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"Big Data ist die Aufklärung für das 21. Jahrhundert." Zehn Fragen an Viktor Mayer-Schönberger

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Im Gespräch mit Vera Linß und Camilla Graubner beantwortet Viktor Mayer-Schönberger für die Zeitschrift "tv diskurs" zehn Fragen rund um das Thema Big Data.

Überall im Netz hinterlassen wir bei Unternehmen unseren digitalen Fingerabdruck. Im Gegenzug sollten wir erwarten können, dass diese verantwortungsvoll unsere Daten schützen. (flickr - CPOA) Lizenz: cc by-nd/2.0/de

Viktor Mayer-Schönberger, Professor am Internet Institute der Universität Oxfordund und Experte bei den Bonner Gesprächen 2016 im Gespräch mit Vera Linß und Camilla Graubner von der Zeitschrift "tv diskurs"

Linß/Graubner: Wie würden Sie Big Data definieren?
Mayer-Schönberger: Big Data ist eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit, die auf der Analyse einer großen Menge an Datenpunkten fußt.

Was lässt sich aus den Datenmengen herauslesen – verglichen mit der Zeit vor Big Data?
Im Kern geht es um ein besseres Verstehen der Welt. In Zeiten von Small Data sammelten und analysierten wir Daten, um damit konkrete Fragen zu beantworten, die wir uns stellten. Mit Big Data können wir uns durch die in den Daten festgestellten Muster zu neuen Fragen inspirieren lassen, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie stellen sollten. So konnte etwa die Informatikerin Dr. Carolyn McGregor in den Daten der Vitalfunktionen von Frühgeborenen Muster finden, die mit einer wahrscheinlichen späteren Infektion korrelieren. Damit lässt sich eine mögliche Erkrankung vorhersagen – 24 Stunden vor dem Auftreten der ersten Symptome. Die Analyse großer Datenmengen kann Menschenleben retten, wie bei diesen Frühchen. Allgemeiner gesagt: Sie erlaubt uns, im Alltag bessere Entscheidungen zu treffen.

Inwieweit ist es wünschenswert, alles quantitativ zu erfassen?
Das ist höchst wünschenswert. Die Alternative wäre Ignoranz gegenüber der Welt, in der wir leben – und das Beharren auf Aberglauben, Stereotypen, Ideologien und Befindlichkeiten. Diese Ignoranz hat schon zu viele Menschen das Leben gekostet. Europas zentraler Beitrag zur Menschheitsentwicklung ist ganz zu Recht die Aufklärung. So gesehen ist Big Data die Aufklärung für das 21. Jahrhundert.

"Bei Big Data geht es um das Was, nicht um das Warum", schreiben Sie in Ihrem Buch. Kann man Big Data also als Ergänzung zum klassischen wissenschaftlichen Arbeiten ansehen?
Ja – und als Unterstützung. Wir Menschen werden weiterhin nach Ursachen forschen, aber diese Ursachenforschung ist höchst zeit- und geldaufwendig. Es ist daher sinnvoll, sie sehr bewusst einzusetzen. Das "Was" mithilfe von Big Data zu erkennen, erlaubt uns, die interessantesten Zusammenhänge für die Suche nach dem "Warum" auszufiltern. Und darüber hinaus pragmatisch auch schon aus dem "Was" Handlungsanweisungen abzuleiten: etwa im Fall der Frühchen ihnen Medikamente zu geben, bevor die wahrscheinliche Infektion voll ausbricht.

Wie verändern sich die Medien durch Big Data?
Das ist schwer zu sagen. Die Entwicklung steht hier noch vergleichsweise am Anfang. Selbstverständlich wird Big Data heute bereits dazu eingesetzt, Konsumpräferenzen genauer zu verstehen – nicht nur, um aus einem Medienangebot entsprechend "passende" Inhalte auszuwählen, sondern sie auch erst entstehen zu lassen. Manche haben dies kritisiert, weil es nur unsere Vorlieben verstärke und uns nicht mehr mit Unerwartetem konfrontiere. So einfach aber ist es nicht. Denn für den, der Unerwartetes schätzt, wird die Big-Data-Analyse das feststellen und ihm auch Unerwartetes bieten. Auch der Wunsch, überrascht zu werden, ist ja bis zu einem bestimmten Grad vorhersehbar.

