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Tagungsbericht | Im Schatten von Auschwitz... | bpb.de

Im Schatten von Auschwitz... Tagungsbericht Vorträge Die nationalsozialistischen Massenmorde in Osteuropa Erinnerung und Gedenken in Osteuropa „Woher nehmen, wenn nicht...?“ - Finanzierungsmöglichkeiten im Gedenkstättenbereich Bildergalerien Videointerviews

Tagungsbericht

/ 26 Minuten zu lesen

Wie kein anderer Ort steht Auschwitz für die Verbrechen der Nationalsozialisten und für den Völkermord an den europäischen Juden. In Deutschland ist diese Verbindung durch den zentralen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar sogar gesetzlich manifestiert. Viele andere Orte nationalsozialistischer Verbrechen geraten dabei jedoch in Vergessenheit und stehen damit "im Schatten von Auschwitz". Im Schatten steht damit aber auch die Erinnerung an die Opfer, die an diesen Orten ermordet wurden. Die Idee der Fachtagung und des Buches "Im Schatten von Auschwitz" war das Anliegen, auch diese anderen Orte in den Fokus zu rücken, erklärten Hans-Georg Golz und Hanne Wurzel von der Bundeszentrale für politische Bildung zur Eröffnung der Tagung. Martin Langebach, der die Veranstaltung gemeinsam mit Hanna Liever geplant und auch mit ihr zusammen das Buch dazu herausgegeben hat, fügte hinzu, Ziel der Tagung sei es, einen Rahmen für Austausch zu bieten, indem sich Kontakte knüpfen lassen, und über Programme zu informieren, die Studienfahrten zu weniger bekannten Gedenkstätten anbieten.
Das Auschwitz nicht nur in Deutschland zu dem zentralen Synonym des industriellen Massenmordes und damit auch des Gedenkens an die Opfer geworden ist, daran erinnerte auch Hanna Liever noch einmal: Mehr als doppelt so viele Menschen als zu allen anderen Gedenkstätten in Polen zusammen, besuchen jährlich die Gedenkstätte Auschwitz.

Im Rahmen der Fachtagung konnten die Teilnehmenden auch die Ausstellung "Im Schatten von Auschwitz" des Fotografen Mark Mühlhaus besuchen. Die Aufnahmen entstanden auf einer Exkursion im Frühjahr 2016 zu neun, in Deutschland wenig oder völlig unbekannten Orten in Osteuropa - nach Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Lublin-Majdanek, Maly Trostenez sowie nach Babyn Jar, Kamjanez-Podilskyj und Lwiw-Janowska. Mühlhaus gelang es dabei, eigene Zugänge zu diesen unterschiedlichsten Orten der Erinnerung zu finden.
Die Ausstellung kann kostenfrei ausgeliehen werden, es fallen lediglich Lieferkosten an. Kontakt zum Fotografen und Ausstellungsmacher: E-Mail Link: Mark Mühlhaus, Externer Link: www.attenzione-photo.com

Susanne Heim: Die nationalsozialistischen Massenmorde in Osteuropa

Inhaltlich startete Susanne Heim vom Institut für Zeitgeschichte in Berlin die Fachtagung. Sie lieferte den thematischen Rahmen für die Veranstaltung und informierte die Teilnehmenden über den aktuellen Forschungsstand.

"Raub, Vertreibung und Genozid waren Konzept der Nationalsozialisten, sie galten als probate Mittel zur Ausdehnung des Lebensraums", erklärte Heim zu Beginn ihres Vortrags. Aber eine Erfindung der Nazis sei die Idee von der Ausdehnung in den Osten mitnichten gewesen. Schon während des Ersten Weltkriegs hätten deutsche Akademiker Osteuropa zum "natürlichen Siedlungsgebiet der Deutschen" deklariert. Ebenso wenig sei die Idee der deutschen Überlegenheit eine neue gewesen. Auch früher schon habe der Westen als Gegenbild des "wilden Ostens" gegolten. Der "Ostjude" sei innerhalb dieser Gedankenwelt zur Inkarnation dessen geworden, was Schlechtes über den Osten gesagt wurde: "Armut, Schmutz, Fremdheit - eine Gedankenwelt, die in ihrer Verbindung mörderisch wurde", so die Forscherin.

"Wertes" und "unwertes" Leben

Wie kein anderer Ort stehe Auschwitz heute für die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Begonnen habe diese Politik aber nicht in Auschwitz, und nicht erst 1940. Schon unmittelbar nach der "Machtergreifung" habe die nationalsozialistische Politik Leben in "wert" und "unwert" unterschieden, konkret mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933. Neben Menschen mit erblich bedingten Krankheiten zählten die Nazis auch Alkoholiker zu "Erbkranken" oder Frauen, denen häufig wechselnde Geschlechtspartner nachgesagt wurden.
Zu Beginn der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik seien Menschen, die von den Nationalsozialisten als nicht oder weniger lebenswert eingeordnet wurden "nur" sterilisiert worden, später dann auch ermordet. Lange bevor an der Rampe von Auschwitz-Birkenau selektiert wurde, seien in Einrichtungen mitten in deutschen Städten Menschen in "wert" und "unwert" getrennt worden.

Susanne Heim zeichnete im Folgenden die Stationen der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik nach. Sie sprach über die mit Beginn des Zweiten Weltkriegs einsetzenden Patientenmorde, durch die zwischen Januar 1940 und August 1941 70.000 Menschen mit Giftgas ermordet wurden, über die Unterbrechung des Programms nach öffentlichem Protest des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen und über die spätere dezentrale Fortsetzung. Einen "Testfall" hätten die Nationalsozialisten mit dem Euthanasieprogramm initiiert, erklärte Heim: "Für die Nazis stand fest: Sollte die Bevölkerung sich nicht auflehnen, wenn Verwandte und Bekannte verschwinden, dann werden sie es sicher auch nicht bei den Juden tun".

