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Grenzfragen des Religiösen und Politischen | APuZ 51/1953 | bpb.de

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APuZ 51/1953 Grenzfragen des Religiösen und Politischen Politische Bildung

Grenzfragen des Religiösen und Politischen

Theodor Heuss

Mit Genehmigung der Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft m. b. H., Stuttgart, übernehmen wir aus der Zeitschrift „UNIVERSITAS" (Heft 9/1953) den Vortrag des Herrn Bundespräsidenten Professor Dr. Theodor Heuss, gehalten anläßlich der Ehrenpromotion zum Dr. theol. durch die Ev. -Theol. Fakultät der Universität Tübingen.

Es ist für mich eine bewegende Aufgabe, daß ich nun meinen Dank auszusprechen habe. Ich beginne, indem ich mich selber der Theologischen Fakultät in Tübingen gegenüber sozusagen denunziere. Das ist ein Akt der Redlichkeit, daß ich dies tue. Ich weiß nicht, ob im Bewußtsein der Theologischen Fakultät in Tübingen folgender Vorgang war oder ist, der vor Jahren sich abspielte, als wir für Württemberg-Baden, in Stuttgart, die Verfassung machten und vor die Frage kamen, ob in der Verfassung dieses Staatswesens die Theologische Fakultät sonderlich genannt werden solle; dies wollte ein Antrag. Dagegen habe ich nun eine Rede gehalten, und wir haben die Formel draußen gelassen. Ich erzähle das, damit Sie es wissen und auch warum das geschah. Weil es mir peinlich erschien, den Vorgang von 1919 zu wiederholen, da in der Weimarer Verfassung die Theologischen Fakultäten ihre „Verankerung" erhalten hatten. Man hatte kurz zuvor den „unabhängigen“ Sozialisten Adolf Hoffmann als. preußischen Kultusminister erlebt, einen Spezialisten der Kirchenfeindschaft, und bangte vor der möglichen Wiederkehr solcher Typen. Mir nun schien es oder doch meinem historischen Stilgefühl schwer erträglich, daß ausgesucht gerade um die Theologische Fakultät, die die Mutter aller Fakultäten ist, ein Schutzzäunlein juristischer Paragraphen gemacht werden solle. Denn ihre geschichtliche Würde und innere Mächtigkeit ist dem Behelfsheim einer zerschlagenen partikularen Staatsapparatur überlegen.

Wenn ich sage: die Theologie als Mutter der Fakultäten, als Mutter der Wissenschaften — ist das nur eine geschichtliche Notiz? Unzweifelhaft, wenn sie die Mutter war, sind die Kinder davongelaufen, haben sich selbständig gemacht, zum Teil im Hader, zum Teil auch im Hohn. Es ist der Prozeß der Autonomisierung der Disziplinen, und diese Autonomisierung wissenschaftlicher Disziplinen ist im Elementaren des Methodischen nicht rüdegängig zu machen. Es haben sich viele neue Kräftefelder der Wissenschaft mit eigener Zentrierung gebildet.

Die geistesgeschichtliche Bewertung dieser Lösung von der Mutter Theologie wechselt freilich im Laufe der Jahrzehnte die Akzente. Einmal hat man diesen Vorgang als Akt der „Befreiung“ betrachtet. Die „Fesseln“ der Kirche, die Fesseln eines historisch fixierten Dogmas fallen von Händen und Füßen; man kann ins Neue greifen und damit das Unbekannte begreifen; man kann ungehindert voranschreiten, fortschreiten, also ist der Fortschritt gesichert, wenn man aus dem festen, aus dem strengen, manchmal engen Raum des Kirchlich-Theologischen herausgetreten. Das ist die eine Sicht. Die andere aber sieht in dieser Loslösung den Abfall, Vorspiel zum Verfall. Der stellt sich dann zwiefach dar: ungeheure Mehrung des positivistischen Wissensstoffes, von niemand mehr in einer einheitlichen Bezüglichkeit zu erkennen und zu umfassen; die Klage über die Spezialisierung und Differenzierung der Forschertätigkeit und ihrer Methodik; man muß sich diesem Gesetz unterwerfen, um unter den konkreten Mehrern der Wissenschaft zu bleiben und einen eigenen Beitrag geben zu können für die Entwicklung der Erkenntnis. Die Absonderung und die Vereinzelung mit ihrer spezifischen frei schwebenden Sinngebung wird zum Schicksal.

