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Abendland, Christenheit, Europa. Eine Klärung der Begriffe in geschichtlicher Sicht | APuZ 4/1954 | bpb.de

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APuZ 4/1954 Abendland, Christenheit, Europa. Eine Klärung der Begriffe in geschichtlicher Sicht

Abendland, Christenheit, Europa. Eine Klärung der Begriffe in geschichtlicher Sicht

Paul Egon Hübinger

Es gibt zwei Wege, auf denen wir Zugang zur Geschichte finden. Man läßt sich zunächst in die Vergangenheit entführen aus unmittelbarer Freude an dem bewegten, bunten Bild, das sie dem Betrachter bietet. Das politische Leben, das kulturelle Schaffen, die Persönlichkeiten großer Menschen von einst locken unsere Wißbegierde und können uns seelische Reize vermitteln, die die Gegenwart nicht zu bieten vermag. Aus der so betrachteten, abgeschlossen hinter uns liegenden Zeit führt keine Brücke zu den Problemen der Gegenwart. Geschichtliches Interesse dieser Art kann eine Form von Flucht vor den Forderungen des Tages sein. Sie vermag in Zeiten totalitärer Herrschaft die wohltuendste Form geistiger Emigration zu bilden. Ihre Bedeutung und ihr Wert liegen aber unbestritten auf dem Feld der geistigen Erkenntnis. Denn diese Form von Anteilnahme am geschichtlichen Leben ist zugleich der Weg, auf dem die verschüttete Wirklichkeit vergangener Zeiten und Menschen aufgedeckt wird. Man erkennt „wie es eigentlich gewesen ist.“ (Ranke)

Außer diesem ersten führt noch ein zweiter Weg in die Vergangenheit. Er beginnt nicht mit der Wißbegier, die auch die Neugier sein kann, welche den Raritäten-und Kuriositätensammler erfüllt, sondern mit der bedrängenden Frage nach Herkunft und Werdegang bestimmter Erscheinungen und Probleme der Gegenwart. Man will nicht ursprünglich wissen, wie es einmal in einer vollendet hinter uns liegenden Vergangenheit gewesen ist, sondern man möchte erkennen, wie unsere Gegenwart geworden ist. Die Lage, in die wir versetzt sind, in der wir handeln, die gegenwärtige Situation, die jede Minute Entscheidungen von uns fordert, führt uns auf den Weg in die Vergangenheit. Wir beschreiten ihn also nicht, um der Gegenwart zu entfliehen, sondern um in sie zurückzukehren, gerüstet mit den aus der Geschichte gewonnenen Erkenntnissen und Erfahrungen. Das ist natürlich nicht in dem platten pragmatischen Sinn zu verstehen, als gäbe es Rezepte, die man in der Vergangenheit nur zu holen und heute anzuwenden brauche, um die Entscheidungen für die Gegenwart so zu treffen, daß die Zukunft uns keine Enttäuschungen bereitet. Der Sinn eines solchen Zugangs zur geschichtlichen Vergangenheit liegt vielmehr darin, das geistige Auge zu schärfen, damit es sich nicht von der marktschreierischen Buntheit der Tagesparolen verwirren läßt. Der Blick in die Vergangenheit vermag den kritischen Geist zu wecken, der ja bei jeder aktuellen Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen hat. Jakob Burckhardt hat diese Funktion geschichtlichen Interesses in klassischer Weise bestimmt, indem er sagte, man solle nicht sowohl klug für einmal als weise für immer werden, indem man Geschichte treibe. In diesem Sinne und in keinem anderen läßt sich wirklich aus der Geschichte lernen. Es wäre allerdings ein verhängnisvolles Mißverständnis, wenn man meinen wollte, der Zugang dieser Art zur Vergangenheit stehe nicht ebenso im Zeichen strenger, an die Quellen gebundener Wissenschaftlichkeit wie das geschichtliche Bemühen, das dem ersten der beiden skizzierten Wege entspricht. Mag unsere historische Arbeit auch ihre Impulse aus der Gegenwart erhalten, so hat sie doch von ihr Weisungen entgegenzunehmen; wir sind auch auf diesem zweiten Wege keiner anderen Instanz als der Wahrheit verantwortlich. ♦ * ♦ Eine Besinnung auf Ursprung und Inhalt des Begriffes „Abendland" ist ganz besonders geeignet, um den zweiten Weg geschichtlichen Bemühens zu gehen. „Abendland" ist zum kulturphilosophischen, zum politischen Schlagwort geworden und wird heute in vielerlei Zusammenhängen gebraucht. Gegenüber den allzu vielen, die vom Abendland als einer festen Gegebenheit sprechen, die ebenso selbstverständlich zu sein scheint, wie sie begrifflich unscharf bleibt, wollen wir die geschichtlichen Voraussetzungen des zum Modeartikel gewordenen Begriffes klären. Wir möchten nicht den Chor derjenigen vermehren, die einem Gemeinplatz seine Wirkung dadurch zu sichern glauben, daß sie ihn ständig wiederholen, sondern wir bemühen uns darum, die ursprüngliche Prägung einer viel-gebrauchten, abgegriffenen Münze sichtbar werden zu lassen, um ihren wahren Wert in unser Bewußtsein treten zu lassen. Damit ergibt sich als unsere Aufgabe zunächst eine historische Analyse des Begriffes „Abendland“, eine Untersuchung der geschichtlichen Faktoren, die ihn konstituieren und der Umstände, die dazu geführt haben, daß dieser Begriff sich schließlich in der heute geläufigen Form auskristallisiert hat. Wir verzichten ganz auf spekulative Erwägungen und gehen von der schlichten philologisch-historischen Worterklärung aus.

Was verstehen wir unter Abendland, wenn wir heute diesen Begriff gebrauchen? Bis zum Überdruß ist es immer wieder augesprochen worden, daß damit die Kultursynthese gemeint ist, die aus dem Zusammenwirken von Antike, Christentum und Germanentum entstand. Wir gebrauchen das Wort also vorwiegend in einem kulturphilosophischen, einem geistesgeschichtlichen Sinn. Das ist nicht immer so gewesen. Wir können die langsame Wandlung des Begriffs bis zur heutigen Bedeutung hin zeitlich ziemlich genau verfolgen, wenn wir das Stichwort „Abendland" in den verschiedenen Auflagen der großen enzyklopädischen Nachschlagewerke der letzten hundert Jahre prüfen. Wir sehen dann, daß die uns allen geläufige Fassung des Begriffes durchaus nicht ursprünglich und noch viel weniger selbstverständlich ist. Freilich: Im einzelnen ist die Begriffsgeschichte dieses so sehr verbreiteten Wortes noch nicht erforscht. So viel scheint sicher, daß das bekannte Werk von Oswald Spengler, das in einem für seinen Titel „Untergang des Abendlandes“ äußerst fruchtbaren Moment, 1918, am Ende des ersten Weltkrieges, also im Augenblick des Zusammenbruchs der europäischen Ordnung von 1815, erschien, von größtem Einfluß auf den Sinn und die Volkstümlichkeit des heutigen Wortgebrauchs gewesen ist. Daneben ist vor allem Hermann Platz mit seiner Zeitschrift „Abendland“ aus den zwanziger Jahren und der um sie gescharte Kreis katholischer Denker und Publizisten zu nennen.

Über diese jüngeren begriffsgeschichtlichen Entwicklungsphasen hin-aus haben wir den Blick noch weiter zurückzulenken und, den wortgeschichtlichen Bereich aufzusuchen. Wir fragen: Wann erscheint überhaupt das Wort „Abendland" in unserer Muttersprache? Was bedeutet es ursprünglich? Welchen Sinnwandel hat dieses Wort seit seinem ersten Auftreten erfahren, welche Worte" — das ist besonders wichtig — entsprechen ihm sonst oder liegen in seiner begrifflichen Nähe und bilden mit ihm zusammen ein Wortfeld? Wie ist diesen Bezeichnungen gegenüber der Wortsinn von „Abendland“ selbst abzugrenzen?