Aussiedlungspolitik

Zu Beginn ihres Vortrages hatte die Historikerin bereits die Lebensraumideologie der Nationalsozialisten angesprochen. Umgesetzt werden sollte Hitlers Idee von einer ethnographischen Neuordnung in Osteuropa von Heinrich Himmler, der dafür zum "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" ernannt wurde. Er sollte die Aussiedlungspolitik koordinieren und steuern. Die Idee der Nazis sei gewesen, ganze Gebiete "einzudeutschen." Dafür sollten Angehörige der deutschen Minderheiten, die zuvor in anderen Gebieten Süd- und Osteuropas gelebt hatten, "heim ins Reich" geholt werden. "Gelockt" worden seien sie mit den Höfen, Geschäften und Wohnungen der Menschen, die zuvor vertrieben worden waren. "Dies geschah auf Kosten eines Großteils der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung sowie nahezu aller Jüdinnen und Juden." Bereits in der ersten Dezemberhälfte 1939 seien so 88.000 Menschen aus den annektierten westpolnischen Gebieten deportiert worden – langfristig sahen die Pläne die Vertreibung allein von 3,4 Millionen Menschen vor. Zwar sei bei der Planung dieser Maßnahmen das Töten von Menschen nicht das Ziel gewesen, zumindest aber im Ural und in der Eismeerregion sei das Sterben bewusst in Kauf genommen worden.

Der verbleibenden slawischen Bevölkerung sei in den Plänen zur Neuordnung Osteuropas nur die Rolle von Arbeitssklaven zugedacht worden. Bei dem gigantischen Ausmaß der deutschen Kolonisierungspläne sei darauf nicht zu verzichten gewesen – eine "Ausrottung" also nicht infrage gekommen. Um der einheimischen Bevölkerung jedoch nicht auf Dauer unterlegen zu sein, seien Strategien zur "Schwächung des russischen Volkskörpers" angewendet worden. So sei für die zu kolonisierenden Gebiete der Erlass ausgesprochen worden, dass bei Verbrechen gegenüber der Bevölkerung kein Verfolgungszwang bestehe. Für die deutschen Soldaten eine Art "Vorab-Persilschein", erklärte Susanne Heim. Zudem sei die heimische Bevölkerung zu Pogromen gegen Juden angestachelt worden, "das Pogrom von Lemberg 1941 ist ein Beispiel". Kriegsgefangene Soldaten der Roten Armee habe man zudem einfach verhungern lassen, Juden und Partisanen - und wer dafür gehalten wurde - seien ausnahmslos getötet worden.
Als "wertvoll" erachtete Völker sollten hingegen eingedeutscht werden, denn es gab "zu wenig Volk für den ganzen Raum", sagte Susanne Heim über die Pläne der Nationalsozialisten.

Unstrittig sei, dass die Brutalität mit der die Ausweitungspolitik betrieben wurde im Reich selbst bekannt war. Auch die Massenerschießungen - spätesten ab August 1941 war das Morden auch auf jüdische Frauen und Kinder in den gerade eroberten Gebieten ausgeweitet worden - seien kein Geheimnis gewesen, heimkehrende Soldaten hätten darüber berichtet. Bisweilen sei Berichterstattung sogar Teil der NS-Propaganda gewesen. Der Osten sei jedoch als "blühende Landschaft" beschrieben worden: "Bauer in den Ostgebieten, als Kind wollte man das später werden. Über die Menschen, die dafür weichen mussten, wurde nicht gesprochen", so Heim.

Vernichtung

Bei der Wannseekonferenz im Januar 1942 sei es dann nicht mehr um das "ob", sondern nur noch um das "wie" gegangen. "Besprochen wurden hier nur noch die Modalitäten. Das Protokoll ist da völlig eindeutig, auch wenn darin nicht namentlich von Mord gesprochen wird. Im Nachgang rollten Eisenbahnwagons durch ganz Europa."
Zum Abschluss erinnerte Susanne Heim daran, wie lange auch Deutschland gebraucht habe um sich kritisch mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen und seiner Verantwortung zu stellen. Beispielhaft nannte sie dafür den Fall des Architekten Gerhard Ziegler, der als Landesplaner mit dem Bau des Konzentrationslagers Auschwitz beschäftigt war, später als Mitläufer eingestuft wurde und 1966 das Große Bundesverdienstkreuz erhielt.

In der anschließenden Diskussion ging die Historikern noch einmal darauf ein, dass es wichtig sei, sich mit der Vielzahl der Orte nationalsozialistischer Verbrechen zu beschäftigen: "Oradour-sur-Glane kennt man, und auch Lidice. Aber unzählige Dörfer und Landstriche in Osteuropa, in denen SS, Wehrmacht und auch Polizei systematisch mordeten, die kennt keiner. Von vielen habe auch ich noch nicht gehört, und das obwohl ich mich seit Jahren damit beschäftige." Auf die Internationalisierung der Forschung angesprochen verwies Heim auf die große Bedeutung dieser Entwicklung, betonte jedoch, dass dies nicht zu einer Relativierung der Verbrechen führen und nicht davon ablenken dürfe, dass es den Holocaust ohne die Deutschen nicht gegeben hätte, "egal wie stark sich auch andere an der Vernichtung beteiligt haben."

Auch im Zusammenhang mit der Internationalisierung der Forschung kam die Frage nach heute noch bestehenden Forschungslücken auf und ob neue Ergebnisse eigentlich noch zu erwarten seien. Heim bejahte das mit Nachdruck: Rumänien sei ein Beispiel dafür, dass in manchen Ländern bislang wenig geschehen sei, viel noch ungesehen in den Archiven liege. Manches sei vielleicht von einzelnen Forschern ausgewertet worden, in Deutschland bekannt seien solche Arbeiten aber oft nicht. Auch heute würde man selbstverständlich noch viel Neues entdecken, das würde sie selbst bei der eigenen Forschung regelmäßig feststellen. Sicher würde das nicht zu einer neuen Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs und der Massenvernichtung durch die Deutschen führen, aber es gebe noch viel herauszufinden: über das Verhältnis der jeweiligen Bevölkerung zu den Besatzern, zu kollaborierenden Institutionen und zu den Stimmungen in der Bevölkerung. Sicher sei auch einiges zu finden, das sich heute noch keiner vorstellen könne. Beispielsweise sei die massenhafte Enteignung der Juden noch in den 1990er-Jahren kaum Forschungsgegenstand gewesen, da sie neben dem Völkermord keine Bedeutung zu haben schien; "heute ist das ein großes Forschungsgebiet". In einigen Ländern sei jedoch auch immer wieder der Trend zu beobachten, das "Rad zurückdrehen" zu wollen - "alles so schlimm nicht gewesen, schon gar nicht die Beteiligung der einheimischen Bevölkerung". Es gebe also noch "reichlich zu tun", auch heute könne Forschung noch Überraschendes zu Tage bringen.

