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Erinnern im Kurzformat Die "Shoah Education and Commemoration Initiative" von TikTok

Leonie Meyer

/ 6 Minuten zu lesen

Immer mehr NS-Gedenkstätten posten Videos auf TikTok. Die Plattform fördert das mit einer eigenen Initiative. Was bedeutet das für die Zukunft der Erinnerungskultur?

Immer mehr Gedenkstätten übertragen ihre Bildungsinhalte auf TikTok. (© TikTok/Mauthausen Memorial (Screenshot))

Tanzende Jugendliche, Lip Sync und alberne bis gefährliche Challenges – mit diesen Inhalten wird TikTok oftmals gleichgesetzt. Die Plattform des chinesischen Konzerns ByteDance arbeitet seit einiger Zeit gegen dieses Image. Mit Interner Link: Bildungsinitiativen und der Förderung von Erinnerungsarbeit sollen auch ernstere Themen Einzug auf die "For-You-Page" (engl. "Für-dich-Seite") erhalten. Letzteres wird durch die "Shoah Education and Commemoration Initiative" von TikTok vorangetrieben. Ihr Ziel ist es, Holocaust-Gedenkstätten und Museen zu ermutigen, ihre Erinnerungsarbeit in Kurzvideos zu übersetzen.

Über die "TikTok – Shoah Education and Commemoration Initiative"

Im Rahmen der "Shoah Education and Commemoration Initiative" wurden 2021 erstmals elf deutsche und österreichische Erinnerungsinstitutionen von TikTok zu einer Workshopreihe eingeladen, in der ausgelotet wurde, ob und wie diese auf TikTok aktiv werden könnten. Mit dabei waren unter anderem die Gedenkstätten Bergen-Belsen, Dachau, Mauthausen und das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme. Die Seminare umfassten Themen von "Tech & Features" bis "Community Building". Die Initiative soll in diesem Jahr fortgesetzt werden.

Für die Initiative arbeitet TikTok mit dem American Jewish Committee Berlin und den Agenturen werk21 Kommunikation aus Berlin sowie Partners Partners & Company aus Jerusalem zusammen. Außerdem wird das Projekt von der Hebrew University of Jerusalem wissenschaftlich begleitet.

Gegenerzählung zu Challenges und Co.?

Nur wenige Monate vor dem Start der Initiative hatte die "POV: Holocaust Challenge" für Schlagzeilen gesorgt. In zahlreichen TikTok-Videos inszenierten sich Creatorinnen und Creatoren international als Opfer des Holocausts – und ernteten dafür breite Kritik. Während ein Teil der Stimmen die Kurzvideos als unangemessen einordnete oder sogar die Grenze von Empathie und Identifikation überschritten sah, erkannten andere, darunter die Historikerin Iris Groschek, eine positive Entwicklung: Viele junge Menschen hätten sich aus eigenem Antrieb mit dem Holocaust auseinandergesetzt und neue Formen der Erinnerung ausprobiert. Groschek, die sowohl für die digitale Kommunikation als auch für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen, zu der auch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme gehört, verantwortlich ist, sagt, sie habe zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal das Potenzial der Plattform zur Erschließung junger Zielgruppen für die Erinnerungskultur erkannt. Angestoßen von einer Einladung zur Workshopreihe der "Shoah Education and Commemoration Initiative" startete die Gedenkstätte Neuengamme im November 2021 als weltweit erste Holocaust-Gedenkstätte ihren TikTok-Account. Innerhalb einer Woche wurden ihre Kurzvideos eine Million Mal aufgerufen.

Kontroverse um TikTok

TikTok steht seit jeher in der Kritik. Der Plattform wurden Versäumnisse sowie Intransparenz in Sachen Datenschutz und die Zensur politischer Inhalte vorgeworfen. Wie kommt es also, dass sich Institutionen wie die Gedenkstätten Neuengamme und Mauthausen dennoch für die Bespielung und darüber hinaus eine Kooperation mit TikTok entschieden haben?