Eine Fülle von Fragen tut sich auf. Aber auch hier muß eine Lücke der Forschung eingestanden werden; es mangelt nicht nur an einer Begriffsgeschichte von „Abendland“, sondern es fehlt auch die wortgeschichtliche Untersuchung dieses Terminus. Wir stellen daher zusammen, was sich bei einer flüchtigen Durchsicht der Quellen ergibt. Wenn damit auch nur Umrisse hervortreten, dürften sie doch ausreichen, um das Bild in seinen Grundzügen erkennbar zu machen.

Goethes feierliche Verse zu Eingang des Westöstlichen Diwan: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord-und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände“ stehen durch die Bezeichnung der Weltgegenden in einer sprachlichen Tradition, die bis auf die Antike zurückgreift. „Orient“, meint die Länder östlich von Griechenland und Italien, wo die Sonne aufgeht; „Okzident“ bedeutet die westlich von Griechenland und Italien liegenden Gebiete, zu denen sich die Sonne beim Untergang neigt. In der lateinischen Dichtersprache gab es eine poetische Umschreibung für den Namen der westlichen Himmelsrichtung und Weltregion, „hesperus", ursprünglich der griechische Name des Abendsterns, uns vor allem noch aus den Klassischen Sagen des Altertums im Zusammenhang mit dem von Herakles bewerkstelligten Raub der Hesperidenäpfel vertraut. Italien erscheint in dichterischer Sprache als „hesperia terra“. Von Italien aus gesehen, für italienische Dichter wie etwa Virgil, ist Spanien die hesperia terra, das Land, das im Westen, in der Richtung des Abendsternes liegt. Das ist — wie man sieht — eine genaue Parallele zu unserer Bezeichnung „Abendland". Im sechsten Jahrhundert, an der Scheide zwischen der antiken und mittelalterlichen Kulturphase unserer Welt, wird der Ausdrude „hesperia terra" auch in einem umfassenden, nicht auf ein einzelnes Land, Italien oder Spanien, begrenzten Sinne angewandt. Bei dem aus Cassiodors historischem Werk schöpfenden Geschichtsschreiber der Goten aus dieser Zeit, Jordanes, ist von der „res publica hesperiae plagae" die Rede. Ein gelehrter Autor aus dem 8. Jahrhundert, der große Angelsachse Beda Venerabilis, spricht dann einmal vom „hesperium regnum“. Beide Male ist damit das weströmische Reich gemeint, d. h. die Westhälfte des Imperium Romanum, das eben in dieser Zeit der Spät-antike in unaufhörlicher Entwicklung in die östliche und westliche Kultursphäre, den Machtbereich Ostroms und die Vielzahl germanischer Staatsgründungen im Westen, auseinanderzustreben begann. „Hesperium regnum, res publica hesperiae plagae" — das damit gemeinte weströmische Reich bestand nicht mehr, als der Gote und der Angelsachse diese Bezeichnung gebrauchten. So ging der Begriff, der seiner Wortprägung nach genau unserem „Abendland" entspricht, unter, ohne eine geistige Spur zu hinterlassen. Das Mittelalter kannte wohl die Bezeichnung „Hesperia“, aber es setzte wegen der Wortähnlichkeit und gestützt auf gewisse literarische Autoritäten „Hesperia" und „Hispania“ einander gleich, wobei die Autorität eines an der Schwelle des Mittelalters stehenden Universalgelehrten maßgebend war: Hesperia ist so für das Mittelalter ausschließlich eine Bezeichnung für Spanien gewesen. „Hispania est et vera Hesperia“ hieß es bei Isidor von Sevilla. Um die westliche Lage eines Landes zu bezeichnen, bot sich das Wort „Okzident“ dar, das wir seit dem Mittelalter auch in unserer Muttersprache finden. Im Mittelhochdeutschen gab es dafür die Übersetzung „Westerland". Sie ist in unserer heutigen Sprache bekanntlich nur noch als Ortsname erhalten. Da es keine einheitliche politische Form für die Länder und Gebiete gab, die einst das weströmische Reich, das „Hesperium regnum“ gebildet hatten, bestand keinerlei Bedürfnis, über den geographischen Begriff „Okzident“ hinaus noch eine weitere Bezeichnung zu besitzen.

Der entscheidende sprachgeschichtliche Schritt für die Bildung des Wortes „Abendland" ist in unserer Muttersprache von Martin Luther getan worden. Luther hat nämlich in seiner Bibel-Übersetzung die Stelle Matthäus 2, 1 „Ecce Magi ab Oriente venerunt Jerosolymam" übersetzt:

„Siehe, da kamen die Weisen von Morgenland gen Jerusalem." So geht die von dieser Bibelstelle aus volkstümlich gewordene Bezeichnung „Morgenland“ auf Luther zurück. In Anlehnung an diese Wortprägung Luthers ist noch im 16. Jahrhundert — an vorerst noch unbekannter Stelle und zu unbekanntem Zeitpunkt — die Bezeichnung „Abendland" in das Deutsche eingeführt worden. Noch Ende des 18. Jahrhunderts erscheint dieses Wort nur mit dem unbestimmten Artikel und in der Mehrzahl; man spricht von einem Abendland, oder von den Abend ländern, und damit sind nicht die Bewohner des Abendlandes gemeint, son(dem die verschiedenen im Westen Europas liegenden Staaten und Gebiete. Das Wort hat also damals noch einen rein geographischen Sinn: es bedeutet ein im Westen liegendes Land oder — im Plural — westliche Länder. Es ist noch völlig unsicher, ob es allgemein gebraucht wird, also ob man von den „Abendländern“ in Amerika, Asien oder Afrika sprechen konnte, wenn man deren westliche Teile meinte, oder ob es in seiner Anwendungsmöglichkeit nur beschränkt war auf die Länder des westlichen Europa. Auf jeden Fall aber erscheint es nicht als Kollektivum und erst recht nicht mit dem spezifisch geistigen Sinn, den wir mit diesem Wort verbinden. Das ist bis tief in das 19. Jahrhundert so geblieben. Aber im frühen 19. Jahrhundert setzt nun auch die Entwicklung ein, die schließlich zu dem heutigen Sprachgebrauch und seiner begrifflichen Eigenart hinführt. Friedrich Schlegel erwähnt in seinen von der Luft der Metternich-und Hofbauer-Zeit durchzogenen Wiener Vorlesungen von 1828 mit Zuspitzung auf die „altchristliche Staaten-einheit und Völkerverbindung“ des Mittelalters das „europäische Abendland“. Der Publizist Wolfgang Menzel spricht 1839 von der „welthistorischen Reaktion des christlichen Abendlandes gegen die mohammedanische Welt.“ Voller zum Klingen kommt dieses Motiv dann bei Leopold v. Ranke. Dieser hat genau vor einem Jahrhundert, 1854, seinem königlichen Freund, Maximilian II. von Bayern, Vorträge über die Epochen der neueren Geschichte gehalten. Hier spricht er von abendländischen Völkern. So wie das Wort da steht, mag es noch einen rein topographischen Sinn haben. Ranke erwähnt dort auch das germanische Abendland; hier sehen wir das Wort bereits als Kollektivum angewandt. Es beginnt aber auch schon das uns vertraute Gepräge anzunehmen, und es ist aufschlußreich, diesen Zusammenhang etwas näher ins Auge zu fassen. Ranke interpretiert z. B. die Kaiserkrönung Karls des Großen und sagt: „Karl hatte zwischen Italien und Frankreich und Deutschland eine Verbindung gegründet, welche unaufhörlich fortwirkte und worauf noch heutzutage das europäische Leben beruht." Auf diese Feststellung wird einige Sätze später Bezug genommen mit den Worten: „Nachdem diese große Einheit des Abendlandes gegründet wurde ..." Hier ist unter „Abendland" deutlich eine historische Größe von starkem individuellem Gepräge verstanden; ihre Entfaltung ist identisch mit dem Inhalt der späteren, der mittelalterlichen Geschichte. Der geographische Rahmen leiht der historischen Größe allein noch den Namen. Die Grundlage für die Konzeption dieses Begriffs bildet Rankes große, sein Geschichtsverständnis maßgebend beeinflussende Vorstellung von der Einheit der germanisch-romanischen Völker. Sie war von fundamentaler Bedeutung für das Geschichtsbild Rankes und ist damit für unser deutsches Geschichtsbild weithin maßgebend geworden. Ranke hat seine Idee klassisch formuliert auf den einleitenden Seiten zu seinem ersten großen Wurf, den 1824 erschienenen „Geschichten der romanischen und germanischen Völker.“