Für den Band Interner Link: Im Schatten von Auschwitz - Spurensuche in Polen, Belarus und der Ukraine: begegnen, erinnern, lernen, 2017 bei der bpb erschienen, verfasste Susanne Heim den Einführungsaufsatz. Das Buch kann Interner Link: hier bestellt werden.

Jörg Ganzenmüller: Erinnerung und Gedenken in Osteuropa

Der nationalsozialistische Massenmord forderte seine Opfer überall in Europa. Die Geschichte dieser Länder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sorgte jedoch für ganz unterschiedliche Arten der Aufarbeitung und wirkt in der nationalen Erinnerungskultur bis heute fort. Wie wichtig es ist, über diese Unterschiede zu informieren, darüber sprach Prof. Jörg Ganzenmüller von der Stiftung Ettersberg in Weimar.

Sogar zwischen den alten und neuen Ländern der Bundesrepublik könnte man Unterschiede im Gedenken an die Verbrechen und die Opfer des Nationalsozialismus festmachen. Umso weniger dürften Unterschiede im nationalen Gedenken also verwundern, erklärte Ganzenmüller. Seine Ausführungen stützen sich vor allem auf zwei Reisen an Orte der Shoa nach Polen im Jahr 2014 und in die Ukraine im Sommer 2017. Was ist an den Orten passiert und wie sehen sie heute aus? Diese Fragen leiteten ihn während der Forschungsreisen. Denn heute erzählten diese Orte erst einmal gar nichts über ihre Geschichte. Das läge an den Tätern, die ihre Spuren nach dem Zweiten Weltkrieg zu verwischen wussten, oft auch an der Natur, die sich die Orte zurückgeholt habe, aber manchmal eben auch den Gedenkstätten selbst. Um die Gestaltung der Orte heute zu verstehen, müsste man sich daher mit ihrer Geschichte nach 1945 beschäftigen, genauso wie mit der Shoa.

Beschäftigung mit Nachkriegsgeschichte zentral

Wichtig bei der Auseinandersetzung mit der Thematik sei, sich bewusst zu machen, dass der deutsche Fall im internationalen Vergleich eine Ausnahme bilde und Vergleiche deutscher Erinnerung mit der anderer Nationen daher immer mit besonderer Vorsicht geschehen müssten. Die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte aus deutscher Perspektive habe dazu geführt, dass die gesamte Shoa in Deutschland als Teil der deutschen Geschichte betrachtet und immer auch in Verbindung mit den Traditionen des Antisemitismus in Deutschland und Europa behandelt würde. Andere nationale Perspektiven, welche die Opferrolle der Juden weniger zentral behandelten, würden daher von Deutschen oft nicht verstanden.

Gerade beim Besuch von Gedenkstätten außerhalb Deutschlands würde sich das bemerkbar machen. Die Art der Erinnerung würde von Deutschen oft mit Skepsis und Unverständnis betrachtet. Als Vorbild für andere Gesellschaften dürfte die deutsche Art und Weise des Erinnerns aber nicht dienen: ein solcher Ansatz würde vielmehr in eine "intellektuelle Sackgasse" führen, da Unterschiede dann automatisch als Rückständigkeit gedeutet würden.

Jörg Ganzenmüller sprach anschließend konkret über die Unterschiede der polnischen, ukrainischen und weißrussischen Erinnerung. Um diese zu verstehen, müsse man sich zunächst der Unterschiede in der historischen Perspektive bewusst werden. So sei die polnische Erinnerung geprägt von den Schrecken der deutschen Besatzung und - so wie auch die ukrainische und weißrussische - heterogen. Schon während des Zweiten Weltkriegs habe es in Polen unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben, inwieweit es sich bei jüdischen und nicht jüdischen Polen um eine gemeinsame Schicksalsgemeinschaft handeln würde. So gebe zum einen die Erzählung von der einen, durch die deutsche Terrorherrschaft verbundenen Gemeinschaft, als auch die von Juden als Opfern antisemitischer Polen: Polen als Mittäter, mitverantwortlich für den Tod tausender polnischer Juden.
Bis heute würden diese beiden zeitgenössischen Sichtweisen die geschichtswissenschaftliche Debatte prägen. Gegen eine kritische Geschichtsschreibung würden sich Verfechter eines nationalen Geschichtsbildes jedoch vehement wehren. Ähnlich kompliziert sei auch die Debatte über das Verhältnis von nationalpolnischem Widerstand und jüdischer Bevölkerung. Beide seien jedoch Opfer des Nationalsozialismus - an Orten der Shoa. Der Fokus der Erinnerung liege dort jedoch heute oft nicht auf den jüdischen Opfern, sondern auf "nationalen Heldenmythen", so Ganzenmüller.

Dies gelte genau so auch für die Ukraine und Weißrussland. Diese daraus resultierende "Opferkonkurrenz" geht im Falle der Gedenkstätte Auschwitz weit zurück, nämlich bis in das Jahr 1946, als die Gedenkstätte unter der Überschrift "Vernichtung von Millionen" gegründet wurde. Der Ermordung der Juden wurde nicht gesondert gedacht.

Opferkonkurrenz

In Polen sei Auschwitz über die Jahre zum Symbol für die Leiden der Bevölkerung unter deutscher Besatzung geworden. Ganz anders also als in Deutschland, wo kein Ort so sinnbildlich für den Holocaust und den Massenmord an den Juden Europas stehe. Um das verstehen und einordnen zu können, sei es wichtig, über die deutsche Besatzungsherrschaft in Polen Bescheid zu wissen. Gleichzeitig sei es problematisch, wenn Deutsche in Auschwitz eine rein jüdische Opferperspektive einnähmen und dabei das Leid, das die deutschen Besatzer über die polnische Bevölkerung gebracht haben, außer Acht ließen. Noch problematischer sei es, wenn deutsche Besucher im gleichen Atemzug auch die Frage nach der polnischen Mitverantwortung stellten.