"Im Vorfeld hat es bei Manchen intern große Zurückhaltung und Bedenken gegeben", berichtet Marlene Wöckinger von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Sie selbst habe sich zunächst auch gefragt, was man als Gedenkstätte auf einer Plattform mache, auf der Leute tanzen. Mittlerweile überwiege die Zufriedenheit, und Wöckinger gebe in diesem Jahr sogar selbst im Rahmen der TikTok-Initiative als freie Referentin Workshops für andere Gedenkstätten. Trotzdem sehe sie die Ungewissheit über die Funktionsweise des Algorithmus und die Mechanismen, mit denen bestimmte Inhalte belohnt oder sanktioniert werden, kritisch. "Als wir begonnen haben, konnten wir den Hashtag #Holocaust nicht verwenden", erzählt sie. Und: Von anderen (Bildungs-)Creatoren habe sie mitbekommen, dass sie Wörter wie "Nazi" nur in abgewandelter Form verwendeten, weil deren Videos sonst weniger Aufrufe bekämen.

Aus der Sicht von Iris Groschek seien soziale Netzwerke allgemein kritisch zu betrachten: "Einem muss klar sein, dass Social-Media-Plattformen diese Themen nicht aus inhaltlichem Interesse oder Menschenfreundlichkeit nach vorne bringen. Natürlich wollen die Unternehmen Geld verdienen." Sich aus sozialen Netzwerken zurückzuziehen, käme für sie dennoch nicht in Frage: "Wir haben uns bewusst dafür entschieden TikTok zu nutzen, weil die positiven Effekte die negativen überwiegen. Ich denke, dass Gedenkstätten online aktiv sein müssen, um nicht übersehen zu werden und um dort die künftige Erinnerungskultur gemeinsam mit der nächsten Generation zu gestalten."

Gedenkstätten-Content

TikTok-Trends bauen neben der visuellen Ebene auch auf wiederkehrende Audios ("Sounds") auf. Wer ein virales Video produzieren will, knüpft deswegen oft an bestehende Trends an. Schaut man auf die Accounts der Gedenkstätten, findet man kaum Inhalte dieser Art. Marlene Wöckinger erläutert, dass sich einige Trends nicht für den Ort und die dargestellten Geschichten eignen würden. Zudem würden auch Copyright-Fragen bei der Musik-Nutzung eine Rolle spielen. Iris Groschek verrät: "Ich möchte viel öfter auf Trends aufspringen. Das ist aber nicht möglich, weil viele Sounds für Business-Accounts nicht zur Verfügung stehen." Trotz dieser Einschränkung kämen die Kurzvideos der Gedenkstätten sogar so gut an, dass Jugendliche nach dem Schauen ihre Eltern überreden würden, gemeinsam die Gedenkstätte zu besuchen. Die Videoinhalte der Gedenkstätten sind vielfältig: Mal zeigen die Creatorinnen und Creatoren das Gelände der jeweiligen Gedenkstätte, liefern Hintergrundinformationen zu Ausstellungsstücken oder teilen eigene Eindrücke und Bezüge. Die Community ist immer dabei, antwortet auf Fragen aus dem Video oder stellt selbst Fragen, die dann im nächsten Video von den Gedenkstätten aufgegriffen werden. Das mache die Plattform so interessant, erzählt Groschek, gleichzeitig sei die Betreuung der Plattform dadurch auch sehr aufwendig.

Iris Groschek möchte die jungen TikTok-Nutzerinnen und -Nutzer dazu anregen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man sich Gedenkorten annähern kann und sollte. Ihr sei aufgefallen, dass Besucherinnen und Besucher von der Gedenkstätte vor allem Schwarz-weiß-Fotos auf ihren Social-Media-Accounts teilen würden. Die Gedenkstätte Neuengamme versuche diesem düsteren Bild – bei Wahrung des historischen Erbes – in einem gewissen Maße entgegenzutreten. Damit soll die Hemmschwelle, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen und Erinnerungsorte zu besuchen, gesenkt werden. In einem ihrer Videos zu "3 Dingen, die man nicht in einer Gedenkstätte macht", heißt es daher zwar "Vergiss nicht, wo du bist", aber auch: "Mach dir keine Sorgen um dein Outfit" und "Verurteile nicht, wie andere sich verhalten".

TikTok-Accounts, die an den Holocaust erinnern

Gedenkstätten:

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen:

Reichweite um jeden Preis?