Man hat sich seit ein paar Jahrzehnten daran gewöhnt — und ich werde das Wort ein paarmal in Anführungszeichen gebrauchen müssen —, von diesem Prozeß der Entwicklung der freigesetzten Wissenschaften und des autonom gewordenen gesellschaftlichen Lebens von der „Säkularisation“ der Erscheinungsformen, der Werte, auch der Worte und Begriffe zu sprechen. In meiner Jugend war das Wort Säkularisation die Bezeichnung eines sehr handfesten geschichtlichen Vorgangs. Man hat darunter verstanden, daß der weltliche Staat in der Reformationszeit oder nach 1803 kirchliches Gut an sich gezogen hat. Er war der Besitz-nachfolger der Kirche geworden. Jetzt wird der Begriff sublimiert gebraucht, nicht mehr kirchliches Gut, Häuser, Grundbesitz, sondern religiöse Werte und Zwecke werden in weltliche Zwecke und Techniken hereingenommen; ganz allgemein genommen für vielerlei, für alle Kulturen, alle Religionen. Es handelt sich also nicht mehr um historisch fixierbare politische und darnach rechtliche Akte, sondern um die Kennzeichnung eines Prozesses, den man für alle Kulturen, alle Religionen gelten lassen mag, den man bei allen glaubte feststellen zu können. Das sind geistesgeschichtlich sehr fruchtbare Hypothesen — das spüren wir. Darf ich auch einen kleinen, bescheidenen Beitrag dazu geben, der mir in diese Stadt zu passen scheint — vielleicht ist er auch von anderen schon geliefert worden: etwa die studentische Bestimmungs-Mensur ist in solcher Schau nichts anderes als der bandagierte LIrurenkel des Gottes-urteils im Zweikampf.

Aber dieser Begriff von der „Säkularisation" wird von mir nicht sehr geliebt, weil er in die Gefahr einer publizistischen Entwertung und einer wissenschaftlichen Vereinfachung gekommen ist, vor allem, wenn man sich daran gewöhnt hat, zu sagen, das 17. und 18. Jahrhundert haben die Säkularisation eingeleitet, und dabei übersieht, daß sehr „säkularisierte“ Tatbestände auch dem Mittelalter angehörten, daß es etwas Künstliches ist, diese Vergangenheit in eine oft ziemlich robust gesetzte Beziehung zur Transzendenz zu zwingen. Man braucht nur den Hohenstaufen-Kaiser-Friedrich II. oder Macchiavelli zu nennen, um zu spüren» daß das nicht so einfache Komplexe sind, als die modische Betrachtung sie zu sehen sich gewöhnt hat.

Idi bin sehr dankbar, daß der theologische Ehrendoktor nicht dem Bundespräsidenten gilt, denn das könnte ein fatales „Brauchtum“, um das Wort zu verwenden, einleiten. Ich darf dessen gewiß sein, daß diese Auszeichnung vorab dem Manne gilt, der vielerlei Bücher und Aufsätze geschrieben hat. Wir sind aus dem Zeitalter einer so oder so interpretierten Theokratie heraus, wir sind im Zustand der wählenden Demokratie. Die Ehrung konnte ich deshalb annehmen , weil ich dachte, sie gilt meinen Arbeiten über Männer wie Gustav Werner, Wichern, Bodelschwingh und vor allem über Friedrich Naumann. Das waren Männer, die — verzeihen Sie — den systematischen Theologen etwas Verlegenheit bereiten, denn sie waren keine großen Theologen, aber sie waren Männer der praktischen Frömmigkeit und die Bindung an Gott gab ihnen den Auftrag in der Welt, und zwar in der Welt der Sünde. Waren sie, Erscheinungen des 19. Jahrhunderts, unbewußt, auch nur so etwas wie Randfiguren des Prozesses der „Säkularisierung", oder waren sie erfolglose Widersacher, in der Statistik Randfiguren, in der Substanz als Fragende und Wagende fruchtbar?

Darf ich ein persönliches Wort, ehe ich zu der Sache komme, sagen: Ich bin in vielen Dingen ein altmodischer Mensch. Das wissenschaftliche Bild meiner erwachenden Jugend in diesem Bereich ist von Ernst Troeltsch und Max Weber geprägt, zu denen auch beglückende freundschaftliche Beziehungen bestanden. Auf dem einen, ich weiß es, Ernst Troeltsch, liegt das seltsame Verdikt: „Kulturprotestantismus“, auf dem anderen die Anklage des rigorosen Rationalismus. Was ist es damit? Vorhin sagte ich, daß die Disziplinen der Theologie davongelaufen seien. Ein Theologe, Troeltsch, suchte eine von ihnen einzuholen — es gelang, indem er die „sozialen Lehren der christlichen Kirchen" erforscht und beschrieben und damit einen Bereich in das wissenschaftliche Denken einbezogen hat.der vorher nur so am Rande mitgesehen war. (Darf ich nebenbei daran erinnern, daß ein Mann, der aus derselben Generation und Grundanschauung stammte, Arthur Titius, das Entsprechende versucht hat, von der Theologie aus die moderne Naturwissenschaft zu erfassen und zu durchdringen? Er hat das getan, noch bevor — was wir in den letzten 20 Jahren erlebten und was uns alle stark beeindrucken mußte — etwa die Physiker selber aus der Sicherheit der Ansage sich in das Fragen nach der causa oder potestas movens, der letzten Ursache, auf das Religiöse zurückgeworfen fühlten.) Neben dem Theologen Troeltsch der ihm befreundete Nationalökonom Max Weber, der das Werk schrieb über „die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus“. In seiner Wirtschaftslehre vertritt er mit kalter Souveränität die Spezialisierung als Schicksal, die wertfreie Nüchternheit als Gebot. In seinem Werk durchbricht er diese eigenen Schranken. Ob in jenem Werk Thesenstellung und Ergebnis im einzelnen richtig oder falsch, ist ziemlich gleichgültig. Durch ihn, sozusagen einen Außenseiter, hat die religions-soziologische Forschung einen ungeheuren Aufschwung, vielleicht ihren entscheidenden Durchstoß erfahren. Die Mächtigkeit des Religiösen in der „innerweltlichen" Formgestaltung, war das etwas so Neues? Wir wußten doch alle von Religionskriegen, Konfessionskriegen, Konfessionsfrieden und so fort. Der Weg zu der exakten Forschung und Darstellung war nun beschritten, der die Einwirkungen eh und je aufspürte, wie das Wissen um eine Transzendenz im Diesseitigen fruchtbar wurde, Gesinnungen schuf, Lebenstypen bestimmte. Dieser Max Weber, in der äußersten Disziplinierung der Ratio, war ein Grenzgänger in die Bereiche des Irrationalen. Wir versuchen es, uns unter sein Gesetz zu stellen. Diejenigen Forscher, die nicht bloß die routinierten Pragmatiker ihrer Branche sind, wenn ich so vulgär sprechen darf, die fühlen die Sehnsucht zur Grenze, ungewiß, ob sie dann der Mutter Theologie begegnen oder bescheiden vor dem Geheimnis des Un-erkennbaren bleiben.