In der Sowjetunion sei die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine Erinnerung an die "Verteidigung des Vaterlandes" gewesen. Opfer seien gleichermaßen "Opfer des Faschismus", individuelles Gedenken dabei kaum möglich gewesen. Als Beispiel dafür nannte Ganzenmüller das 1976 errichtete Denkmal von Babyn Jar, das an die mehr als hunderttausend Bürger von Kiew sowie Kriegsgefangenen erinnerte, die von Deutschen ermordet wurden. "Falsch" sei das nicht, aber es greife nicht weit genug, schließlich seien in Babyn Jar im September 1941 in zwei Tagen mehr als 33.000 Kiewer Juden erschossen worden - die bis zu diesem Zeitpunkt größte Massenerschießung der deutsche Besatzer.

Heute würden in der Ukraine sehr widersprüchliche Geschichtsbilder herrschen. Babyn Jar sei in gewisser Weise Ausdruck dessen: Dort existiere inzwischen ein ganzer "Denkmalpark", da eine Vielzahl geschichtspolitischer Akteure dort versuche, den Ort mit einem ganz bestimmten Opfernarrativ zu verknüpfen.

In Belarus hingegen gebe es bis heute keine gesellschaftliche Debatte über den Zweiten Weltkrieg, weshalb das Gedenken weiterhin in den "sowjetischen Formen" stattfinde: "Sowjetischer Heldenkult und individuelles Totengedenken sind amalgamiert", also miteinander verschmolzen, formulierte Ganzenmüller.

Seinen Vortrag zusammenfassend erinnerte der Historiker noch einmal daran, dass die unterschiedlichen Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg und die Shoa lokal und von den jeweiligen Nachkriegserfahrungen geprägt seien, und dass die jeweiligen Gedenkstätten im Kontext dieser Erfahrungen stünden. Um das verstehen zu können, müsse man die jeweiligen Kontexte kennen. Und dennoch sei es wichtig, Gedenkstätten auch kritisch zu begegnen. Dafür seien zwei Fragen hilfreich, die man an jede Einrichtung - unabhängig von Ort und Kontext - richten könne: Dies sei zum einen die Frage nach der Wahrung der Würde der Opfer: Wird die Totenruhe respektiert und werden Gräber geschützt? Wird darauf verzichtet, die Opfer zu vereinnahmen? Und zum anderen die Frage nach dem Umgang mit den Besuchern: Werden sie durch Gräuelgeschichten überwältigt oder gar indoktriniert? Oder wird Raum für eigenständiges Denken gelassen? Entscheidend - so sagte Ganzenmüller abschließend - sei es, dass Gedenkstätten eine Haltung zur Shoa einnähmen. An den allermeisten Orten der Erinnerung in Osteuropa sei das der Fall.

Deutsche Erinnerungskultur kein Maßstab

In der anschließenden Diskussion betonte Ganzenmüller noch einmal seinen Standpunkt, die eigene deutsche Art der Erinnerungskultur sei selbstverständlich kein Maßstab für das Gedenken in anderen Ländern. Auch an der Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur gebe es viel zu kritisieren. So seien zum Beispiel die Verbrechen an Nichtjuden im deutschen Bewusstsein nicht verankert. Auch sei es problematisch, dass deutsche Akteure Gedenkstätten in Osteuropa mit solchen in Deutschland vergleichen würden. Das sei falsch, denn auch deutsche Gedenkstätten hätten Besonderheiten, weil sie eben die deutsche Debatte widerspiegelten und die würde anders geführt, als zum Beispiel die polnische. Gedenkstättenarbeit in Polen müsse also sogar anders sein. Und dennoch sollte man auch aus deutscher Sicht Gedenkstätten in Polen und anderen osteuropäischen Ländern kritisch betrachten können, gerade um nicht überheblich, sondern um auf Augenhöhe zu debattieren.

Aufgegriffen wurde auch die letzte Anmerkung Ganzenmüllers zu den beiden Fragen, die man über den nationalen Kontext hinweg gegenüber jeder Gedenkstätte stellen sollte. In diesem Zusammenhang fragten die Teilnehmenden der Fachtagung nach konkreten Beispielen der Überwältigung im Gedenkstättenbereich. Beispielhaft nannte der Historiker das Haus des Terrors in Budapest (Terror Háza Múzeum), eine museale Gedenkstätte in deren Gebäude während des Zweiten Weltkriegs die Faschisten, und nach Kriegsende die kommunistischen Sicherheitsbehörden ein Foltergefängnis unterhielten. Dort seien er und seine Gruppe während einer Führung in einen Aufzug geleitet worden, der unangekündigt so langsam in den nächsten Stock fuhr, dass ein sehr unangenehmes Gefühl der Beklommenheit bei den Teilnehmenden entstanden sei. Als sich die Tür wieder öffnete, habe man ihnen gesagt, nun wüssten sie, wie es ist, eingesperrt zu sein.
Ein weiteres Beispiel sei das Museum des Warschauer Aufstandes (Muzeum Powstania Warszawskiego). Auch hier würden die Besucher symbolische Überwältigung erfahren. Vergleichbares finde man in ganz Europa und wahrscheinlich auch weltweit, und das dürfe man natürlich kritisieren. Aber, daran erinnerte Ganzenmüller zum Abschluss, auch in Deutschland würden Debatten über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg kontrovers geführt. Dies sei kein Spezifikum eines bestimmten Landes.

Ein Interview mit Interner Link: Jörg Ganzenmüller finden Sie hier.

"...Maly was?" Ausgewählten Erinnerungsorten nationalsozialistischer Massenmorde in Osteuropa heute begegnen

Viele Orte nationalsozialistischer Verbrechen in Osteuropa sind in Deutschland bekannt. Auschwitz kennt jeder, Trebklinka die meisten und viele auch Majdanek. Weniger werden es schon bei Babyn Jar. Maly Trostenez kennt beinahe niemand mehr - daran angelehnt stand der Titel des Weltcafés, das das Programm des Nachmittags bestimmte.

