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"Was hat das mit mir zu tun?" | Danach – Der Holocaust als Erfahrungsgeschichte 1945 – 1949 | bpb.de

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"Was hat das mit mir zu tun?"

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Was soll eine Erziehung nach Auschwitz leisten? Was muss sich in den Vermittlungsformen, was in der Struktur der Bildungseinrichtungen ändern? Astrid Messerschmidt fordert im Interview eine intensivere Auseinandersetzung mit den Bezügen von Auschwitz zu unserer heutigen Zeit.

Astrid Messerschmidt im Interview (© Oliver Feist / buero fuer neues denken)

Clara Woopen: "Erziehung nach Auschwitz" hieß der Workshop, den Sie auf dieser Konferenz geleitet haben. Das war auch der Titel eines Rundfunkvortrags von Adorno 1966. Was bedeutet das eigentlich, eine Erziehung nach Auschwitz?

Astrid Messerschmidt: Man muss sich erst einmal klar machen, dass Adorno nicht eine Erziehung über Auschwitz meinte, sondern nach Auschwitz. Für Adorno heißt das, unsere Beziehungen müssen sich verändern. Es meint die Art der Vermittlung, die Form, wie wir miteinander umgehen, muss sich verändern. Wir müssen die Gewalt in unseren Interaktionen auflösen. Das ist eigentlich die Botschaft von Erziehung nach Auschwitz. Er hatte in diesem Punkt gar nicht unbedingt die Vorstellung, dass jetzt umfassende Bildungsarbeit über den Nationalsozialismus stattfinden würde. Vielmehr zielt der bekannte Rundfunkvortrag von Adorno auf eine umfassende Veränderung in den Formen und Inhalten von Erziehung und Bildung. Denn wenn ich über Auschwitz informiere und Wissen vermittle, dann muss ich mir klar machen, inwieweit es gewaltförmige Strukturen in dieser Vermittlung gibt. Und wir haben in dem Workshop gesehen, die gibt es strukturell und oft indirekt an Schulen heute. Durch das Bewertungssystem, durch die Konkurrenz, durch die Ängste von Schüler/-innen, weil sie wissen "es ist existentiell, was ich hier mache, ich muss gut sein, damit ich eine Zukunft habe". Das ist eine Gewaltdimension in dieser Institution. Das zu thematisieren und die Fragwürdigkeit in Organisation und Struktur unserer Bildungsinstitutionen in Frage zu stellen, würde ich als eine Konsequenz aus diesem jetzt schon fast klassisch gewordenen Text ziehen.

Und wie können "Autonomie, Kraft zur Selbstbestimmung und zur Reflektion" vermittelt werden, die Adorno die "einzige Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz" nannte?

Das muss erfahrbar werden. Ich kann es nicht abstrakt vermitteln. Wenn Jugendliche oder Kinder gar nicht erfahren, dass es einen anderen Umgang miteinander gibt, dann werden die mir das nicht abnehmen, wenn ich sage nach Auschwitz sieht das alles ganz anders aus. Solange die pädagogischen Interaktionen demütigend, abwertend und ausgrenzend sind, bleibt der pädagogische Anspruch einer Bewusstseinsbildung "nach Auschwitz" unglaubwürdig.

Kann die Bildungspolitik daran nichts ändern?

Doch, die kann sehr viel ändern. Das wurde im Workshop auch deutlich. Die Bildungspolitik kann Freiräume schaffen, damit Lehrerinnen und Lehrer ermöglichen können, was Adorno mit der Selbstreflektion meinte. Die Bildungspolitik kann ganz viel dazu beitragen, indem sie die Schulen öffnet zur Ausbildung einer anspruchsvollen Intellektualität, indem sie Zeit gibt – Zeit zur Auseinandersetzung und zum Nachdenken. Wenn Lernprozesse gedankenlos werden, weil keine Zeit da ist, dann sind wir wirklich zurückgefallen in einen Modus, der von Adorno gerade kritisiert worden ist. Voraussetzung dafür ist eine Lehrer/-innenbildung, die den Wert des kritischen Denkens vermittelt und angehenden Lehrer/-innen Zeit gibt, das auszubilden.

Der Zeitmangel ist häufig auch ein Problem von Klassenfahrten zu Gedenkstätten. Wo sehen sie Potentiale und Grenzen von Gedenkstättenbesuchen?