Sie erwarten von mir keine systematische Vorlesung. Als vielbeschäftigter Mann habe ich die „einschlägigen" Bücher von Quervain, Stapel, Delekat, Wünsch oder anderen nicht neu oder nochmals lesen können. Ich kann nur Randbemerkungen und den Versuch machen, ein paar Dinge herauszuholen.

Wo und wann ist Religion in ihrer Einwirkung auf das Diesseitige als politische Kraft unmittelbar zu greisen? Dann und dort, wo die Religion Enthusiasmus, noch Enthusiasmus war. Es mag genügen, auf ein Beispiel hinzuweisen, den Islam. Da ist aus der Religion selber unmittelbar das Staatliche gewachsen, bis die Schwankungen der Geschichte auch diese Kraft lösten und lockerten. Heute gibt es kein Kalifat mehr, es ist in der nationalstaatlichen oder territorial-partikularen Konsolidierung der mohammedanischen Völker sozusagen einfach verschwunden.

Die christlichen Kirchen haben Vergleichbares aus ihrer religiösen Kraft nicht geschaffen. Als Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erklärte, war der Staatsraum des römischen Reiches schon vorhanden. Auch die Christianisierung der Franken durch Chlodwig und die spätere Beziehung: römischer Papst, deutscher Kaiser, so vielfarbig sie ist. ist, wenn ich die Dinge richtig sehe, weniger originär religiös als politisch bestimmt. Das, was wir als religiös fundamentierte staatliche Gründungen sehen könnten: die Johanniter in Rhodos und später in Malta, der Deutsche Orden in Preußen oder auch der Jesuitenstaat in Paraguay sind sekundäre, kleine Vorgänge. In diesen Raum gehört auch nicht der römische Kirchenstaat, denn er ist eine Schöpfung staatlicher Entscheidung, gleichviel, wann und wie die Historiker den Ansatz sehen. Lassen Sic mich noch einen Augenblick bei diesem Kirchenstaat verweilen: Die Kongruenz von territorialer Herrschaftssouveränität als Realität und geistiger Welt-, mächtigkeit als Anspruch zerbricht in der nationalen Bewegung Italiens im 19. Jahrhundert; sein Gebiet geht auf im werdenden italienischen Gesamtstaat. Und nun die seltsame Symbolkraft in der Erscheinung der beiden großen Päpste der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: im Untergang des Staatlichen strafft Pius IX. das Dogmatische und verleiht ihm damit eine neue, vorher nie gegebene seelisch-religiöse Gewalt, die auch als solche ein Politikum darstellt, durch Leo XIII. aber vollzieht sich die Neutralisierung der römischen Kirche gegenüber den Staatsformungen. Neben dem Friedensschluß mit dem preußischen Königtum nach den bösen Jahren des Kulturkampfes liegt das Entscheidende in der Anerkennung der laizistischen Republik Frankreich, im Finden eines „modus vivendi“, mit der Folge einer gewissen Zurückhaltung in der Macht-politik und gegenüber den politischen Grundformen der Staaten, aber zugleich einer Aktivierung der kirchlich-religiösen Wirkung in die Gesellschaftsordnung hinein. Es darf keinen Augenblik verkannt werden, welche ungeheure Bedeutung für die katholische Welt es besitzen mußte, daß Leo XIII. Thomas von Aquino — ich will nicht sagen, daß er vergessen war, aber aus einer aktualisierenden Bedeutung war er heraus-gefallen — wieder lebendig machte. Die päpstliche Enzyklika „Rerum novarum“ hat einen ganz neuen Bereich als kirchlichen Auftrag ergriffen. Wir hatten in Deutschland mit der Erscheinung des Bischofs Ketteier, mit Männern wie Jörg und Vogelsang eine Art von Vorläufertum. Aber neu war für den gesamten Bereich von der Kirche aus Verbindliches aus dem Religiös-Dogmatischen für das Sozial-Weltliche ausgesprochen.