Museum des ehemaligen Vernichtungslagers Kulmhof am Ner

Anna Ziółkowska stellte das Vernichtungslager Kulmhof in Polen vor. Das Lager wurde 1941 auf Geheiß des Gauleiters des "Reichsgaus Wartheland", Arthur Greiser, in der Stadt Chełmno nad Nerem auf dem sogenannten "Schlossgelände", einem unbewohnten Gutshaus mit Park und Wirtschaftsgebäuden errichtet und bestand in zwei Phasen. Die erste Phase dauerte vom 8. Dezember 1941, der Ankunft des ersten Transports, bis zum 11. April 1943, der Sprengung des Krematoriums. Die Menschen aus den Transporten wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaswagen ermordet und daraufhin im sogenannten Waldlager in Massengräbern verscharrt. Im Rahmen der Auflösung des Massenvernichtungsortes wurde am 7. April 1943 auch das Gutshaus gesprengt. Nach der Auflösung des Ghettos Litzmannstadt (Łódź) im April 1944 wurde Kulmhof noch einmal genutzt, um zwischen dem 23. Juni und 14. Juli 1944 Juden aus dem aufgelösten Ghetto zu ermorden. Einen Überblick über die Arbeit des seit 2014 bestehenden Museum des ehemaligen Vernichtungslagers Kulmhof am Ner gab Bartłomiej Grzanka. Er beschrieb die pädagogischen Möglichkeiten, die das Museum den Besuchern der Gedenkstätte bietet. Dazu gehören insbesondere Führungen und Workshops in polnischer und englischer Sprache sowie eine Ausstellung, in der Alltagsgegenstände gezeigt werden, die bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Gelände geborgen wurden. Das Museum besteht aus zwei Teilen, dem ehemaligen Gutshaus und dem Waldlager, das einige Kilometer entfernt liegt.

Interner Link: Impressionen aus dem Weltcafé: "...Maly was?"

Weltcafé: "...Maly was?"

(© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller)

Staatliches Museum Majdanek

Wiesław Wysok und Agnieszka Kowalczyk-Nowak stellten die Geschichte des nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek sowie die Geschichte des dort heute ansässigen staatlichen Museums vor. Anschließend erklärten sie den Tagungsteilnehmern das museale und pädagogische Konzept. Dabei betonten sie, dass Schülerinnen und Schüler nach dem Museumsbesuch oft sagen würden, weniger gelernt als vielmehr etwas erfahren zu haben. Diese nicht nur kognitive Sphäre solle didaktisch berücksichtigt werden und als Anreiz wirken, Jugendliche allgemein mehr für Geschichte und speziell für den Komplex der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Opfer zu interessieren.

Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers in Sobibor

Über das ehemalige Vernichtungslager in Sobibor sprachen Tomasz Oleksy-Zborowski von der Gedenkstätte Majdanek und Tomasz Kranz vom dazugehörigen Staatlichen Museum Majdanek in Lublin, in dessen Verantwortung auch das Gedenken in Sobibor liegt. Oleksy-Zborowski berichtete über die Neugestaltung der Gedenkstätte in ein Museum und die konzeptionellen Unterschiede zu Majdanek. Im Zentrum der Diskussion mit den Teilnehmenden der Fachtagung standen Fragen nach der Finanzierung, nach Besucherzahlen und dem aktuellen Stand hinsichtlich der archäologischen Forschung am Standort des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibor.

Museum des Kampfes und des Martyriums in Treblinka

Peter Wetzel von der Geschichtswerkstatt Merseburg-Saalekreis stellte die Gedenkstätte in Treblinka vor und berichtete von seinen Erfahrungen, die er beim Besuch der Gedenkstätte mit Schulklassen verschiedener Jahrgangsstufen sammeln konnte. Darüberhinaus referierte Wetzel über didaktische Möglichkeiten vor Ort und erklärte, wie der Aufenthalt von Schulklassen vor- und nachbereitet werden könnte.

In Anlehnung an ein Schulprojekt wurde allen Teilnehmenden zum Ende des Workshops ein Knopf ausgehändigt: Schülerinnen und Schüler hatten 17.000 Knöpfe zusammen getragen, um sich die Anzahl der Menschen zu vergegenwärtigen, die jeden Tag in Treblinka II ermordet wurden.

Museum-Gedenkstätte in Bełżec

Tomasz Hanejko und Ewa Koper berichteten von Ihrer Arbeit in der Gedenkstätte Bełżec. Bełżec war das erste Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt". Zwischen März und Dezember 1942 ermordete die SS hier etwa 500.000 Juden. Seit 1963 befindet sich auf dem ehemaligen Lagergelände ein Denkmal, 2004 wurde eine Gedenkstätte mit Museum eröffnet.

Maly Trostenez & Blagowschtschina

Sabrina Bobowski von der Minsker Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte "Johannes Rau" und Aliaksandr Dalhouski von der Geschichtswerkstatt Minsk sprachen mit den Tagungsteilnehmern über das Vernichtungslager Maly Trostenez. Entstanden im April und Mai 1942 wurden hier bis 1944 zwischen 40.000 und 60.000 Menschen, größtenteils Juden ermordet. Zwar wurden in Maly Trostenez auch "Gaswagen" eingesetzt, die meisten Menschen wurden jedoch im nahegelegenen Wald von Blagowschtschina erschossen.

2016 sei mit dem Bau einer Gedenkstätte in Blagowschtschina begonnen worden. Zentraler Erinnerungsort während der Sowjetzeit sei ein Obelisk in Trostenez gewesen, erklärten Bobowski und Dalhouski. Maly Trostenez & Blagowschtschina sei heute vor allem ein jüdischer Erinnerungsort. Dass dort hauptsächlich Jüdinnen und Juden ermordet wurden, würde aber bislang nur selten erwähnt. Die Minsker Geschichtswerkstatt organisiert Zeitzeugengespräche, Seminare und Führungen und unterhält ein Archiv.

Babyn Jar

Das Ukrainian Center for Holocaust Studies in Kiew wurde 2002 gegründet. Anatoly Podolsky und Vitalii Bobrov sprachen mit den Tagungsteilnehmern über ihre Arbeit vor Ort. Die NGO fördert Holocaust-Forschung und -Erziehung, bietet Seminare an, veranstaltet Konferenzen und ist in verschiedenen internationalen Netzwerken aktiv, u.a. bei "Protecting Memory": Der Zusammenschluss mehrerer Initiativen betreut ehemalige Vernichtungsstätten in der Ukraine und wandelt die ehemaligen Massengräber in Gedenkstätten um. Die massenhafte Ermordung in Babyn Jar bei Kiew steht im besonderen Fokus der Arbeit des Ukrainian Center for Holocaust Studies. Dabei legen die Forscher wert darauf, dass viele Minderheiten Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen wurden. Verschiedene Ausstellungen in den vergangenen Jahren erinnerten daher konkret auch an den Völkermord an den Roma.