Manchmal sind Gedenkstättenbesuche problematisch, wenn sie als einziger Weg zu einer Konfrontation mit der Geschichte und Wirkung des Holocaust aufgefasst und eingesetzt werden. Gerade wenn die Gedenkstätte Auschwitz unbedingt besucht werden muss, wirkt das auf viele Schüler/-innen so, als sei die ganze Problematik dieses Geschehens nur an einem relativ entfernten Ort aufzufinden. Dabei ist es nebenan – ich halte ganz viel von lokalen Projekten, die fragen, was war hier bei uns los, auch an unserer Schule, wenn es eine Schule ist, die vielleicht auch eine Geschichte der Ausgrenzung von jüdischen Schülern und Sinti-Schülern hat. Das halte ich für ganz wichtig, am Ort zu schauen, das macht glaube ich noch einmal deutlich, welches Ausmaß diese Verbrechen hatten, dass sie in der Alltagsumgebung stattgefunden haben und keineswegs unsichtbar bleiben konnten.

Vielleicht kann dieser Ansatz auch zeigen, dass Ausgrenzung nicht nur hier, sondern auch jetzt wieder passieren kann und passiert?

Also mit diesem "wieder" wäre ich vorsichtig, ich würde das auch nicht als Drohkulisse aufbauen. Das finde ich einen problematischen pädagogischen Gestus. In dieser Form wird es wohl nicht mehr passieren. Aber es passiert schon ganz viel in Europa, was strukturell diesem Geschehen geähnelt hat oder ähnelt. Das gilt es aufzugreifen, ohne Gleichsetzungen vorzunehmen, um zu fragen, wo es in der jüngeren Geschichte Praktiken gegeben hat, die systematische Analogien aufweisen, ohne von einer Wiederholung sprechen zu können. Das interessiert auch junge Leute, zu fragen, wo etwas passiert, das sie selbst in einer Beziehung zu den Ausgrenzungsformen im NS erkennen und sich damit auseinander zu setzen.

Und wie können diese Analogien sichtbar gemacht werden?

Man kann ja sehr bestimmte strukturelle Elemente des Nationalsozialismus rekonstruieren, zum Beispiel wie andere zu Gruppen gemacht worden sind. Man kann rekonstruieren, wie es funktioniert, dass aus diesen Gruppen Fremde werden, obwohl sie vorher noch die Nachbarn von nebenan waren. Wie kommt es heute zu Gruppenkonstitutionen und auf welche Weise finden Zuschreibungen statt, um damit Nicht-Zugehörigkeiten herzustellen? Das wären für mich Fragen, die dazu anregen, sich mit Analogien auseinander zu setzen und Unterscheidungen vorzunehmen.

Sie fordern sich mehr mit dem Thema der Konferenz, der Erfahrungsgeschichte des Holocaust, auseinanderzusetzen. Sehen Sie darin eine Fortführung der Abwehrgeschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit, dass die Auseinandersetzung an Schulen mit historischem und gegenwärtigem Rassismus nicht gerade intensiv stattfindet?

Ja, also wenn die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus völlig isoliert erfolgt, als sei es ein vergangenes Geschehen und jetzt alles ganz anders und demokratisch, dann würde ich sagen, das ist eigentlich eine Abwehrfigur. Damit will man das Selbstbild rein halten von diesen Beschädigungen – aber wir sind alle beschädigt von dem, was da passiert ist, natürlich auf unterschiedliche Weise. Wir können nicht so tun, als wären wir damit nicht mehr verwandt. Das sind wir auf ganz vielfältige Weise. Und das deutlich zu machen, finde ich sehr wichtig.

Sie haben im Workshop viel darüber diskutiert, dass Kinder und Jugendliche die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus satt haben. Woran denken Sie liegt das?

Dieser Überdruss kommt ja nicht aus dem Thema selbst, sondern aus den Vermittlungsformen. Wenn die Vermittlung von oben herab erfolgt, belehrend, moralisierend, wenn man immer das Gefühl hat, hier ist eigentlich schon alles klar, man muss bestimmte Sachen sagen, das steht alles fest und so und so muss man sich verhalten, dann ist das ein geschlossenes Ding, das keinen Zugang mehr bietet. Deshalb knüpfe ich an die vielfach schon praktizierten Zugänge an, die fragen "Was hat das mit mir, mit uns zu tun?", "Wo gibt es Geschehnisse, die in einer Verbindung zum, NS stehen?" Diese subjektorientierten Zugänge gehen davon aus, dass Jugendliche heute politisch interessiert sind und sie nicht erst zu politisch Interessierten gemacht werden müssen. Da anzuknüpfen, das würde ich vorschlagen gegen diesen Überdruss.

Interner Link: Vortragstranskript Clara Messerschmidt