Wenn man von „Grenzfragen des Religiösen und Politischen“ redet, liegt es nahe, daß man von „Kirche und Staat“ redet, und ganz gewiß, die Grenzfragen im großen Duktus der Geschichte haben hier ihre herbsten Linien bekommen. Es kommt uns aber hier nicht darauf an, dieses Stück in unserer Betrachtung systematisch zu verfolgen. Also nur ein paar Anmerkungen: Hier sehen wir den umgestaltenden Einfluß der Reformation, aus der religiösen Erlebniskraft eines Einzelnen heraustretend, auf die Neuordnung kirchlicher Gewöhnung und Lehrformen zielend, um ein Politikum von Weltgewicht zu werden. Das Ergebnis der Reformation mußte ein Doppelgesicht zeigen, ein religiös-kirchliches und ein politisch-staatliches. Das Politisch-Staatliche ist zu sehen an 1 enen alten Karten, als noch nicht die Binnenwanderung des 19. Jahrhunderts die konfessionelle Bindung an die Territorien gelöst hatte; vorher gab es, wenn auch bunt gesprengelt, feste Konturen um einheitliche Glaubensräume. Wir sehen wohl als Ergebnis der Reformation eine einheitliche Staatserhöhung im skandinavischen Raum, da die Identität von Staat und Glaubenseinheit gewonnen und gesichert. Voll wechselnder Ungewißheiten aber zeigt sich das Mutterland der Reformation. Wie steht es damit? Man hat manchmal Luther den Vorwurf gemacht, daß er diese Aufspaltung der deutschen territorialen Entwicklung mit verursacht habe. Ein falsches Bild; denn seit Karl VI., seit der Versteifung der territorialen Staatlichkeiten im 15. Jahrhundert, war der Prozeß schon abgeschlossen und in der Schwäche der Reichsreformversuche eigentlich mehr bestätigt als überwunden. Er spiegelt sich ja auch in der so sehr verschiedenartigen bezirklichen Rezeption der Reformation wider, gewiß am deutlichsten zu spüren in dem hoheitlich so sehr aufgeteilten schwäbisch-fränkischen Raum. Luthers Wirkung war, daß er einen Zustand, der politisch schon vorhanden war, gefestigt hat, aber ohne eine einheitliche Typik. Man muß nur an die verschiedene Haltung in der gestuften Feudalschicht der Fürsten, Herzöge, Grafen denken. Wir brauchen gar nicht weit zu schauen: zwei Reichsstädte gleicher Art, Gmünd und Reutlingen; politisch-soziologisch ein einheitlicher Typ mit gegensätzlicher Entscheidung. Oder wir mögen auf die beiden großen führenden Städte jener Zeit blicken, auf das patrizische Nürnberg und auf das demokratische Köln: ihr kirchlicher Weg trennt sich.

Das Religiöse war wohl eine bewegende Kraft in den politischen Scheidungen und Entscheidungen, wird aber dann abgefangen und verwahrt von dem einfachen politischen Bedürfnis der inneren, der nachbarschaftlichen Befriedung: Cuius regio, eius religio! Wer das Land beherrscht, bestimmt die Religion. Eine sehr zweckhafte Formulierung für die politische Befriedung; in ihr ist auch schon etwas davon zu spüren, daß die Religionsverwaltung qua Kirche in die territoriale Verwaltung qua weltliche Herrschaft eingegliedert wird; die Kirche im Schutz des Staates, aber auch gelegentlich nur ein Organ des Staates. Die Ansätze zu einer eigenständigen Kirchenbildung sind in Deutschland abgedrosselt.

In den Gemeinschaftsbewegungen des 17., vorab des 18. Jahrhunderts regt sich dann wohl ein eigenständiger Gruppenindividualismus, nicht so sehr eigentlich gegen die Kirche, auch wenn gewiß da und dort der staatlich aufgestellte Pfarrer nicht dem Frömmigkeitsbedürfnis seiner Gemeinde entsprach. Gegenüber dem sich staatlich verfärbenden Anstaltscharakter der Kirche ersteht eine seelische Gegenbewegung. Das hat nicht, noch nicht einen politischen Zug, aber es wird doch eine Abwendung vom Staatlichen spürbar, weil der Staat die Kirche zu sehr in die Hand genommen hatte. Die weitgehende Indifferenz des Pietismus und der pietistischen Kreise gegenüber der öffentlichen Ordnung, ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem politischen Treiben hat von dorther ihre Quellen. Das ist für den lutherischen Raum charakteristisch.