Massenerschießungsorte in der Ukraine

Einen weiteren Schwerpunkt hat das Center in der Aufarbeitung der Massenerschießungen in der Ukraine. Mykhaylo Tyaglyy (Ukrainian Center for Holocaust Studies) berichtete, wie die Massenerschießungsorte heute wahrgenommen würden, und dass sich in der Ukraine langsam eine Gedenkstättenkultur entwickeln würde. Generell habe die Aufarbeitung des Holocaust in der Ukraine erst spät begonnen - viele Orte des Verbrechens seien in der Ukraine bis heute nicht gekennzeichnet, die öffentliche Wahrnehmung erfolge dementsprechend kaum oder gar nicht. Anlehnend an den Vortrag von Jörg Ganzenmüller am Vortag, diskutierten die Tagungsteilnehmer über die Unterschiede zwischen deutscher und ukrainischer Gedenkstättenkultur.

Projektmarkt

Unterschiedlichste Stiftungen, Vereine, Gedenkstätten und Museen beschäftigen sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus. Sie befassen sich mit der Erinnerung und der Auseinandersetzung mit dem System und seinen Verbrechen: sie informieren vor Ort, organisieren Besuche in Gedenkstätten, Studienreisen und Jugendbegegnungen. Zehn ausgewählte Akteure stellten ihre Arbeit während der Fachtagung im Rahmen eines Projektmarktes vor. Hier gelangen Sie zu einer Interner Link: Bildergalerie, mit Informationen über alle Projekte.

Interner Link: Impressionen aus dem Projektmarkt.

Projektmarkt

(© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller) (© Christian Möller)

Der zweite Tag der Fachtagung startete mit zwei Arbeitsgruppenphasen, während derer sich die Teilnehmenden zwischen verschiedenen Themen entscheiden konnten.

Auf den Spuren der deutschen Besatzung in Minsk

Aliaksandr Dalhouski von der Geschichtswerkstatt Minsk und Adam Kerpel-Fronius von der Berliner Stiftung "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" informierten die Tagungsteilnehmer über die Stätten der Erinnerung an die Massenverbrechen sowie der deutschen Besatzung in Minsk und Umgebung. Die beiden Referenten erklärten, dass der Zweite Weltkrieg bis heute enorm präsent in der weißrussischen Gesellschaft sei: Der Tod eines Viertels der Bevölkerung und der Wunsch nach Frieden seien zentrale Aspekte der Identitätsstiftung. Zu den wichtigen Erinnerungsorten gehöre vor allem die Gedenkstätte Maly Trostenez samt des Waldes von Blagowschtschina, an dem vor allem tausende Jüdinnen und Juden erschossen wurden. Bis vor kurzem wäre der Zugang zu dem Waldgebiet noch von öffentlicher Seite, durch das Abladen von Müll, erschwert worden. Nun entstehe aber auch dort eine Gedenkstätte, so Kerpel-Fronius. Dies hänge auch damit zusammen, dass ausländische Initiativen - vor allem solche von Familienangehörigen der Opfer - eine offensivere Erinnerungspolitik anregten und der belarussische Staat sich dann auch beteiligen würde.
In Minsk hingegen könne man Denkmäler für die Opfer des Holocaust sowie des Kriegsgefangenenlagers "Stalag 352" besichtigen. Zudem würde der "Platz des Sieges" in der Innenstadt häufig für Feierlichkeiten genutzt werden. Bei der Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen Akteuren und staatlichen Vertretern könne die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte "Johanes Rau" helfen; sie betreibt auch die Geschichtswerkstatt "Leonad Lewin" in Minsk. Diese thematisiere vor allem die Ghettoisierung der Stadt und baue zurzeit ein Online-Zeitzeugenarchiv auf, erklärte Dalhouski. Zudem warben die beiden Referenten ausdrücklich für eine Studienreise nach Minsk. Es sei eine attraktive und ansehnliche Stadt und "gerade einmal eine Flugstunde von Berlin entfernt."

Auf den Spuren des Holocausts in Lemberg

Steffen Hänschen vom Bildungswerk Stanisław Hantz leitete die Arbeitsgruppe zu den "Spuren des Holocausts in Lemberg". Hänschen skizzierte darin zunächst die Geschichte der Stadt während der deutschen Besatzung. Neben der verlustreichen Zwangsghettoisierung von Juden hob er dabei auch Arbeits- und Transitlager sowie Erschießungsstätten hervor, die in und um Lemberg lagen. Ein breiter angelegtes Erinnerungsprojekt sei bislang nur am ehemaligen Standort der Synagoge umgesetzt worden: Schon in den 1990er-Jahren sei dort ein Denkmal für die Opfer des Ghettos errichtet worden. In dessen unmittelbarer Nähe sei nun der Erinnerungsort "Territory of Terror" entstanden. Dessen Konzept sehe zwar eine integrale Konzeption der Erinnerung an die nationalsozialistische Herrschaft und die sowjetischen Deportationen vor, stelle letztere aber deutlich in den Vordergrund. Die von Hänschen daran festgemachten erinnerungskulturellen Konfliktpotenziale spiegelten sich auch in der Diskussion: Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Ukraine, Polen und Deutschland diskutierten verschiedene Perspektiven auf die interdependenten Gewalthandlungen und -erfahrungen.

Auf jüdischen Spuren in Galizien

Eva Schulz-Jander gab einen Einblick in die jüdische Kultur vor Beginn des Zweiten Weltkrieges. Sie betonte die bis in die Gegenwart anhaltende Bedeutung von Galizien für deren Entwicklung und Erhaltung und konzentrierte sich dabei vor allem auf die Schtetl-Kultur. Dabei bezog sie sich auch auf die jüdisch geprägten Städte Lemberg und Czernowitz, in denen die jüdische Sprache und Kultur prosperierten. Sie erklärte, dass die einfachen und von Armut geprägten Schtetl sich um 1900 als vermeintliche Zentren des reinen und authentischen, jüdischen Lebens zum Sehnsuchtsort jüdischer Intellektueller entwickelten.