Hier verkündete er als Basis seiner historischen Absicht die Ansicht, daß die germanisch-romanischen Nationen eine Einheit bilden, die von anderen Gemeinschaften deutlich abgehoben sei. Er übertrug damit in den Bereich der politischen Geschichte, was der andere Schlegel — August Wilhelm — 1803/04 in seinen Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst für den Bezirk der Sprachforschung und Literatur-geschichte formuliert hatte. Rankes Einleitung ist unmittelbar bedeu-tungsvoll für uns, denn auf ihren Blättern mißt er jene von ihm konzipierte germanisch-romanische Einheit polemisch an zwei weiteren Begriffen. die unser Kulturbewußtsein und Selbstverständnis vor dem 19. Jahrhundert ausschließlich bestimmt haben, es in Konkurrenz mit dem Abendlandbegriff aber auch heute noch in unterschiedlichem Grade färben: Christenheit und Europa. Wie verhalten sich diese verschiedenen Begriffe Christenheit — Abendland — Europa geschichtlich und inhaltlich zu einander?

An der Schwelle zwischen dem naturrechtlich-universalistischen Geschichtsbild der Aufklärung und dem christlich-universalistischen Geschichtsbild der Romantik, vier Jahre, nachdem Ranke das Licht der Welt erblickt hatte, im Jahre 1799, bildeten jene beiden anderen Begriffe den programmatischen Titel eines berühmten Aufsatzes von Novalis: „Die Christenheit oder Europa". Es ist wichtig, gleich festzustellen, daß dieser Titel keine Alternative meint, sondern Identität. In seinem Aufsatz hat der romantische Dichter ein schwärmerisches Bild der im Mittelalter unter dem Papst herrschenden Glaubenseinheit entworfen, umleuchtet von einem Goldglanz, der inzwischen im scharfen Licht der kritischen Geschichtsforschung längst verblassen mußte. Der Inhalt des Aufsatzes braucht uns hier nicht weiter zu kümmern, aber was ist mit den Größen und Begriffen: „Christenheit“ und „Europa" gemeint? Was hat ihre Gleichsetzung zu bedeuten?

Wir beginnen wieder mit der schlichten Untersuchung des Wortes und kommen von da zum Verständnis der Begriffe. „Europa“ ist zunächst einmal und in erster Linie ein geographischer Begriff, der der griechischen Antike entstammt. Es bezeichnet die reichgegliederte westlichste Halbinsel des riesigen asiatischen Festlandblockes. Wenn dieses Stüde Erde zum Range eines selbständigen Erdteiles erhoben worden ist, was dem Subkontinent Indien versagt bleibt, so ist das selbst schon ein Stück und ein Resultat der europäischen Geschichte. Diese Erhebung beruht nicht auf geographisch-morphologischen Tatsachen, sondern auf den einzigartigen Leistungen der Bewohner dieser Gebiete, die sich unter den Völkern des Erdballs zu führender Stellung erhoben haben Wie weit reicht Europa in seiner ursprünglichen Bedeutung? Die Antike und in ihrem Gefolge das Mittelalter ließen seine Grenze am Asowschen Meer beginnen und sich donauaufwärts im Ungewissen der nördlichen Regionen verlieren. Auch dafür war Isidor von Sevilla jahrhundertelang die maßgebende Autorität: „Europa autem ... incipit a flumine Tanai". So ist es geblieben bis zum 16. Jahrhundert. Seitdem sind verschiedene neue Lösungen versucht worden, eine östliche Begrenzung Europas zu finden. Sie hängen zusammen mit der Ausbreitung Rußlands nach Osten und der wachsenden Erforschung dieser Gebiete, die bis dahin für die westlichen Menschen eine terra inoognita bildeten. Formal handelt es sich dabei um den humanistischen Rückgriff-auf die antike Kosmographie — die geistige Wurzel dafür liegt in einem fundamentalen Voraussetzungswandel, der in das 1 5. Jahrhundert fiel. Von ihm wird noch zu sprechen sein. Die Geo-

graphen haben sich niemals einigen können, wo Europa eigentlich aufhört. Die maßgeblichen Werke vertreten heute im wesentlichen die Meinung, daß die Grenze zwischen Europa und Asien ausgehend von der Donmündung bis zur Manytsch-Niederung führt, dann durch das Kaspische Meer gebildet wird und von hier aus nach Norden durch den Lauf der Flüsse Emba, Tobol und Ob bis zum Ochotskischen Meer bestimmt ist. Also nicht der Ural, der in der volkstümlichen Vorstellung meistens als die Grenze Europas gegenüber Asiens genannt wird, ist nach Ansicht der Geographen die Scheidelinie, sondern sie legen sie um einiges mehr nach Osten; übrigens findet das auch in der russischen Verwaltungseinteilung bereits der Zarenzeit seinen historisch-geographischen Niederschlag: das asiatische Rußland beginnt ostwärts des Ural. Was zunächst hierbei klar wird, ist: „Europa“ umfaßt räumlich ein viel weiteres Gebiet als das „Abendland“.

Aber wie steht es mit dem geistigen Gehalt? Vor dem Kultur-begriff Europa ist der politische Gehalt dieses Wortes ins Leben getreten, und zwar an zwei zeitlich weit voneinander abliegenden Stellen unserer europäischen Geschichte. Zunächst einmal um das Jahr 800 in den Reihen der Hofgelehrten Karls des Großen. Diese Männer befanden sich in einer gewissen Verlegenheit, um das Gebiet zu bezeichnen, über das sich die Hegemonie Karls und der Franken erstreckte. Es war nicht mehr das Imperium Romanum, denn das hatte ein viel weiteres Gebiet umfaßt; auch widerstrebte es dem Selbstbewußtsein der Franken, dessen Titel für den eigenen Herrschaftsbereich zu verwenden. Es war aber auch nicht das Regnum Francorum, denn das Frankenreich war viel enger als der Hegemonialbezirk Karls des Großen. So haben die karolingischen Gelehrten den Begriff „Europa“ aufgegriffen, um den fränkischen Hegemonialbezirk zu bezeichnen. Diese politische Anwendung eines ursprünglich geographischen Begriffes ist aber mit dem Gedanken der Einheit des fränkischen Großreiches im 9. Jahrhundert untergegangen und so spurlos verschwunden, daß erst die Gelehrten unserer Tage diese erste Stufe eines politischen Europa-Begriffes aus den Quellen recht mühsam wieder ausgegraben haben. Einen neuen politischen Europabegriff treffen wir seit dem 16. Jahrhundert. Er ist geradezu ein geistiges Requisit im öffentlichen Leben des 17. und 18. Jahrhunderts. Das System der politischen Mächte jenerZeit wird beherrscht vom Gedanken des „Europäischen Gleichgewichts"; das Verhältnis der führenden Mächte wird als „Europäischs Konzert“ bezeichnet; der Europabegriff begegnet in wechselvoller Verwendung im Bereich der politischen Literatur: das „Theatrum Europaeum“, die „Europäische Staats-Cantzley" sind politisch-historische Publikationsorgane, die in ihren Titeln davon zeugen. Dieser politische Gebrauch des Begriffes reicht hin bis zu den jüngsten Anwendungsfällen im Bereich des Gedankens einer europäischen Föderation.