Im calvinistischen und auch im reformierten Bereich tragen die neben-kirchlichen Gruppen, die „Nonkonformisten“, die „Independenten“, einen eigentümlichen gesellschaftlichen Elan über das Kirchliche hinaus in das Politische und in die soziale Gestaltung hinein. Das ist oft beschrieben worden: die ganze Problematik der inneren Auseinandersetzung, die Stellung der Puritaner zur englischen Hochkirche, die Antriebe, in der geistigen Grundhaltung der frühen anglo-amerikanischen Kolonisten, all das hat innerhalb der angelsächsischen Welt diesem religiösen Strom ein seltsam-wirkungsvolles Gefälle gegeben. Es ist dies ein Aktivismus voll missionarischen Selbstvertrauens, meinethalben von der theologischen Wissenschaft nicht immer ganz gewürdigt, vielleicht mit „Verflachung“ erkauft, aber gewiß nicht durch einen Verlust an religiöser Mächtigkeit im Gruppenhaften wie im Individuellen bezahlt. Der Stolz auf die große deutsche Theologie der letzten anderthalb Jahrhunderte, die gewiß einer der stärksten Beiträge für das Gespräch zwischen den Völkern bedeutete, darf uns nicht zu einer Verkennung der Dinge führen: der primitiveren Fragestellung eignete die größere Geschichtsmacht. Das religiös-kirchliche Leben ist dem Volkhaften auch in der organisatorischen Art näher geblieben. Dieses Nähergeblieben-sein mag vielleicht nun auch als ein Stück „Säkularisation“ betrachtet werden. Aber das soll uns weiter nicht stören.

Die Geschichte liebt gelegentlich eine aufschlußreiche Terminnachbarschaft konträrer Anekdoten. Im Jahre 1847 erschien von Friedrich Julius Stahl das Werk „Der christliche Staat“, Das Werk ist in gewissem Sinne antihistorisch, eine Staatsdeutung, die den Staat auch religiös-dogmatisch irgendwie gegenüber der Aufklärung, gegenüber dem rein Zweckhaften sichern will. Es handelt auch von der monarchischen Legitimität, von ihrer Bindung an die Transzendenz, an den göttlichen Willen. Im gleichen Jahre schrieb Karl Marx das „Kommunistische Manifest" — radikale Auflösung aller überweltlichen Beziehungen. Im „Historischen Materialismus mit seiner exakten Rechenhaftigkeit wird die ganze Geschichte aus den Elementen der Technik und der Ökonomie begriffen. Gott war schon früher abgesetzt worden. Jetzt figurierte er nur als künstlich und klug eingerichtete Veranstaltung eines Klassen-interesses. Karl Marx bot nicht einmal eine Ersatzreligion an.

Die Wirkung der marxistischen Lehre ist dort stark gewesen, wo die demokratischen Grundkräfte von Marx, nicht seine theoretische Lehre, sondern sein Temperament, auf die Religion als ein Stück obrigkeitlicher Staatsgewalt stießen, etwa in unserem Raum. Sie war völlig wirkungslos in den doch sehr industrialisierten Ländern. Warum? Weil dort in der mehr freikirchlichen und gemeindekirchlichen Tradition kein Monopol eines staatsverbundenen Kirchenregiments vorhanden und doch-auch geistig die scharfe Scheidung zwischen Transzendenz und Immanenz im Bewußtsein der Menschen nicht eingetreten war. Wie aber nun die Wirkung im Raum der orthodoxen Ost-Kirche? Ich spreche hier mit Vorsicht; ich will mich nicht als Fachkenner aufspielen. Aber ich erinnere mich an ein Gespräch vor zwanzig Jahren in Athen mit einem orthodoxen Mann, mit dem ich über diese Fragen redete. Ich wollte mich erkundigen, wie sich die für die ganze abendländische Entwicklung seit den sechziger Jahren beginnende Auseinandersetzung zwischen Kirche, Christentum und sozial-ökonomischer Entwicklungsstruktur dort darstelle. Die Antwort war: Garnicht. Ich erfuhr, daß sich die Kirche und die Theologie um diese Dinge nie gekümmert haben. Es gibt im orthodoxen Raum keine sozialethische Fragestellung, wie wir sie erlebt haben. Wir kennen aus der russischen Literatur die symbolkräftige Darbietung der Transzendenz in Ritus und Liturgie, mit gelegentlichen starken Zügen individueller Mystik. Der Cäsaropapismus überwölbte auf scheinbar festen Stützen das Ganze, aber es war sozialethisch ein Leerraum an Werten, in den fast widerstandslos, als Machtsrage gesehen, der transponierte Marxismus eindringen konnte.

Sorgte der frühe Marxismus, dessen geistesgeschichtliche Fragwürdigkeit in der Zwischenzeit ja auch vielen sog. Marxisten deutlich wurde, für die Entgötterung der Welt, so folgte, auch Grenzfrage zwischen Politischem und Religiösem, im Nationalsozialismus die Vergötzung der Welt; statt dem historischen Materialismus, der ein mechanisches Funktionieren der Dinge darstellen wollte, der biologische Naturalismus der nationalsozialistischen „Weltanschauung“ mit einer völlig bewußten Ausscheidung der ethischen Wertkategorien, die im Privaten gelegentlich weiterwirken mochten, auch wenn sie nun völlig „säkularisiert" waren. Der Verzicht auf ethische Wertungen hat eine so anständige Wissenschaft wie etwa die Anthropologie in den ärgsten Mißkredit gebracht, die rein utilitaristische Bewertung oder Nichtbewertung des Hilflos-Seins wird von der Medizin gefordert, so daß ihr tiefstes Wesen gefährdet ist —das Ganze die Begleiterscheinung, vielleicht die Voraussetzung eines ungeheuerlichen Vorganges, der „Machtergreifung" von dem den Menschen eingeborenen Bedürfnis der Frage nach dem Unerforschten und Unerforschlichen, nach dem Geheimnis, nach dem Göttlichen, das dem einen Gewißheit, dem anderen Sehnsucht, dem Leugner Unruhe der Seele bedeutet. Wir erleben die Methodisierung des Irrationalen, die Ersatz-Theologie von Rasse und Macht. Wir sehen die Erfindung der profanen Liturgik; das ungewisse Formbedürfnis der Menschen wird aufgefangen und in die Technik der politischen Propaganda eingebettet. Schließlich mündet das alles in den Versuch einer Art von neuer Theokratie: Divus Adolphus. Reichsamtsleiter, die das christliche Wort vom „Jammertal“ dieser Erde verhöhnten, versprachen, daß daraus etwas wie ein Freudenhaus werde. Es ist das Haus der Trauer geblieben, neu geworden, aber nicht des Trauerns.

