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Podiumsdiskussion: Einheit und Einigkeit: Wie einig waren wir damals und wie viel Einheit braucht es heute? | 17. Bensberger Gespräche 2020 | bpb.de

17. Bensberger Gespräche 2020 Eröffnungsvorträge: 30 Jahre Deutsche Einheit - 30 Jahre Armee der Einheit Podiumsdiskussion: Wie einig waren wir damals und wie viel Einheit braucht es heute? Europas Blick auf die deutsche Wiedervereinigung Workshop: Die Transformation Osteuropas: Kooperation oder Konfrontation? Workshop: Die Arbeit der Treuhandanstalt Workshop: Innere Führung Workshop: Innovation in der historisch-politischen Bildung Workshop: Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland Impulsvorträge: Wertewandel - Innere Führung und Gesellschaft Podiumsdiskussion: Einheit als gesellschaftliche Herausforderung – Integration, Abgrenzung und Polarisierung Zusammenfassung und Ausblick

Podiumsdiskussion: Einheit und Einigkeit: Wie einig waren wir damals und wie viel Einheit braucht es heute?

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Teilnehmende der Podiumsdiskussion bei den 17. Bensberger Gespräche 2020 (v. l. n. r.): Thomas Krüger (Bundeszentrale für politische Bildung), Kapitän zur See Dr. Jörg Hillmann (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr), Außenminister a.D. Markus Meckel, Moderatorin Dörte Hinrichs, Prof. Dr. Thomas Großbölting und Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk. (© bpb, BILDKRAFTWERK/Zöhre Kurc (© bpb, BILDKRAFTWERK/Zöhre Kurc)

In der ersten, von Dörte Hinrichs moderierten Podiumsdiskussion wurden diverse Aspekte der Auflösung und Integration der Nationalen Volksarmee (NVA) sowie der deutschen Einheit adressiert und kontrovers diskutiert. Markus Meckel, nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR deren letzter Außenminister, konstatierte, dass die Deutschen jenes Volk Europas seien, das sich selbst am wenigsten kenne: Für die meisten Westdeutschen sei die deutsche Geschichte von 1945 bis 1990 eine rein westdeutsche und erst ab 1990 wieder eine gemeinsame. Auch die Vereinigung werde oft dergestalt betrachtet, dass mutige Menschen 1989 für die Freiheit demonstrierten, bis dann westdeutsche Politiker die Einheit durchführten – während diese in Wirklichkeit das Verhandlungsergebnis zweier demokratisch gewählter Regierungen war. Jene frei gewählte Regierung der DDR wurde jedoch in der Regel vom Westen damals nicht anders behandelt als die vorigen Kommunisten.

Für Kapitän zur See Dr. Jörg Hillmann, Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), war der "gemeinsame Zeichenvorrat" der Soldaten das "Geheimnis, dass die Armee der Einheit so gut gelingen konnte": Tapferkeit und Pflichtgefühl haben für alle Soldaten eine hohe Bedeutung und sind somit entsprechend übertragbar. Für ihn kommt das Stationierungskonzept der Bundeswehr in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz: Viele marode Liegenschaften in Ostdeutschland wurden instandgesetzt; vor allem wurden von Beginn an zahlreiche Behörden in die neuen Bundesländer verlegt, beispielsweise das Marinekommando nach Rostock, die Offiziersschule des Heeres nach Dresden und das Militärgeschichtliche Forschungsamt nach Potsdam, um nur einige zu nennen. Die Übergabe des großen Bestandes militärischen Materials (einschließlich der zahlreichen Handfeuerwaffen) von der NVA an die Bundeswehr war gut vorbereitet und geschah unter Gewährung der militärischen Sicherheit.

Prof. Dr. Thomas Großbölting, Historiker an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, unterstrich, dass 1990 nicht das vielzitierte "Ende der Geschichte" eintrat, sondern vielmehr ein Aufbruch in die "entsicherte Gesellschaft": 80 Prozent der Arbeitnehmer der einstigen DDR hatten 1995 entweder ihre Arbeit gewechselt oder waren arbeitslos. Während das militärische Material der NVA als unbrauchbar bewertet wurde, sei dies mit der heutigen Ausstattung der Bundeswehr nur wenig anders, während es ideologisierte Feindbilder auf beiden Seiten der Grenze gegeben habe.