Neben diesem politischen Charakter aber hat der Begriff Europa einen umfassenden geistigen Gehalt bekommen. Kein anderer hat ihn in so schöne Worte gekleidet wie Jakob Burckhardt. Er rühmt in den Aufzeichnungen, die erst spät aus seinem Nachlaß veröffentlicht wurden und heute im 7. Band der Gesamtausgabe seiner Werke zugänglich sind, „Europa als neuen und alten Herd vielartigen Lebens, als Heimat aller Gegensätze, die in der einzigen Einheit aufgehen, daß hier alles Geistige zum Wort und zum Ausdruck kommt. Europäisch ist: das Sichaussprechen aller Kräfte in Denkmal, Bild und Wort, Institution und Partei bis zum Individuum, das Durchleben des Geistigen nach allen Seiten und Richtungen, das Streben des Geistes, von allem, was in ihm ist, Kunde zu hinterlassen, sich nicht an Weltmonarchien und Theokratien — wie der Orient — lautlos hinzugeben.“

Wir spüren, hier lebt eine Gesinnung, die in vielen Zügen derjenigen gleicht, die uns aus dem Begriff „Abendland“ entgegensieht, die aber auch in wesentlichen Punkten gänzlich verschieden von ihr ist. In der Tat, Jakob Burckhardt steht mit diesem Lobpreis Europas in der humanistischen Tradition von vier Jahrhunderten. Sie hat den zunächst geographisch, dann auch wieder politisch verstandenen Namen Europas mit dem vollen Gehalt an Bildungs-und Kulturwerten erfüllt, der seit der Renaissance aufgeblüht ist, und den gerade der große Basler auf so einzigartige Weise in seiner Persönlichkeit wie in seinem Werk verkörpert hat. Dieser Europagedanke ist geboren aus dem Kulturbewußtsein des Humanismus. Er hat seit dem 16. Jahrhundert die Funktion eines geistigen Bandes nicht allein für die in Nationalstaaten zerrissene politische Welt unseres Kontinents zu erfüllen getrachtet, sondern auch einen Ersatz bilden wollen für den älteren Begriff„Christenheit“. Diesen Begriff kennen wir aus dem Titel von Novalis’ Aufsatz, und wir haben uns gleich noch eingehender mit ihm zu befassen. Seitdem nämlich die Bekenner des Christentums in verschiedenen, sich stark bekämpfenden Konfessionslagern standen, wurde der — auch von anderen Voraussetzungen aus als fragwürdig empfundene Begriff „Christenheit“ unbrauchbar, um eine geistige Einheit zu bezeichnen. So spiegelt sich die Säkularisierung des Denkens seit dem 16. Jahrhunderts in dem Übergang von „Christenheit“ zu „Europa“.

Wir sehen: dieser Europabegriff, der geographisch und politisch mehr bedeutet als „Abendland“, ist doch gegenüber „Abendland“ eingeschränkt hinsichtlich seines geistigen Gehalts. Wir können ihn darum redlicherweise nur da verwenden, wo er entweder jene geographische oder politische Größe Europa meint oder aber den geistesgeschichtlichen Sachverhalt des humanistischen Universalismus bezeichnen soll, der das Christentum zu seiner Begründung nicht heranzieht. Indem dies ausgesprochen wird, ist zugleich eine Grenze gegenüber der radikalen Ablehnung des Europabegriffes gezogen, die vor allem Oswald Spengler in erbitterten und immer wieder von ihm gepredigten Sätzen verkündet hat. Seine Abneigung gegen „Europa“ stammt natürlich nicht etwa aus dem Protest gegen die Säkularisierung des geistigen Weltbildes, die sich in diesem Begriff ausdrückt, sondern Spengler möchte das Wort „Europa" aus der Geschichte und der Geschichtsbetrachtung gestrichen sehen, weil es, wie er sagt, „unter der Suggestion des Landkartenbildes" Rußland mit dem Abendland in unserem historischen Bewußtsein zu einer durch nichts gerechtfertigen Einheit verbindet. Rußland aber zählt für Spengler — wie bekanntlich übrigens schon für Karl Marx — zu Asien.

Wieviel mehr aber als der Begriff „Europa" hätte eben jener zweite, von Novalis synonym mit ihm verwandte Begriff „Christenheit“ gerade Rußland mit dem übrigen Europa zu einer geistigen Einheit zusammenfassen müssen, denn wie immer Rußland politisch stand und wie immer die Geographen seine morphologische Zugehörigkeit definieren wollen und können — Christen sind die Russen seit dem 10. Jahrhundert.