Schulz-Jander gab einen guten Überblick über die zeitgenössische jiddische, hebräische und deutsche Literatur zur Schtetl-Kultur sowie ihrer Verfasser. Darüber hinaus bot sie interessante und hilfreiche Hinweise zu Orten, die noch heute erhalten sind, an die Schtetl-Kultur erinnern und im Rahmen von Studienfahrten besichtigt werden können.

Ein Interview mit Interner Link: Eva Schulz-Jander finden Sie hier.

Auf den Spuren der ehemaligen Lager der "Aktion Reinhardt"

Treblinka, Belzec und Sobibor. In knapp 18 Monaten wurden hier ab Juli 1942 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Heute gilt die "Aktion Reinhardt" als Übergang zum industriellen Massenmord durch Giftgas.

Andreas Kahrs vom Bildungswerk Stanisław Hantz in Berlin machte auf die Besonderheiten der "Aktion Reinhardt" aufmerksam. Ursprünglich sei die Abschiebung der Jüdinnen und Juden in weiter entfernte östliche Gebiete geplant gewesen. Die Durchführung der Transporte sei durch den Kriegsverlauf allerdings unmöglich geworden. Insofern sei ungewiss, ob die Ermordung aller Juden von Beginn an geplant gewesen sei. 120 Täter seien heute namentlich bekannt. Hervorgehoben werden müsste, dass unter diesen nur neun der SS zugehörig waren, alle anderen seien "normale Bürger" gewesen, also "ehemalige Maler, Lackierer, Handwerker". Generell sei im Zusammenhang mit der "Aktion Reinhardt" die große Zahl der zivilen Täterschaft "frappierend".

In diesem Zusammenhang auch entscheidend sei die Rolle Lublins gewesen, als "Ort der Täter". Die Akteure vor Ort, konkret die Zivilverwaltung hätte die Entscheidungsmacht gehabt. Das Zusammenleben auf engem Raum habe außerdem dazu geführt, dass nichts im Geheimen ablief, "man kannte sich." Die Deportationen nach Lublin fanden in Personenwagen statt und das den Juden geraubte Hab und Gut wurde für alle öffentlich ersichtlich verkauft. "Das war bekannt", erklärte Kars. Sogar genaueste Abrechnungen gebe es darüber. Generell sei vieles ausführlich dokumentiert worden, daher stammten einige Schlüsseldokumente zum Holocaust aus Lublin. Auch deswegen würden sich Zusammenhänge und Geschehen der "Aktion Reinhardt" in den unterschiedlichen Gedenkstätten vor Ort gut erfahren und begreifen lassen, da neben der Möglichkeit zur Begehung der Orte auch viele Dokumente einsehbar seien.

Gedenkstättenfahren in der Migrationsgesellschaft … ja und?

Céline Wendelgaß von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main konzentrierte sich in ihrem Workshop auf die Probleme und Chancen bei der Planung und Durchführung von Gedenkstättenbesuchen mit Gruppen, die sich mit unterschiedlichen Erwartungen, Perspektiven und Sozialisierungen dem Thema nähern. Zu Beginn erläuterte sie, dass es häufig als problematisch empfunden werde, wenn Menschen, insbesondere Jugendliche muslimischen Glaubens, Teil einer Besuchergruppe seien. Sie betonte, dass sich Perspektiven und Zugänge zum Thema Holocaust und Nationalsozialismus jedoch nicht nur zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, sondern auch zwischen Menschen verschiedener Generationen, politischer Einstellungen und Sozialisierungen unterschieden: Jeder Mensch habe aus seiner Biografie heraus einen eigenen Zugang zum Thema.

Um Jugendliche zu animieren, Gedenkstätten zu besuchen und diese Besuche fruchtbar zu gestalten, sei es wichtig, dass die Begleitpersonen den Besuchern genug Raum ließen, sich der Thematik auf eine persönliche Weise zu nähern. Wendelgaß betont außerdem die Bedeutung der Freiwilligkeit des Besuches: Niemand solle genötigt werden eine Gedenkstätte zu besuchen, ein Lerneffekt könne dann nicht eintreten. Die Begleitpersonen sollten sich zudem immer wieder daran erinnern, dass der Besuch einer Gedenkstätte für viele Besucher eine schwierige emotionale Situation darstelle und die Ängste und Reaktionen, gerade auch von Schülerinnen und Schülern ernst genommen werden müssten. Selbst ein augenscheinlich unangemessenes Verhalten wie Lachen könne eine natürliche Reaktion auf Unbehagen sein. Für den Umgang mit moralischen Fragen sei die Vor- und Nachbereitung des Besuchs essentiell. Vor Ort sollten die Begleitpersonen hingegen auf moralische Belehrungen verzichten. Für den gesamten Prozess gelte, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht ausgegrenzt werden dürften. Ihnen zu suggerieren, die deutsche Geschichte sei nicht ihre Geschichte, würde nur eine Abwehrhaltung auslösen. Vielmehr sei es wichtig, biografische Besonderheiten einzelner Gruppenmitglieder aufzugreifen und einzubinden. Der Zweite Weltkrieg biete dafür genügend Raum und Möglichkeiten.

Lernort Gedenkstätte. Auch für die Rechtsextremismusprävention?

Im Mittelpunkt des Workshops von Michael Sturm von der Villa ten Hompel in Münster stand die Frage, ob sich (verpflichtende) Gedenkstättenfahrten als Maßnahme zur Rechtsextremismusprävention eigneten. Ausgehend von vier Thesen könne einerseits das Fazit gezogen werden, dass Gedenkstätten keine geeigneten Orte für pädagogische Maßnahmen zur Rechtsextremismusprävention seien. Andererseits sei eine gegenteilige Schlussfolgerung aber auch nicht falsch.
Die vier Thesen lauteten:

  1. Die ausdifferenzierte Gedenkstättenlandschaft fördert eine politische Kultur, in der die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Erscheinungsformen von Rechtsextremismus und Rassismus als eine wichtige Aufgabe erkannt wird

  2. Die Verengung auf den historischen Nationalsozialismus kann eine Beschäftigung mit aktuellem Rechtsextremismus und Rassismus jedoch "verstellen"

  3. Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rassismus muss in der Gegenwart ansetzen

  4. Rechtsextremismus und Rassismus sind nicht nur Ausdruck individueller Vorurteile, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse

Das Fazit, Gedenkstättenfahrten seien als pädagogische Maßnahmen ungeeignet zur Prävention von Rechtsextremismus, ergebe sich aus der Kritik, dass solche Fahrten nur "kurzzeitpädagogische" Situationen und oftmals "Zwangsveranstaltungen" darstellten, erklärte Sturm. Darüber hinaus führten Gedenkstätten als "moralisch überhöhte" Orte vielfach zu einer Überwältigung und würden somit "freie Meinungsäußerung verbieten". Eine situative Betroffenheit vor Ort würde nicht unbedingt auf die eigene Lebensrealität übertragen.