Der Historiker und Publizist Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk konstatierte, dass es ihm "vor zehn Jahren nicht in den Sinn gekommen wäre, sein Buch ‚Die Übernahme‘ zu nennen". Er selbst habe als Jugendlicher "die volle Wucht des Staates" erlebt. Die Schwierigkeiten, NVA-Soldaten zu übernehmen, überraschten ihn nicht: Dieselben Leute, "die geplant und geübt hatten, Hamburg, Brüssel und Paris anzugreifen, krochen nun plötzlich zum Klassenfeind über und bettelten um Almosen".

Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk berichtete davon, wie er als Jugendlicher in der DDR "die volle Wucht des Staates" erlebt habe. (© bpb, BILDKRAFTWERK/Zöhre Kurc)

Großbölting zeigte sich verwundert, wie aus der Selbstermächtigung – der friedlichen Revolution – ein Abgleiten in die Unmündigkeit folgte. Kowalczuk sah hingegen die Selbstbefreiung der kommunistischen Gesellschaften als Mythos an, da keine Revolution jemals gegen ein stabiles Regime erfolgreich war und die Selbstermächtigung nur einen kleinen Teil der Gesellschaft betraf. Vielmehr unterstrich er die Machtstrukturen beim Einigungsprozess, die sich beispielsweise auch im Begriff der "Buschzulage" zeigten, jener inoffiziellen Bezeichnung der Zulage an westliche Staatsbedienstete, wenn sie in die neuen Bundesländer gingen. In den höheren Hierarchien fanden und fänden sich "überwiegend Westler, in den unteren Ostler".

Krüger verwies darauf, dass der Einheitsprozess in der öffentlichen Diskussion oft als riesiger Geldtransfer von West nach Ost wahrgenommen werde, während es sich auch um eine massive Besitzverschiebung von Ost nach West handelte, von Immobilien bis zu Handel und Gewerbe – und somit um "eine interessensgeleitete und wohl reflektierte Machtpolitik". Kowalczuk stimmte dieser Einschätzung zu und argumentierte, dass die Altschulden der DDR reine Buchungsschulden der Planwirtschaft gewesen seien, die "plötzlich in reales Geld überführt worden sind": Wollten Investoren aus Ostdeutschland die Betriebe übernehmen, mussten sie sich um diese "Altschulden" kümmern, während sie westdeutschen Investoren erlassen wurden. Er erinnerte auch daran, dass zwar die Curricula an den ostdeutschen Schulen und Universitäten diskutiert und überarbeitet worden sind, nicht aber jene für die nun gesamtdeutsche Erwachsenenbildung.

Großbölting verwies auf die Habilitationsschrift "Armee der Einheit" von Nina Leonhard und somit auch auf die Degradierungsverfahren gegenüber selbst denjenigen DDR-Soldaten, die in die Bundeswehr übernommen worden sind. Hillmann erwiderte, dass sich die Dienstgradherabsetzungen aus der hohen Dienstgradstruktur der NVA ergaben, während die Bundeswehr auch an NATO-Standards gebunden war und ist, in die sich das NVA-Material nur bedingt integrieren ließ. In der intensiven Diskussion wurden diverse Aspekte angesprochen, von der jeweiligen Wahrnehmung der anderen Seite über sozio-ökonomische Faktoren bis zum hohen Anteil Ostdeutscher in der heutigen Bundeswehr. Ein Teilnehmender, der 25 Jahre in der alten und 15 in der neuen Bundeswehr gedient hatte, verwies auf Prägungen der Streitkräfte, die nicht durch die Einheit, sondern durch die veränderte geopolitische Lage und somit die Auslandseinsätze hervorgerufen wurden. Meckel forderte zum Abschluss, den immer noch bestehenden Art. 146 des Grundgesetzes zum nun dreißigsten Tag der Deutschen Einheit zu streichen.

Dokumentation: Martin Bayer

Fussnoten