Seit der frühesten Zeit des Christentums ist seinen Bekennern die Vorstellung vom „populus Christianus totius orbis" geläufig. Diese Vorstellung hat schließlich die klassische antike Einteilung der Menschen in Hellenen und Barbaren überwunden und dadurch eine ungeheure geistesgeschichtliche Wirkung ausgeübt. Wir dürfen in ihr geradezu einen Grundzug des christlichen Selbstverständnisses sehen. Die Religion, die die Menschwerdung Gottes zur Erlösung der Menschheit als ihre zentrale Lehre verkündet, kann nicht anders als universal empfinden. So finden wir denn auch in hunderten von Belegstellen seit den Kirchenvätern diesen Glauben und diese Vorstellung immer wieder bezeugt und belegt. Ich beschränke mich darauf, eine einzige sehr charakteristische Stelle aus karolingischer Zeit zu zitieren. In den Akten einer Pariser Synode aus dem Jahre 823 findet sich der Satz: „Universalis sancta Dei ecclesia unum Corpus esse manifeste credatur.“ So hätte also der slawische Osten vom Begriff der „Christenheit" mit umschlossen werden müssen, seitdem er im Verband des unum Corpus lebte, also christlich war. Er bezog sein Christentum aber aus Byzanz, und als diese byzantinische Mission bei den Slawen erfolgte, hatte sich in einem jahrhundertelangen Prozeß bereits die östliche byzantinische von der westlichen lateinischen Christenheit geschieden. Die christologischen Streitigkeiten vom 4. bis 7. Jahrhundert, sodann der Bilderstreit im 8. u. 9. Jahrhundert und hinein verwoben in diese dogmatischen Auseinandersetzungen der Kampf um die Anerkennung des päpstlichen Primates durch die großen Patriarchate des Ostens, sind ebensoviele Etappen der westöstlichen Differenzierung und Entfremdung, auf die vorhin mit einem Worte schon hingedeutet wurde. Drei Jahrzehnte vor jener fränkischen Synode, aus deren Akten eben ein so charakteristisches Zeugnis für die Vorstellung des „populus Christianus totius orbis" angeführt werden konnte, erwähnen englische Annalen eine Synode der byzantinischen Bilderverehrer, deren Akten damals nach England geschickt worden seien. Sie sagen dazu: „Imagines adorare debere, quod omnino ecclesia Dei execratur", d. h. auf jener Synode im Osten habe man den Beschluß gefaßt, die Bilder müßten adoriert werden, was doch die Kirche Gottes ganz und gar verabscheue. Hier stellt sich der Westen den östlichen Bedennern des Christentums mit einem universalen Auschließlichkeitsanspruch entgegen. Der Zerfall der einstmals eine große kulturelle, politische und wirtschaftliche Einheit bildenden antiken Welt, der sich über Jahrhunderte hingezogen hat, wurde durch den Prozeß der religiösen Differenzierung von West und Ost besiegelt. Die Ära dieser dogmatischen Kämpfe und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen endete, nachdem die machtpolitische Entwicklung längst abgeschlossen war, in höchst dramatischer Weise vor genau 900 Jahren, 1054. Damals verfluchten sich der Papst in Rom und der Patriarch in Konstantinopel gegenseitig als Schismatiker; der damit eingetretene Bruch ist nicht mehr geheilt worden. Seit jenem Tage umfaßt die christliche Welt zwei scharf voneinander getrennte, sich nach verschiedenen Richtungen hin entwickelnde Sphären: den Bereich des lateinischen Christentums und den Bezirk des orthodoxen Bekenntnisses. Unbefangen setzten die Lateiner ihren Sprengel mit der „ecclesia universalis" gleich, wie sie es schon gewohnt waren. Die Griechen ihrerseits sahen ebenso entschieden den ganzen Umkreis des alten Rom von der Adria bis zu den Säulen des Herkules als ein von barbarischer Unkultur wie von schismatischem Ketzerglauben erfülltes Gebiet an und hielten den von kirchlichem Universalismus nicht zu trennenden universalen Reichsanspruch ideologisch ungebrochen aufrecht. Am Gegensatz zueinander entzündete sich wechselseitig das Gemeinsamkeitsbewußtsein der Griechen auf der einen, der Lateiner auf der anderen Seite. Die Grenze zwischen dem lateinischen und griechischen Bekenntnis ist schärfer bestimmt als die Grenze Europas gegen Osten und kaum weniger scharf als die Grenze, die Christen von Nicht-christen scheidet. Das zeigt sich gerade bei einem großen Unternehmen, das man im Nachhall romantischer Emphase gemeinhin als besondere Manifestation eines universal-christlichen Bewußtseins anzusprechen gewohnt ist, bei den Kreuzzügen. Man übersieht dabei neben den eklatanten Gegensätzen im lateinischen Lager selbst die offen hervortretende scharfe Feindschaft zwischen Griechen und Kreuzfahrern, welche einsichtig macht, daß hier nicht die „Christenheit“, sondern deren westliches lateinisches Teilstück den Ungläubigen, dem Islam, im Kampf gegen-übertrat. Aus dem Spätmittelalter haben wir die brennende Anklage des Aeneas Silvio Piccolomini, Mohammed sei durch den griechischen Kaiser Herakleios zu seiner „Sektenstiftung“ angeregt worden. Das bedeutet in ebenso totaler wie grotesker Verdrehung der historischen Tatsachen, daß der führende Repräsentant des Griechentums in Kirche und Staat, der griechische Kaiser, jenen „Sohn des Unheils“ dazu gebracht habe, den Unglauben im Sinne des Mittelalters in die Welt zu setzen, der den Menschen damals geistig und politisch ein mindestens so schweres Problem aufgab wie uns heute der Bolschewismus. Byzanz in den Händen der irrgläubigen Griechen sei für das Christentum kaum minder verloren als Jerusalem — über dem der Halbmond errichtet war — schrieb um die gleiche Zeit im 15. Jahrhundert ein Papst. So gibt es also tatsächlich im religiösen, im geistig-kulturellen Bereich eine Grenze, die Europa durchzieht, indem sie, von den kirchlichen Gegebenheiten zunächst getragen, die lateinisch-abendländische von der griechisch-östlichen Welt scheidet. Diese Grenze hat zwei Erscheinungsformen: sie trennt Anschauungen, aber da diese an Menschen in hierarchisch geordneten, räumlich fest umschriebenen Kirchensprengeln gebunden sind, auch Gebiete voneinander. Sie kann darum kartographisch dargestellt werden. Seit dem 11. Jahrhundert hat sie nur geringe Veränderungen erlebt. Heute verläuft sie von Kirkenes hoch im Norden Finnlands über den Ladogasee, Narwa, Dünaburg, Wilna in südlicher Richtung gehend, zunächst bis nach Lemberg und Kronstadt, um dann scharf umzubiegen und in komplizierten Windungen westwärts gerichtet sowie der Save eine Strecke folgend bei Zara an die Adria zu stoßen und damit das Mittelmeer zu erreichen. An dieser Linie hat sich der fundamentale Gegensatz zwischen der westlich-lateinischen und der östlich-byzantinischen Christenheit ausgeprägt.

In jenen spätmittelalterlichen Jahrhunderten nun, aus denen wir eben so besonders gehässige Anklagen gegen die Griechen hörten, ist der schon ältere, seit dem 13. Jahrhundert bekannte Ausdruck „Christianitas", „Christenheit" in den uns geläufigen Sinn gebracht worden und hat sich seitdem, wenn auch in wechselnder Stärke und Bedeutung, gehalten. Sein Aufkommen hängt zusammen mit dem geschichtlichen Schicksal des griechisch-orthodoxen Bereiches in dieser Zeit. Er wurde durch die an-drängenden Türken immer stärker eingeschränkt; der byzantinische Kaiser suchte Rückhalt im Westen, und so bildet „Christenheit" ein begriffsgeschichtliches Denkmal für das damals neu erwachende und gepflegte Empfinden bekenntnismäßiger Einheit aller Christen in Ost und West in der Solidarität gegenüber den „Ungläubigen“. Zugleich ist eine zweite zeitgeschichtliche Voraussetzung in dem Begriff der „Christenheit" und für seinen Bodengewinn im Spätmittelalter wirksam gewesen.

Das Wort wird nämlich auch getragen von dem genossenschaftlichen Kirchenbegriff der konziliaren Bewegung. Seine Lebenskraft als eine dauernd gültige Kategorie geistig-politischer Ordnung war allerdings zu eng an diese beiden zeitgeschichtlichen Voraussetzungen gebunden, um dauernd bestehen zu können. Die schwachen Reste des byzantinischen Reiches fielen 1453 den Türken zum Opfer; die konziliare Bewegung wurde um die gleiche Zeit innerkirchlich überwunden. Luther verwandte freilich „Christenheit" mit Vorliebe anstelle von ,, Kirche", weil dieses Wort mit einem festgeprägten, institutioneilen Vorstellungsinhalt verbunden war, dem sein Kirchenbegriff widerstrebte; so erfuhr es im 16. Jahrhundert eine kräftige Blüte. Für Calvin aber — und damit für die weltgeschichtlich wirksamste Form der reformatorischen Bewegung — war nicht „Christenheit“, sondern die Vorstellung vom Reich Gottes der adäquate Ausdruck seines Gottes-und Kirchenbegriffes. In den hochgehenden Wogen der konfessionell-politischen Auseinandersetzung schien dann die Abkehr von theologisch-kirchlichen Begriffen dem Corpus poiiticum allein noch die Fortexistenz zu sichern. So ist es bezeichnend, daß Jean Bodin wie kein anderer dem Begriff „Europa“ statt des bei ihm noch durchaus lebendigen „Christenheit“ den Vorzug in einem so starken Grade gibt, daß man sagen konnte, er habe viele Jahrzehnte in dieser Begriffsentwicklung vorweggenommen. Jean Bodin löste auch auf dem historischen Feld durch die Abkehr von der Periodisierung nach den vier Weltmonarchien, im politischen Bereich durch seine Staatslehre und mit seinem Colloquium Heptaplomeres in der Sphäre der Religion den Zusammenhang mit der theologisch-kirchlichen Tradition, in der er selbst noch so stark wurzelte. Indem „Christenheit“ jene östlichen, seit 1453 unter dem Halbmond stehenden Gebiete nicht mehr mit-umfassen konnte und seitdem auch eingeschränkt auf die lateinische Welt aus verschiedenen kirchenpolitischen wie geistesgeschichtlichen Gründen unbrauchbar wurde, begann der Aufstieg von „Europa“. In der Folgezeit wirkten die beiden Begriffe in mannigfaltiger Weise aufeinander ein. Sie verbanden sich schließlich zu der bei Leibniz bedeutsamen Formel „christliches Europa“ und dem Titel des Aufsatzes von Novalis, von dem wir ausgegangen sind.