Die Frage nach dem Versuch einer inneren Verselbständigung des anstaltsmäßigen religiösen Lebens innerhalb eines totalitären Staats-verbandes war jetzt gestellt. Die schlagkräftigste Formel des verwichenen 19. Jahrhunderts mit der liberal-optimistischen Grundhaltung stammte von Cavour: Libera chiesa in lebro stato! Freie Kirche im freien Staat! Auch die deutsche Entwicklung kannte das als Fragestellung. Man hat fast vergessen, daß es Adolf Stöcker war, der in den achtziger Jahren aus Sorge gegenüber diesem Bismarck, der mit den Liberalen paktiert hatte, die „Trennung“ der Kirche vom Staat forderte. Die geistigen Vorspiele sind sehr verschiedener Art: der „Christliche Staat“ von Fr. J. Stahl sieht in seinen Motiven ganz anders aus als Richard Rothe das künftige Bild erschaut, da die kirchlich-religiösen Aufgaben in einem ethisch christianiserten Staat schier aufgehen. Rudolph Sohrn aber be-trachtet den Staat seiner Natur nach, wenn man so sagen darf, als Heiden, der, wenn er in die kirchlich-religiösen Dinge hineinwirken will, ihnen nun aus seiner Natur heraus die Würde und Freiheit raubt; die Kirche ist ihm Bewahrerin des Seelischen, eben der Religion. Die rechtlichen Formen mußten sich nach 1918 wandeln, allein mit dem Wegsinken des monarchischen Summepiskopates. Damals hat Otto Dibelius in seinem Buch von „Jahrhundert der Kirche" versucht, im Zusammenbruch der geschichtlichen Tradition einen neuen Auftrag, nicht so sehr von der dogmatischen, als vielmehr von der struktur-politischen Entwicklung her zu deuten.

Wir haben die Sicherung der Eigenständigkeit des kirchlichen Lebens als ein Politikum, auch als ein Bedürfnis des Staates in der Weimarer Verfassung und in den späteren Verfassungen bestätigt, aber nun freilich als politisches Problem. Die Kompliziertheit der geschichtlichen Tradition geht weiter. Sie hatte sich in der deutschen Geschichte als das Ende des cuius regio, eius religio durch den einfachen Vorgang gelockert, daß Friedrich II. das katholische Schlesien in den preußischen Staatsverband hereingeholt hat. Aus diesem primitiv-machtpolitischen Vorgang war eine neue Aufgabe des Staates entstanden. Er mußte lernen, nicht bloß für einzelne, sondern für Länder, was im Frieden von Osnabrück und Münster garantiert war, die Toleranz, die Anerkenntnis des religiösen Eigenlebens als eine Staatsfunktion, zu begreifen. Das war für den Staat notwendig. Es entstand aber auch für die Kirchen, für die konfessionell aufgespaltenen Kirchen, eine neue Notwendigkeit.

In den Kirchen liegt der natürliche Trieb des Missionierens, nicht um der Statistik, sondern um der Seelen Seligkeit willen, die man beim einen gefährdet sieht, die man beim anderen gerettet wissen möchte. Nun ergab sich dies, daß in der nationalsozialistischen Zeit der totalitäre Staat dieses Ausgewogen-sein, diese Toleranz, als staatliches Bedürfnis nicht mehr sah, sondern in der Kirche, in der Religion, in den christlichen Konfessionen die aus innerer Notwendigkeit und Selbsterhaltungstrieb ihn ablehnenden Gegenkräfte spürte. Das hatte eine geistig sammelnde Wirkung: man wurde bei den Konfessionen der Gemeinsamkeit der Grundsubstanz wieder stärker inne. Sie sind sich über das geschichtlich Trennende hinweg des einheitlichen Ausgangspunkts bewußt geblieben und es soll so bleiben. Die Abwehr gegenüber totalitären Staatsansprüchen bewirkte eine Stärkung auch der spezifisch dogmatischen Positionen; vielleicht war dies sogar eine Voraussetzung der Abwehrkraft. Der Vorgang bringt manches neue Spannungsmoment, zumal auch dort, wo das religiös-kirchliche Wesen den partikular-historischen Raum verläßt.

