Welche Erfahrungen haben Eltern und Großeltern geprägt und was haben sie an mich weitergegeben? Was bedeutet der neue Umgang mit einem vermeintlich alten Thema mit Blick auf heute und der Perspektive von morgen? Solche Fragen kamen zwar in der politischen Bildung bisher auch vor, wurden aber mitunter auch verdrängt, weil sie dieses "Geschmäckle" des Vergangenen an sich hatten.

Die bpb und ihre Partner – und an dieser Stelle sage ich nochmals Dank besonders dem DHM, das uns als strategischer Partner sein Zeughauskino kostenlos zur Verfügung stellt – versuchen mit einer neuen, auch europäisch konzipierten Perspektive mit der heute beginnenden Gesprächs- und Filmreihe zu dieser Thematik einen gesellschaftspolitischen Beitrag dazu zu leisten, diese Diskussion aus dem festgefahrenen politischen Rahmen in den offenen gesellschaftlichen Diskurs zu lotsen, um auf diese Weise mit Blick auf die Zukunft Europas neue Orientierungen zu ermöglichen.

Im Rückblick ist das 20. Jahrhundert vielfach als das Jahrhundert der Völkermorde und Vertreibungen bezeichnet worden: An seinem Beginn stand der Genozid der Armenier durch die Türken, an seinem Ende standen die ethnischen Säuberungen in Kroatien, Bosnien und im Kosovo durch die Serben. Dazwischen lagen alleine im europäischen Raum Zwangsdeportationen von Krim-Tartaren, Tschetschenen, Wolgadeutschen, Einwohnern der baltischen Staaten innerhalb der Sowjetunion, und die Vernichtung der Juden im Holocaust durch das Nazi-Regime, aber ebenso auch die Vertreibung von Deutschen aus ihren angestammten Gebieten sowie von Ungarn aus der Slowakei. Für alle waren dies schmerzhafte Erlebnisse, die sicher zu einem großen Teil auch Menschen traumatisiert haben. Darüber werden wir mit Sicherheit in der von Helga Hirsch moderierten Gesprächsrunde etwas erfahren.

Seit Mitte der 80er Jahre ist zu beobachten, dass sich die Stimmen derer in der sozial-historischen Migrationsforschung mehren, die den Integrationsprozess der Vertriebenen nicht mehr uneingeschränkt positiv beurteilen. Zu schnell mussten bedrückende Erfahrungen in private oder in die abgeschlossenen Kreise von Vertriebenenverbänden gedrängt werden. Zu schmerzhaft war die Zurückweisung durch eine Öffentlichkeit, die nicht mit Leidensgeschichten jener bedrängt werden wollte, die persönlich am stärksten für die Verbrechen der Nazizeit zu bezahlen hatten. Erst seit einigen Jahren entlädt sich vor allem in biographischen Publikationen und lebensgeschichtlichen Interviews eine lang aufgestaute Emotionalität, die deutlich macht, dass teilweise traumatische Ereignisse bei vielen Flüchtlingen und Vertriebenen bis heute nicht verarbeitet sind – wenn man sie überhaupt verarbeiten kann. Das Schweigen drückte, so könnte man argumentieren, also weniger eine gelungene als eine erzwungene Integration aus. Man schwieg, um nicht als Fremder in Distanz zu den Einheimischen zu geraten. Man schwieg aber auch, weil man selbst nicht mehr an die Vergangenheit denken wollte, denn da tauchten auch Schuldgefühle auf, weil man die Heimat verlassen hat, die Gräber der Eltern zurücklassen musste, vielleicht auch Verwandte auf der Flucht verloren hat. Da tauchen menschlich nachvollziehbare Schamgefühle auf, weil man in den Anfangsjahren in der neuen Heimat nicht unbedingt geliebt, zudem abhängig und hilfsbedürftig war. Bei manchen trat möglicherweise sogar eine Art Erinnerungsverweigerung auf.

Dies alles bricht nun auf. Kennzeichnend für die meisten Vertriebenen in Europa und auch interessanterweise für die Kinder von Vertriebenen ist oftmals das Gefühl einer gewissen Wurzellosigkeit. Diese Menschen fühlen sich unruhig getrieben, unfähig sich irgendwo langfristig niederzulassen. Sie zeigen tendenziell eine hohe Mobilität. Man könnte sagen, dass diese Menschen, und das gilt möglicherweise auch noch für die Menschen der zweiten Vertreibungsgeneration, in der Tiefe ihres Seins fluchtbereit bleiben. Vielleicht werden Sie, Frau Dr. Hirsch, mit Herrn Prof. Ermann und Herrn Dr. Maaz – die ich beide ebenfalls herzlich begrüße – nachher im Gespräch auch diesen Aspekt noch beleuchten. Wir planen übrigens über diese Wintertage hinaus im kommenden Jahr im Herbst ein Symposium in Berlin zu dieser Debatte, die dann auch verstärkt die politischen Kontextualisierungen in all ihrer Kontroversität aufgreifen wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich, dass wir heute neben der Gesprächsrunde auch bisher nicht veröffentlichte Ergebnisse präsentieren können. Aus diesem Grunde darf ich nun zunächst um Aufmerksamkeit für Herrn Prof. Schäfer, den Präsidenten der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, bitten, der einige neue Resultate zu unserer Thematik mitgebracht hat. Wir sind gespannt auf neue Ergebnisse.

Noch einmal allen im Namen der Bundeszentrale für politische Bildung ein herzliches Willkommen und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Fussnoten