Welche Risiken sehen Sie bezüglich eines Missbrauchs von Big Data?
Viel ist davon zu hören, dass ein langfristiges Speichern und Vorhalten personenbezogener Daten uns stets an unsere Vergangenheit bindet und die Fähigkeit des Menschen zu lernen, sich zu entwickeln, nicht ausreichend reflektiert. Das ist richtig. Aber darüber hinaus sehe ich noch zwei weitere und mindestens ebenso hochproblematische Gefahren des Missbrauchs. Die erste Gefahr ist, dass wir versucht sind, schon an die Vorhersage zukünftigen Verhaltens Konsequenzen – insbesondere individuelle Verantwortung – zu knüpfen, die Menschen also schon durch die Vorhersage allein zu "verurteilen". Das wäre in letzter Konsequenz das Ende des freien Willens –eine schreckliche Vorstellung! Gerade deshalb bedarf es eines rechtlichen Rahmens, der festlegt, welche Verwendung von Daten im Kontext von Big Data zulässig ist – und welche nicht (oder nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen). Die zweite Gefahr ist, dass wir die Big-Data-Analyse, die uns in der Regel nur sagen kann, "was" passiert oder passieren wird missbräuchlich interpretieren und auch ein "Warum" ableiten. Wir Menschen sind geprägt davon, die Welt als Kette von Ursachen und Wirkungen zu sehen – und glauben sehr oft, die Ursachen erkannt zu haben, ohne das dem so ist. Es gibt uns das trügerische Gefühl, die Welt durchschaut zu haben. Deshalb ist jede Big-Data-Analyse stets der Gefahr ausgesetzt, von uns Menschen falsch interpretiert zu werden, indem wir den Ergebnissen der Analyse mehr an Sinn und Bedeutung zumessen, als ihnen zukommt. Dann begeben wir uns in die Abhängigkeit, ja die Diktatur der Daten. Auch das gilt es zu verhindern – durch klare Regeln, aber auch durch Kompetenzarbeit und Aufklärung der Menschen.

Wie können wir sicherstellen, dass dem Einzelnen Handlungsspielraum bleibt? Dass er nicht durch Daten, die auf der Grundlage von Algorithmen erhoben werden, vorverurteilt wird?
Unter anderem, indem wir für bestimmte Fragen bewusst festlegen, dass wir unwissend bleiben wollen.

Vorurteile oder Annahmen gegenüber Entwicklungen und gegenüber Menschen gab es schon immer. Worin besteht die neue Qualität, wenn Erkenntnisse mithilfe von Algorithmen gewonnen werden?
Es gibt keine neue Qualität der Algorithmen. Die Algorithmen sind dumm. Die Einsichten stecken in den Daten. Aber auch diesen kommt keine neue Qualität zu. Neu ist "lediglich" unsere Fähigkeit, die Daten viel umfassender zu sammeln und zu analysieren. Und die Gefahr ist, dass wir Menschen in der Interpretation der Analyseergebnisse versagen. Wir brauchen eine Ethik im Umgang und in der Verwendung von Daten.

Über die Tatsache, dass Algorithmen reguliert werden müssen, wird ja schon seit Jahren diskutiert. Haben Sie den Eindruck, dass wir dabei schon vorangekommen sind?
Meine Befürchtung ist, dass wir in der Tat beginnen, Algorithmen zu regulieren – und damit die eigentliche Herausforderung, die ja in den Daten und ihrer Analyse liegt, völlig missverstehen.

Wie schätzen Sie das Bewusstsein in der Gesellschaft ein über die Gefahren, die von Algorithmen ausgehen?
Es ist falsch, geprägt von falschen Meldungen über die "Gefahr", die von Algorithmen ausgehe. Dieses Fehlverständnis beunruhigt mich.

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der tv diskurs

Quelle: Mayer-Schönberger, Viktor: „Big Data ist die Aufklärung für das 21. Jahrhundert.“ Zehn Fragen an Viktor Mayer-Schönberger; in: tv diskurs JG 75, 2016 (1), S. 32 - 35.

Interner Link: Das Interview als PDF zum Download

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