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Terror und Traum: Die "gewesene Wirklichkeit" der Volksgemeinschaft | Volksgemeinschaft - Ausgrenzungsgemeinschaft | bpb.de

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Terror und Traum: Die "gewesene Wirklichkeit" der Volksgemeinschaft

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Von 1945 bis in die 1980er Jahre wurde das Konzept der Volksgemeinschaft kaum von der Forschung beachtet. Heute steht sie dagegen im Fokus der NS-Historiographie, so Professor Dr. Norbert Frei von der Universität Jena in seinem Vortrag. Was aber genau bedeutete das Konzept im Dritten Reich? Und was machte es für die deutsche Bevölkerung so attraktiv?

Norbert Frei, Universität Jena, bei seinem Eröffnungsvortrag. (© Mirko Tzotschew / Kooperative Berlin)

Wandel der Perspektiven: Volksgemeinschaft heute im Fokus der NS-Historiographie

Zum ersten Mal machte 1969 Martin Broszat in einem Aufsatz in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte die Externer Link: "Soziale Motivation und Führerbindung" zum Thema der Forschung. Auch wenn der Begriff der Volksgemeinschaft noch keine Rolle spielte, so wurde doch erstmals ihre psychosoziale Funktion aufgegriffen, der "Hunger der Deutschen nach gesellschaftlicher Integration". Die NS-Historiographie der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre hingegen zeichnete sich durch einen "Wandel der Perspektiven und anderer Erzählweisen" aus, so Interner Link: Norbert Frei in seinem Einstiegsvortrag. Bis in die 1980er Jahre wurde der Begriff der Volksgemeinschaft von den NS-Historiographen noch als "bloße Propagandaformel" abgetan und damit kaum zum Forschungsgegenstand gemacht. Dagegen sei das Thema heute von großem Interesse. Spricht Werner Conze noch 1983 von der "befohlenen Scheinwirklichkeit", ist Frei heute der Meinung: "Der Glutkern der NS-Erfahrung ist nachzuspüren als gewesene Wirklichkeit, er braucht eine befriedigende Antwort." Heute sei die Forschung bei den Untersuchungen von Michael Wildt, "Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung", und Harald Welzers "Volksgemeinschaft – Täterschaft und Antisemitismus" angekommen.

Traum, Wunsch und Terror

Frei stellt in seinem Vortrag dar, was die Attraktivität und zugleich den Schrecken der Volksgemeinschaft im Dritten Reich ausgemacht hat: "Längst vor 1933 war sie Traum und Wunsch vieler, nach 1933 phasenweise und in Ansätzen Wirklichkeit und für andere schon vor 1933 der blanke Terror." In der Volksgemeinschaft des Dritten Reiches versammelten sich die Erwartungshaltung und die Erfahrung der deutschen Bevölkerung, die geprägt waren durch den Ersten Weltkrieg, die gesellschaftliche Spaltung aus der Weimarer Zeit und der wirtschaftlichen Krise und legten damit, so Frei, den Boden für den Nationalsozialismus. Das Rezept zur Überwindung dieser "Schwächen" hatten, so schien es, die Nationalsozialisten: die Volksgemeinschaft als Verkörperung von Selbstbewusstsein und Stärke. Durch den Begriff sollte das Deutsche Reich als ein "Reich der Chancengleichheit" erscheinen. Dieses Rezept konnten die Nationalsozialisten und Adolf Hitler immer wieder als Konnotation in den Köpfen verankern.

"Sozialpolitisches Remmidemmi"

Das Gemeinschaftliche galt es ständig zu aktualisieren und zu bekunden. Symbolische Loyalitätsbekundungen wurden Ausdruck und Mobilisierungsmoment der Volksgemeinschaft: So etwa der ständige Gruß "Heil Hitler" und öffentliche Veranstaltungen, laut Frei "sozialpolitisches Remmidemmi". Dazu gehörten auch die Olympischen Spiele von 1936 als Bemühungen um "positive Integration". Und auch die sozialen Integrationsangebote der Nationalsozialisten waren für viele attraktiv, sie schafften eine gewisse Egalisierung von Aufstiegschancen: Gerade junge Arbeiter fühlten sich von den Parolen angesprochen. Sie veränderten das soziale Bewusstsein, was wiederum zu einer "äußerst effektiven psychosozialen Machtentfaltung" führte. Gleichzeitig steckte in dem Konzept der Volksgemeinschaft die Potenzialität des Umschlagens in Gewalt, die jeden treffen konnte: "Volksgemeinschaft meint per definitionem auch Ausgrenzungsgemeinschaft." Denn das Bild der Gemeinschaft schafft per se ein Gegenbild: das der weltanschaulichen Feinde, der "Andersartigen".

Funktionalität nicht überbewerten

"Die Funktionalität der Volksgemeinschaft soll aber auch nicht überzeichnet werden", so Frei abschließend und nennt als ihre immanente Schwäche die labile gesellschaftliche Grundstimmung. Wenn das Konzept Volksgemeinschaft funktioniert habe, dann vor allem wegen der repressiven Möglichkeiten und ihrer Akzeptanz und Popularität: "Wer nichts leistet, wird bestraft. Darauf konnte man sich in der Volksgemeinschaft schnell verständigen – und noch auf Vieles mehr, wie wir wissen."

Das Videointerview mit Norbert Frei finden Sie Interner Link: hier; eine PDF-Version des Vortrages Interner Link: hier.

Fussnoten