Ranke nun hatte sich in der Einleitung zu seinen Geschichten der romanischen und germanischen Völker gegen die Begriffe „Christenheit“ und „Europa" als geschichtliche Kategorien gewandt, weil er Rußland und die Türkei nicht in seine Konzeption der europäischen Geschichte einbeziehen wollte: Rußland nicht wegen seiner riesigen Erstreckung über den Norden Asiens, die von Asiaten beherrschte Türkei — die an die Stelle des alten byzantinischen Reiches getreten war und, als Ranke schrieb, bis zur Save reichte — nicht, weil sonst die europäische Geschichte ohne ein Durchdringen und Einbeziehen der gesamten asiatischen Verhältnisse nicht gründlich verstanden werden könne. Für die Konzeption und die Disposition einer 1824 erschienenen Darstellung der politischen Geschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts sind das zweifellos zwingende Gründe, aber zur positiven Begründung der Konzeption des „Abendlandes“ in dem Sinne, wie Ranke eine „romanisch-germanische“ Welt auffaßte, reichen diese negativen, dem Arsenal machtpolitischer Argumente entnommenen Elemente keineswegs aus. Novalis, gegen den Ranke, ohne seinen Namen auszusprechen, polemisiert, hatte die „Christenheit“ —wie er sie verstand — mit der lateinischen Ausprägung des christlichen Bekenntnisses gleichgesetzt und war dabei der westlichen Tradition gefolgt, die wir seit dem frühen Mittelalter lebendig sahen. Der Vorwurf von Ranke, in ein solches Geschichtsbild müßten auch die christlichen Armenier einbezogen werden, trifft Novalis daher nicht. Die so verstandene „Christenheit“ hatte Novalis zugleich aber auch mit „Europa“ gleichgesetzt, indem er den humanistisch-aufklärerischen Gehalt an kulturellen Werten darunter verstand, aber übersah, daß der gleiche Leibniz, der ihm auf diesem Weg vorangegangen war, doch auch schon im Jahre 1677 geschrieben hatte: „Tota Europa non est christiana“. Freilich meinte Novalis mit diesem „Europa“ nichts anderes als die Kulturgröße, die wir „Abendland“ nennen — das lehrt seine Gleichsetzung von (lateinischer) „Christenheit“ und „Europa". Auch insofern trifft Rankes Kritik ihn daher nicht. Rankes eigene Konzeption der Einheit der romanisch-germanischen Völker, die er anstelle des Christenheitsbegriffes und des Euiopabegriffes setzte, deckt sich andererseits durchaus nicht mit der lateinischen Christenheit. Sie schließt nämlich die ihr angehörenden „slawischen und lettischen Stämme“ mit vollem Bewußtsein aus, weil diese, wie Ranke sagt, „eine eigentümliche und besondere Natur“ haben. A. W. Schlegel hatte einst Polen und LIngarn aus seiner romantisch gefärbten Umdeutung des Europabegriffs eliminiert, weil sie „kein eigentliches Rittertum und keine alten poetischen Nationaldenkmäler von Bedeutung" besessen hätten. Sein Einfluß auf Rankes Geschichtsbild ist auch in dessen Begrenztheit unverkennbar. Andererseits übergeht Ranke stillschweigend die Balkanromanen. In dieser Hinsicht ist seine Konzeption zu weit gefaßt, da er doch von romanisch -germanischen Völkern spricht. Sie ist — legt man einen philologisch-historischen Maßstab an — nicht in Einklang zu bringen mit seiner tatsächlich ganz allein auf Mittel-und Westeuropa eingestellten Betrachtungsweise. Aber diese romanisch-germanische Konzeption erweist sich hinwiederum in anderer Hinsicht als entschieden zu eng, weil sie auch von den Kelten Irlands schweigt. Diese sind weder Germanen noch Romanen, haben aber bekanntlich in der Geschichte der lateinischen Christenheit und bei dem auf Tradition beruhenden Wachstum der abendländischen Kultur des Mittelalters eine sehr bedeutende, folgenreiche Rolle gespielt.

Fassen wir zusammen, was auf etwas verwickelten Pfaden vor unser geistiges Auge gerückt worden ist, so müssen wir sagen, daß der Abendlandbegriff enger ist als die Begriffe Christenheit und Europa, aber umfassender als Rankes Konzeption der romanisch-germanischen Nationen. Denn wir beziehen in ihn auch Völker ein, die weder Germanen noch Romanen sind, ja nicht einmal Westeuropa angehören.

Wir gelangen zu dieser Auffassung, weil wir die Entstehung des Abendlandbegriffes aus geistig-religiösen Voraussetzungen zeigen zu können glauben. Wie steht es mit den Aussagen der Quellen? Bestätigen sie unsere Auffassung oder widersprechen sie ihr? Die Quellen aus der Werde-und Hochzeit der lateinischen Christenheit stellen die von Ranke so genannte „eigentümliche und besondere Natur" der Ostvölker nicht in Frage, aber diese zum lateinischen Christentum bekehrten Slawen und Magyaren werden von den Menschen des Westens der eigenen Welt als zugehörig empfunden. Insbesondere gründet das nationale Geschichtsbild der betreffenden Völker, vor allem der Ungarn und Polen, d. h. das historisch fundierte Selbstbewußtsein dieser Nationen, auf der Überzeugung, im Dienste der lateinischen Christenheit, zu der sie gehören, eine Mission zu erfüllen. Durch die polnischen und ungarischen Kämpfe gegen Russen, Mongolen und Türken wurde dieses Selbstverständnis, diese historische Konzeption, bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder aufgefrischt und gesteigert. Der Heldentod des Piastenherzogs Heinrich von Liegnitz gegen die Mongolen 1241, die Rolle des polnischen Königs Johann Sobieski bei dem Entsatz Wiens von der türkischen Belagerung 1683 haben — um nur einige Beispiele zu nennen — in diesem Geschichtsbild eine zentrale Funktion. Mit diesen Beispielen stoßen wir nun freilich auf eine Konkurrenz zu dem deutschen Anspruch, die Vormauer des Abendlandes gegenüber Ungläubigen und politischen Gefahren aus dem Osten zu bilden. Seine Wurzeln führen zurück zu dem habsburgischen Kaiser-und Reichsgedanken des 17. und 18. Jahrhunderts, als die mit der deutschen Krone geschmückten Habsburger in Ungarn und auf dem Balkan tatsächlich die Bannerträger der Christenheit und Europas gegenüber den Türken waren. Nationale Gegensätze sind also, durch eine solche „abendländische“ Überzeugung von der eigenen geschichtlichen Mission nicht ausgeschlossen. Sie haben das Verhältnis zwischen Deutschen und Ostvölkern besonders schwer belastet; aber man kann hieraus keinen historischen Einwand gegen die Einbeziehung jener Völker in die abendländische Gemeinschaft ableiten. Denn ist nicht das Verhältnis der Franzosen zu den Deutschen und den Engländern, der Normannen und Angelsachsen, der Franzosen, Italiener und Deutschen zueinander — also innerhalb von Rankes postulierter romanisch-germanischer Einheit — nicht schon länger und oftmals auch stärker als eine psychologische Belastung wirksam gewesen und empfunden worden? Man hat genau zu scheiden zwischen einer geistig-religiösen Einheit und einem politischen Gemeinschaftsbewußtsein. Jene ist im Bereich des Abendlandes immer gegenüber dem Fremden, dem Andersartigen, als bedrohlich Empfundenen lebendig gewesen. Ein politisches Gemeinschaftsbewußtsein hingegen hat es für das Abendland niemals gegeben, auch nicht in den Zeiten, die angeblich von dem universalen Glanze der auf dem Haupt des deutschen Königs ruhenden Kaiserkrone erfüllt waren. Ob ein politisches Gemeinschaftsbewußtsein für Europa entstehen wird, das über die zunächst vom Staateninteresse bestimmten älteren politischen Europaideen hinaus wirksam werden kann, muß die Zukunft lehren.