Ihrer Natur nach ist ein überstaatliches, überterritoriales Denken, die — wenn man so sagen will — internationale Kraft eines Universal-anspruchs, am entschlossensten in der Rechts-und Geistesordnung des römischen Katholizismus zu finden. Es erweisen sich aber auch fruchtbare Ansätze in der nichtrömischen Ökumene, die freilich zur gleichen Zeit vor der Aufgabe steht, die Traditionen des Partikular-Kirchlichen in sich zu verarbeiten. Wir spüren das schwere Problem auch in der deutschen Unterhaltung schon, wo es so viele Kirchen gibt, die irgendwie sich an eine einmal historisch fixierte Bekenntnisformel gebunden fühlen Es liegt hier ein Bereich vor, in dem man nicht durch „Kompromisse“ das oder das „abstreicht“, sondern wo man versuchen muß, von verschiedenen geschichtlichen Ausgangspunkten zu irgend etwas wie einer sachlich tragenden Gemeinschaft zu kommen.

Das Problem der Auswirkung des Religiös-Kirchlichen in politischen Entscheidungen kommt zur Frage der „christlichen Ethik“. Alle Welt-religionen haben ihre ethischen Entsprechungen, deren Wirkkraft in dem Wechsel politischer und sozialer Ordnungen und Anschauungen immer wieder gefährdet erscheint. Vielleicht sage ich etwas LInpassendes: manchmal habe ich einige Theologen im Verdacht, daß sie schon die Ethik für säkularisierte Religion halten oder doch ihre Betonung als eine Kanalisierung zur Überbewertung des Diesseitigen, da die Religion ihre letzte Sinngebung im Transzendenten findet und da die Erörterung der moralisch-ethischen Position leicht eine Wegwendung bedeutet von der Transzendenz, vom Eschatologischen, von Gott, von Gnade und Gericht. Das dogmatische Denken gerät leicht in eine Verlegenheit, wenn es Gruppen-Erscheinungen wie die Quäker, wie die Bemühungen von Caux innerhalb der Theologie systematisieren will.

In dem Bereich der „Ethik" gestalten sich die einzelnen Gruppen-entscheidungen zu den Fragen der Sozialordnung, der gesellschaftlichen Verbindlichkeiten, wie Ehe und Familie, des staatlichen Macht-und Verwaltungsbetriebs. Wie weit stehen diese unter religiösen Vorzeichen? Stehen sie, standen sie, sind sie ihnen entrückt durch die Autonomisie-rung und Säkularisierung? Es ist hier geistesgeschichtlich ein weites Feld, wo christlich-ethische Anliegen mit den weltlich-irdischen Gegebenheiten sich auseinandersetzen und das Christentum einmal die Monarchie fundamentieren soll (Stahl) und dann wieder (Lamennais) die Demokratie. Im deutschen Raum haben von der kirchlichen Seite her Stöcker, von der religiösen Wichern und Werner, Bodelschwingh und Naumann versucht, mit den Werten, ja den Worten der Bibel die gesellschaftliche Ordnung oder Unordnung in ein Reich der Liebe und Gerechtigkeit zu führen.

Man mag in diesem Verfahren manches Mißverständnis, manche Selbsttäuschung finden. Bei dem einen ist das Religiöse das Primäre, aber er findet seine Wirkungsgrenze in den irdischen Sachgegebenheiten. Spürt er die Grenze oder überschreitet er sie, um damit bewußt die religiöse oder kirchliche Grundmotivation zu gefährden? Das haben wir oft genug erlebt. Bei dem andern ist die politische Grundhaltung der Ausgang: konservativ, liberal oder sozialistisch; das Religiöse ist nicht der urtümliche individuelle Anstoß, sondern es gibt Argumente und Rückbezüge als innere Festigungen, gelegentlich auch als Rechtfertigung.

Wie dem auch sei; mit strengen Fragen steht in der Geschichte das Problem: Staatsmacht und religiöse Freiheit, Widerstandsrecht aus religiöser Gewissenskraft oder Resignation gegenüber der Obrigkeit. Denn diese ist von Gott. Sie kennen die Streitgespräche über Luthers „G’eich-gültigkeit", wie mancher sagt, gegenüber dem, was staatlich als Obrigkeit gesetzt und damit hingenommen werden muß in der sündigen Welt. Die Obrigkeit von Gott! Aber wenn sie des Teufels ist? Es wandert durch die Jahrhunderte die Frage nach dem „gerechten Krieg“, die Frage Christentum und Krieg. Ach, den verwichenen Jahrhunderten hat diese Frage wenig Skrupel gemacht. Religionskriege, Kreuzzüge, das Deo lo vult, die Haltung von Luther und Cromwell. Die Lehren des Dreißigjährigen Krieges mit seinen bösen Wirkungen, die Entfaltung des Machtstaatensystems haben die kirchliche und christliche Welt empfindlicher gemacht. Geschichtlicher Ausklang, als die Machtstaatenbildung in der Zeit Napoleons zur Höhe kam: in der „Heiligen Allianz“ suchte man eine Art von christlicher Bremsvorrichtung gegenüber dieser Entfesselung der Machtstaatlichkeit zu schaffen. Das Echte und das Falsche mischten sich dabei.