Diese Beobachtungen sollten jedoch nicht die positiven Aspekte von Gedenkstättenfahrten ausklammern. Gedenkstätten "veranschaulichten" und konkretisierten die Geschichte "vor Ort", sie böten die Möglichkeit zur Alteritätserfahrung, und als "diskursive Räume" erlaubten sie es, Geschichte als Gesprächsanlass zu nehmen.

Im letzten Teil des Workshops wurde im Plenum ein Fallbeispiel diskutiert. Das Beispiel verwies auf eine gewünschte Schülerfahrt nach Buchenwald, organisiert von der Schülervertretung. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Workshops erörterten dabei, welche Aspekte die Schülervertretung bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Gedenkstättenfahrt beachten sollte.

Den Tod kalkuliert. Rotarmisten in deutscher Kriegsgefangenschaft

Nicht nur verschiedene Orte nationalsozialistischer Verbrechen stehen "im Schatten von Auschwitz", sondern auch die Verbrechen der Nationalsozialisten an einzelnen Gruppen sind im öffentlichen Diskurs oft wenig präsent. Hierzu gehört u.a. der Umgang mit Kriegsgefangenen der Roten Armee. Darüber sprachen die Teilnehmenden mit Jens Nagel von der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain und Andreas Ehresmann von der Gedenkstätte Lager Sandbostel.
Bereits vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 sei am Ausbau eines flächendeckenden Netzes an Kriegsgefangenenlagern gearbeitet worden. Später seien russische Kriegsgefangene dann vor allem in sogenannten "Russenlagern"- systematisch und bürokratisch verwaltet - zur Arbeit gezwungen worden. Dadurch wiederum hätten Kriegsgefangene in der deutschen Kriegsgesellschaft zum Alltag gehört, sie seien allgegenwärtig gewesen. Die Komplexe machten heute die Verstrickung von Wehrmacht, SS, ziviler Verwaltung und lokalen Akteuren deutlich. Der Wehrmacht sei dabei eine zentrale Stellung zugekommen: Sie habe der Gestapo die Kompetenz übertragen, in von der Wehrmacht betriebenen Kriegsgefangenenlagern nach Personen zu suchen, die das NS-System als "gefährlich" kategorisiert hatte. Dies habe in den meisten Fällen ihre Verlegung in ein Konzentrationslager bedeutet - oder ihre direkte Ermordung durch die SS.

Geheim seien Kriegsgefangenenlager nie gewesen, erklärten Nagel und Ehresmann. Sie seien sogar teilweise Teil der medialen Berichterstattung – z.B. bei Gefangenenausbrüchen – und Propaganda gewesen. Heute könnte das für die pädagogische Arbeit genutzt werden: Forschung zu Kriegsgefangenen in der unmittelbaren räumlichen Umgebung der Interessierten könnte plastisch zu Ergebnissen führen. Dabei könne auch der westdeutsche Umgang mit dem Gedenken an sowjetische Kriegsgefangene besprochen und reflektiert werden: Denn im Zuge des Kalten Krieges sei es in (West-)Deutschland nicht unüblich gewesen, Denkmäler zu schleifen, die an sowjetische Kriegsgefangene erinnern sollten. Auch hier gebe es also zahlreiche Ansatzpunkte.

Täter in grünen Uniformen. Die Rolle der Polizei im Holocaust

Thomas Köhler, pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster, verwies zu Beginn der Arbeitsgruppe auf die zentrale Bedeutung einer Tätergruppe, die öffentlich nur selten wahrgenommen werde. So waren nicht nur SS und Wehrmacht am Krieg in Osteuropa und an den dortigen Verbrechen beteiligt. Auch Sparten der Polizei führten Deportationen und Massenerschießungen durch, wie zum Beispiel in der Schlucht von Babyn Jar bei Kiew: Am 29. und 30. September 1941 wurden hier mehr als 33.000 Juden unter der aktiven Beteiligung der Ordnungspolizei erschossen. Köhler hob hervor, dass Polizeibataillone an 62 Prozent der verübten Morde an Juden im Holocaust entweder direkt durch Erschießungen oder mittelbar durch die Organisation von Deportationen in Vernichtungslager involviert waren.

Die Verbrechen seien von Polizisten verübt worden, die zum Teil schon in der Weimarer Republik ausgebildet und sozialisiert worden waren. Köhler sensibilisierte das Publikum dafür, dass Konstellationen, die Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus zu Verbrechern werden ließen, auch heute reproduzierbar und – in anderer Art und Weise – wiederholbar seien. Das grundsätzliche Potenzial für polizeiliche und gesellschaftliche Gesetzesüberschreitungen, für das rechtswidrige Handeln außerhalb von schriftlichen Weisungen, sei nach wie vor vorhanden. Die Auseinandersetzung mit der Polizeigeschichte könne Polizistinnen und Polizisten, aber auch Schülerinnen und Schülern helfen, eigene moralische Prinzipien zu entwickeln und zu stärken. Übergeordnete Anordnungen und verfestigte Handlungsmuster könnten dann leichter kritisch reflektiert und bewertet werden.

"Woher nehmen, wenn nicht ...?" Finanzierungsmöglichkeiten im Gedenkstättenbereich

Neben Ideen, Enthusiasmus und auch viel ehrenamtlicher Arbeit benötigt die gelungene Durchführung von Gedenkstättenarbeit vor allem eins: Geld. Peter Junge-Wentrup vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund und Piotr Kwatkowsky vom Deutsch-Polnischen Jugendwerk sprachen daher zum Abschluss der Fachtagung über Finanzierungsmöglichkeiten im Gedenkstättenbereich.

Ein ausführliches Interner Link: Interview mit Peter Junge-Wentrup finden Sie hier.

Weitere Informationen über Interner Link: Möglichkeiten der öffentlichen Förderung finden Sie hier.

Fussnoten