Sicher aber können wir heute einen Vorgang beobachten, der sich in ähnlicher Form schon einmal abgespielt hat: wie einst die Begriffe „Christenheit“ und „Europa" eine zu gegenseitiger Bereicherung führende Begegnung vollzogen, so jetzt die Begriffe „Europa“ und „Abendland". Vielfältiger instrumentiert, dem geistigen Reichtum, den wir an Europa lieben, stärker entsprechend und infolge der griechisch-lateinischen Scheidelinie zugleich klarer abgegrenzt und stärker mit der Tradition verbunden als „Europa“, scheint der jüngere Abendlandbegriff dazu berufen zu sein, den älteren Bruder geistig reicher auszustatten. Hierbei wird sich freilich noch herausstellen müssen, auf welchen Wegen die Gefahr zu vermeiden ist, daß dabei die nicht zum „Abendland“ gehörenden, sich aber zu „Europa“ zählenden Gebiete unseres Kontinents — der ja nicht mit der „Western World“ der englisch-amerikanischen Konzeption gleichzusetzen ist — ausgeschlossen bleiben. Dem Historiker liegt es nicht ob über diese Zukunftswege Spekulationen anzustellen, doch kann eine Besinnung auf die konstitutiven Elemente und geschichtlichen Phasen des „Abendlandes" einige Hinweise auf mögliche Entwicklungslinien bieten.

Dieses Abendland ist ja auch nicht von allem Anfang an und in der räumlichen Ausdehnung da, die wir ihm heute zurechnen, ebensowenig wie seine leitenden geistigen Werte von Beginn an fertig zur Verfügung standen. Sein Kernraum wird umschlossen von den Grenzen des weströmischen Reiches, soweit sich innerhalb von ihnen der Zusammentritt von antikem Kulturerbe, christlichem Glauben und germanischem Volkstum vollzogen hat. Die providentielle Rolle, die das römische Universal-reich für die Ausbreitung des Evangeliums gespielt hatte, war schon früh von den christlich gewordenen Römern gepriesen worden. Der Gedanke des Imperium Christianum überlebte den politischen Zusammenbruch des Imperium Romanum und wurde einer der stärksten Faktoren beim Aufbau des abendländischen Bewußtseins. In dieses christliche römische Reich sind die Germanen eingedrungen. Sie übernahmen seine Schriftkultur und seinen religiösen Glauben; ausdrücklich und mehrfach in ergreifenden Worten bekannten sie sich zu der Aufgabe, mit ihrer Kraft den Glanz dieses Reiches und seiner Kultur zu erhalten.

England war im 5. Jahrhundert vom römischen Imperium politisch aufgegeben worden. Es wird zweihundert Jahre später von Papst Gregor d. Gr. durch die Entsendung der benediktinischen Missionare aus Rom nach England für die römische Kirche und damit für den Kulturbereich des Abendlandes zurückgewonnen. Dieses Ereignis. ist in mehr als einer Hinsicht von weltgeschichtlichen Folgen gewesen. Wir betrachten es in dem Zusammenhang, der uns hier beschäftigt, nur als den ersten Schritt einer 700 Jahre dauernden Kulturbewegung, die den Raum des Abendlandes weit hinaus über die Grenzen des römischen Reiches ausgedehnt hat. Er vollzog sich noch innerhalb der ursprünglichen Grenzen des Imperium Romanum, denn Britannien war ja jahrhundertelang eine römische Provinz gewesen. Es folgen dann aber jenseits der alten Reichsgrenzen die Gewinnung des ostrheinischen Deutschland, abgeschlossen durch die Sachsenbekehrung unter Karl dem Großen, die Mission des skandinavischen Nordens und des slawischen Ostens sowie zuletzt der baltischen und finnischen Völker in fränkischer, ottonischer, salischer und staufischer Zeit. Dabei ist es im Südosten während des 9. Jahrhundert zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen der lateinischen und byzantinischen Mission gekommen. Das Ergebnis der damals ausgefochtenen Kämpfe hat bis zum heutigen Tage in diesen Gegenden den Kultur-status der Völker bestimmt. In Böhmen, Mähren, Slowenien und Kroatien mußten die griechisch-slawischen, von Byzanz aus vordringenden Missionare weichen; umgekehrt ist es Byzanz gelungen, Bulgarien, das sich zeitweise der lateinischen Mission öffnete und römische Glaubensboten ins Land rief, endgültig für die orthodoxe Kirche zu gewinnen. Die politische Vergangenheit der Länder zwischen Adria und Donau, ihre Kultur und gegenwärtige Struktur spiegelt die von uns hervorgehobene Tatsache, daß das Abendland seine Ausprägung im Gegensatz zur byzantinischen Welt erfahren hat, besonders deutlich. Es bildete ein ungelöstes Kernproblem des 1918 entstandenen jugoslawischen Staates, daß Kroaten und Slowenen die lateinische Schrift und den römisch-katholischen Glauben, die Serben hingegen die kyrillische Schrift und den griechisch-orthodoxen Glauben haben.

Weiter im Norden, zwischen Deutschland und jener früher beschriebenen, durch Polen verlaufenden Grenze des Abendlandes, welche durch die Scheidelinie zwischen laeinischer und orthodoxer Christenheit gebildet wird, hat — wir deuteten schon darauf hin — die nationale Eifersucht der dort lebenden Völker, die Rivalität der Staaten und seit einiger Zeit auch die Spannung zwischen den Bekennern und den Feinden des Christentums dazu geführt, daß der gewaltige, von Mission und politischer Expansion natürlich gar nicht zu trennende Prozeß in seiner Gesamtheit noch nicht unbefangen erforscht und dargestellt werden konnte, der hier dem Abendland den größten räumlichen Zuwachs bis zum 13. Jahrhundert geschenkt hat. Man denke in diesem Zusammenhang allein an die scharfen Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und polnischen Geschichts-Wissenschaft über Einzelheiten wie auch die Gesamterscheinung der deutschen Ostkolonisation. Hier scheinen uns die größten Zukunftsaufgaben für eine wirklich abendländisch gesinnte Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung zu liegen.

Das historische Bild des Wiedergewinns der am Anfang des 8. Jahrhunderts an den Islam verlorenen Iberischen Halbinsel weist demgegenüber völlig andere Züge auf; es ist nicht von jenen nationalen Rivalitäten verzerrt und durchzogen, sondern seit jeher vom abendländischen Bewußtsein bestimmt gewesen. Kaum irgendwo sonst hat dieses stärker das Nationalgefühl durchtränkt als im Falle Spaniens. Das erklärt sich unschwer aus der historischen Lage. Die spanische Nation ist im Kampf und durch den Gegensatz gegen den Islam zu sich selbst gekommen. Sie ist sich aber zugleich dabei auch ihrer gesamtchristlichen Sendung bewußt geworden. Auf der iberischen Halbinsel gab es andererseits auch keine ernsthaften Ansprüche von Nachbarvölkern auf diese historische Mission, wie es am Ostsaum des Abendlandes bei dem slawisch-deutschen Gegensatz der Fall war und ist.