Um eine breitere Zielgruppe anzusprechen, haben sich die meisten Gedenkstätten dazu entschieden, ihre Inhalte auf Englisch zu veröffentlichen. Die Reichweite der Kurzvideos stehe jedoch nicht an erster Stelle: "Wir machen auch Videos, die uns wichtig sind, weil wir als Stiftung auch die Aufgabe haben, Stimmen der Angehörigen hör- und sichtbar zu machen", erzählt Iris Groschek.

Mit ihrer zeitlichen Begrenzung für Videos erfordert TikTok ein gewisses Erzähltempo. Die Herausforderung, Geschichte(n) auf wenige Sekunden oder Minuten herunterzubrechen, besteht zwar auch in der Gestaltung klassischer Ausstellungen, die Kurzvideos bei TikTok werden Nutzerinnen und Nutzern allerdings isoliert voneinander ausgespielt. "Keiner guckt sich eine ganze Videoserie an.", meint Iris Groschek. Die Videos müssen also für sich stehen. Marlene Wöckinger gibt zu bedenken: "Es besteht die Gefahr, Dinge verkürzt darzustellen und zu wenig Kontext zu geben." Bei der Gedenkstätte Mauthausen würden die Videos daher eine mehrschrittige Abnahmeschleife durch verschiedene Abteilungen durchlaufen, um sicherzustellen, dass die Qualität und der Inhalte stimme.

Hate Speech

Wer sich online öffentlich zu politischen Themen positioniert, wird leicht zur Zielscheibe von Hassrede. Marlene Wöckinger ist eine derjenigen, die ihr Gesicht für die Gedenkstätten-Arbeit hergeben und für TikToks vor der Kamera stehen.

"Ich bin die erste Person, die die Kommentare liest, etwas löscht, etwas meldet, etwas beantwortet. Ich bekomme dann die ganze Liebe, aber leider manchmal auch den Hass ab." Wöckinger sei von dieser Art von Kommentaren nicht überrascht, auch bei ihren Rundgängen passiere das zeitweise. Sie habe sich bewusst entschieden vor der Kamera zu stehen und stehe dort als Vermittlerin, nicht als Privatperson. Die Freigabeprozesse der Gedenkstätte geben ihr zusätzlich Rückhalt.

Perspektiven für die Zukunft der Erinnerungskultur

Die Videos auf TikTok sind kurz und können Themen wie die Shoah und den Holocaust nicht umfassend aufarbeiten. Dieser Anspruch wird von den Gedenkstätten und ihren Creatorinnen und Creatoren allerdings auch nicht erhoben. Vielmehr besteht ihr Ziel darin, junge Menschen an einem Ort, den sie in ihrer Freizeit besuchen, mit aufklärenden Inhalten in Berührung zu bringen und mit ihnen in den Diskurs zu treten. Die Resonanz auf die Accounts zeigt, dass das Angebot angenommen wird.

In Zeiten eines zunehmenden Antisemitismus und erstarkenden Rechtspopulismus sieht sich die Erinnerungsarbeit damit konfrontiert neue Wege zu finden, um nachkommende Generationen zu erreichen. Die Beispiele der von TikTok gestarteten Initiative machen deutlich, dass Institutionen mit etwas Unterstützung bereits in der Lage sind, digital und sogar über Ländergrenzen hinweg zu wirken. Die fachliche Expertise im historischen Bereich und in der Vermittlung sind vorhanden, auch wenn es teilweise an Kapazitäten und dem Wissen fehlt, wie Bildungsinhalte im Netz plattformspezifisch aufbereitet werden können.

Die neuen Wege der Erinnerungskultur sollten jedoch nicht exklusiv auf einer einzelnen Plattform begangen werden. Es gilt, digitale Bildungs- und Erinnerungsinitiativen plattformübergreifend zu denken und zu fördern.

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Leonie Meyer ist Redakteurin für werkstatt.bpb.de. Daneben studierte sie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Master Politikwissenschaft. Ihr thematischer Schwerpunkt liegt auf den Wechselwirkungen von Sozialen Netzwerken und Politik bzw. politisch-historischer Bildung.