Die „Dämonie der Macht“! Das Wort Dämonie ist auch etwas in die Gefahr gekommen, Modewort zu werden. Wir haben gespürt, was die Macht — aus christlicher Verantwortung entlassen — bedeuten kann. War es, ist es die Herrschaft des Antichristen, die man hinnehmen muß oder gegen die man sich wehren darf und muß? Ist es eine christliche Schau, eine Ohnmachtsanlage von Staat und Volk, die im eigenen schuld-haft gewordenen Sein begründet ist, als das Gericht zu begreifen?

„Zweimal hat uns Gott die Waffen aus der Hand geschlagen — “ also. Ich weiß solche Gesinnung, solche Argumente, wie wir sie jetzt ge-

legentlich hören, durchaus zu würdigen im Individuellen. Aber ich glaube nicht, daß sie für eine christliche Betrachtung der menschlichen Pflichten in dieser Welt verbindlich ist. Der Pietismus der gläubigen Hingabe wandelt sich dann zu dem Quietismus der abwartenden Resignation.

Das Christentum, in welcher Gestalt immer es in seiner kirchlichen Durchforschung gegangen ist durch die Geschichte, hat Werte des Menschlichen geschaffen, die ewig gefährdet, ewig ein Auftrag und eine Aufgabe sind. Dazu gehört die religiöse Freiheit, dazu gehört auch die bürgerliche Freiheit — es sind die elementaren Voraussetzungen’einer auf Einzelrecht und freier Gruppenverantwortung aufgebauten Volks-ordnung. Sie ist ohne das, was man „Macht“ nennen muß und was, nur zu verständlich, bei einer Generation mit solchen Erfahrungen gar zu schnell mit Gewalt gleichgesetzt wird, unentbehrlich. Macht ist ein Faktor jeden politischen Lebens. Wie relativ, wie gestuft, wie oftmals brüchig, haben wir oft genug erlebt und erleben es täglich, nachdem wir ihre Hybris erlitten hatten. Es gibt Leute, die schon um der Mißdeutung willen dem Wort ausweichen. Die Frage, die Lassauls, der katholische Sozialphilisoph, aussprach und die Jacob Bruckhardt ausgenommen hat, ist keine Frage, sondern eine Ansage; sie meint, daß „die Macht an sich böse“ ist. Soll der Christ, der das Böse scheut, ihr ausweichen oder soll er sie angehen, um sie mit seinen Kräften zu durchdringen? Das klingt ein bißchen sentimental. Denn was sind seine Kräfte? Lassen Sie mich auf den Doctor universalis, Thomas von Aquino, zurückgreifen, auf die vier christlichen Kardinal-tugenden im menschlich-weltlichen Verhalten; sie heißen: Klugheit. Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. Klugheit eine Tugend! Auch Tapferkeit eine christliche Tugend! Und aus dem Begreifen dieser vier Worte, die vier Werte sind und Pflichten, ergibt sich dann auch dies, daß, wer der Macht als Aufgabe nicht ausweicht, mit diesen Kräften den Frieden sichern kann und die Kernfrage des Lebens zwischen Ständen und Gruppen, auch zwischen Staaten und Völkern zu beantworten weiß: das Erhalten, das Fruchtbarmachen des Friedens.

Vor ein paar Jahrzehnten ist das „Wesen des Politischen“ von Carl Schmitt in den Formalismus des „Freund-Feind“ -Verhältnisses gepreßt worden. Die unendliche Vielfalt der Wechselbeziehungen und Wechsel-Wirkungen des politischen Lebens war damit abgedrosselt, indem die dynamische Spannung, die auch dazu gehören kann, isoliert und im Akzent überhöht wurde, jene unendliche Vielfalt, die nicht bloß auf das Freund-Feind-Verhältnis blickt, sondern dorthin schaut, wo über das Formal-logische inhaltliche Substanz des öffentlichen Lebens gesehen wird, die Werte trägt und von Werten getragen wird, die ihrem Wesen nach transzendent sind.

Ob es eine „christliche Politik" gibt, ob das Christentum eben nur im Transzendenten beheimatet ist, ob es um seiner Reinheit willen die weltlichen Entscheidungen in ihrer frei-gesetzten Autonomie gefällt wissen möchte? Mir scheint, es gibt ein Grenzwort, in dem sich die doppelte Schau begegnet: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme an seiner Seele Schaden!“

POLITIK UND ZEITGESGHICHTE

AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Lawrence Fernsworth „Spanien in der westlichen Verteidigung“

Proi. Dr. Paul Hübinger „Abendland und Europa“

G. F. Hudson „Werden Britannien und Amerika in Asien auseinandergehen?“

Dr. Sturm Kegel „Die Sonderheiten des rheinisch-westfälischen Industriegebietes"

Prof. Dr. Theodor Litt „Hemmungen des staatsbürgerlichen Bewußtseins"

Prof. Dr. Gerhard Ritter Das Problem des Militarismus in Deutschland"

Chester Wilmot „Die Rheinarmee und Europa“

Eine Zusammenstellung „Im Brennpunkt Zeitgeschichte"

der aktuellen politischen Literatur

Fussnoten

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