Wir können diese Wechselbeziehungen zwischen den fundamentalen Größen der abendländischen Welt — der Antike, dem Christentum, Germanentum und den später zu ihnen tretenden slawischen und magyarischen Völkern im Osten Europas — hier ebensowenig im einzelnen schildern wie die Stadien, in denen sich bis zum 13. Jahrhundert die Konstituierung der abendländischen Welt bis zur Grenze zwischen lateinischer und griechischer Christenheit vollzogen hat. Aber auf einen Punkt muß noch eingegangen werden: das Abendland hat Gestalt gewonnen, in dem es sich gegenüber dem Griechentum in Kirche und Politik während des frühen Mittelalters abschloß. Wie aber verhält es sich dann zur klassisch-antiken Kultur Griechenlands? Gehört sie nicht zu den von uns als besonders wesentlich empfundenen Bauelementen der abendländischen Überlieferung? Sicherlich, aber das Verhältnis zwischen Abendland und Hellas ist komplizierter als die Beziehung, die Rom mit dem Abendland verbindet. Das Abendland ruht unmittelbar auf dem lateinischen Fundament, zu Griechenland hingegen hat es nur ein indirektes Verhältnis. Das müssen wir uns als Deutsche immer ganz besonders klarmachen, weil es infolge der spezifischen geistesgeschichtlichen Entwicklung in Deutschland seit 150 Jahren nicht als selbstverständlich gilt. Nur soweit der altgrichische Geist in lateinische Form gegossen war, hat er zunähst als Komponente des werdenden Abendlandes eine Rolle gespielt. Es gab gewisse Teile der griehishen Kultur, die auf diesem Wege shon früh zu Elementen des abendländishen Geistes geworden waren. So war etwa die Gedankenwelt der Stoa durh Cicero und Seneca, platonishes Erbe über Augustin, einiges von Aristoteles noh in der späten Antike durh Boethius der aus lateinischer Wurzel erwahsenden Geisteskultur des Abendlandes vermittelt worden. Es waren aber nur dünne Ströme, die ihr so aus Hellas zuflossen. Homer blieb dem Mittelalter völlig fremd, von den griehishen Tragikern und der Fülle grichisher Philosophie ganz zu shweigen. Vergils Aeneis und die IV. Ecloge sind für die Kultur-gesinnung im Mittelalter entsheidend geworden und immer wieder gelesen worden, Ilias und Odyssee hingegen niht. Darum erhielt Vergil und niht Homer mit Reht den Ehrentitel „Vater des Abendlandes“. Aber in eben dem Augenblick, als dieses Abendland seinen räumlichen Rahmen auf dem Boden Europas endgültig gefunden hatte, also im 13. Jahrhundert, das die lateinische Mission der Finnen, Esten, Letten usw. zum Abshluß brahte, hat es eine neue gewaltige Expansion in der Zeit, in seiner eigenen geistigen Vergangenheit begonnen, die sich dann in drei großen Renaissance-Wellen vollzog. Durh sie ist das griehish-antike Erbe dem Abendland nahträglih zum Bewußtsein gebraht und seinem Wesen dann allerdings so unlösbar eingeshmolzen worden, daß sih auh die volle Größe hellenischer Tradition nun formend auswirken konnte. Das geshah zunähst mit der Rezeption des Aristoteles in der sogen. Renaissance des 12. und 13. Jahrhunderts; von ihr wurden damals Philosophie, Naturwissenshaften und Staatslehre auf das Tiefste ergriffen. Bekanntlih besteht die Leistung der sholastishen Philosophie darin, das einströmende Geistesgut der Antike mit der hristlihen Glaubensüberlieferung harmonish vershmolzen zu haben. Die zweite Welle, die griehish-antikes Erbe dem Abendland zuführte, war getragen von den Kräften des Humanismus. Wir vermögen heute kaum noh nahzuempfinden, was es bedeutete, als in knapp zwanzig Jahren, von 1483— 1502, Hesiod, Homer, Pindar, Aishylos, Euripides, Sophokles, Aristophanes, Thukydides und Platon zum ersten Male gedruckt wurden und durch diese auf einmal aus dem Dunkel der Handschriften und Bibliotheken ans Tageslicht tretenden Editionen geradezu ein Sturzfall hellenischen Geistes über das intellektuelle Leben des Abendlandes kam.

Schließlich fügte die für uns mit dem Namen Winkelmann und Goethe bezeichnete dritte Renaissance, die sich aber im deutschen Klassizismus nicht erschöpft, nicht allein die griechische Kunst in den Bildungsschatz des Abendlandes ein, sondern vertiefte das Verständnis von Literatur und Philosophie der Hellenen so wesentlich, daß das in Goethes „Iphigenie“ gespiegelte Ethos der sophokleischen „Antigone“ untrennbar von unserer Idee des Abendlandes geworden ist. Freilich, — bei diesen beiden jüngeren Renaissancen, der humanistischen und klassizistischen, ist die anverwandelnde Kraft der bereits vorhandenen Strukturelemcnte des Abendlandes nicht mehr so groß wie noch im Mittelalter. So ist das Bewußtsein abendländischer Einheit seitdem nicht mehr uneingeschränkt lebendig. Die notwendige Harmonie zwischen den konstitutiven Faktoren erscheint häufig gestört, indem bei den einen das lateinisch-hellenische Erbe, bei anderen die christliche Tradition, bei dritten dagegen der germanische Anteil und schließlich auch die Rolle der abendländischen Ost-völker entweder vergessen, geleugnet, bekämpft oder aber einseitig beleuchtet und überbewertet wird. Trotzdem besteht die abendländische Einheit weiter. Wir konstatieren diesen Tatbestand an einer Stelle, wo wir nach dem von uns Gesagten eigentlich ihre Zerstörung erwarten sollen. Wir erkannten: Das Abendland ist eine Größe, die aus religiös-geistiger Wurzel entstanden ist, von geistigen Kräften, die sich zu ihr bekennen, getragen wird und ihre Signatur von der all ihren Gliedern gemeinsamen Tradition empfängt. Die Kraft und Bedeutung dieser Tradition lassen sich daran abmessen, daß das Abendland, das sich seiner selbst an der religiös-kulturellen Entfremdung gegenüber der byzantinischen Welt bewußt geworden war, die weitere Spaltung der lateinischen Christenheit überstanden hat, ohne, wie einst das römische Imperium, in verschiedene sich einander wesensfremd gegenüberstehende Kulturkreise zu zerfallen. So gespalten es auch sein mag — ob die Abendländer heute nach Rom, Wittenberg, Genf oder Canterbury blicken, nichts trennt sie, die ihrem religiösen Bekenntnis nach in verschiedenen Lagern stehen, so tief, wie lateinische und byzantinische Welt voneinander getrennt waren und sind. Mag das mit dem Rückgang Zusammenhängen, der der Religion als bestimmender Lebensmacht seit dem Mittelalter beschieden war, so reicht diese Erklärung doch nicht aus. Das positive Element ist gewiß ebenso wichtig: daß sich über allen jenen Bekenntnissen die Kuppel gemeinsam verehrter und als Wert bewußter lateinischer, d. h. abendländischer Tradition wölbt, wenn auch Tönungsweise und Beleuchtung hier und dort verschieden sein mögen. So hat dieses Abendland auch die Kraft besessen, seit dem 16. Jahrhundert seine Werte hinaus in die Weite der Welt zu tragen. Sie sind so kräftig, daß sogar ihre Gegner sie heute nicht offen zu bekämpfen wagen, sondern sie denaturiert und pervertiert gleichsam als Masken vorbinden, hinter denen sie ihr un-abendländisches Wesen zu verstechen suchen.

Ziehen wir aus all diesen Tatsachen und Gedanken das Fazit, so erkennen wir: das „Abendland“ umschließt mehr als die romanisch-germanischen Völker; es ist aber enger als „Europa" im geographisch-politischen Sinn, hingegen weiter als das „Kleineuropa", dem zur Zeit allein die Bemühungen der Politiker gelten können. Vor allem umfaßt es in seinen geistig-kulturellen Elementen mehr als jenes „Europa", das dem säkularisierten Kulturbewußtsein seit der Renaissance entspricht. Was in dem Begriff „Christenheit“ wirklich lebendig war, ist in „Abendland“ eingegangen. Eine entsprechende Synthese zwischen „Abendland" und Europa" ist im Begriff sich zu vollziehen. Aus geistigen Voraussetzungen erwachsen, ist das Abendland eine auch von geistigen Grenzen bestimmte Welt, kein primär geographisch, wirtschaftlich oder politisch definierbares Gebilde. Es wird daher auch nicht durch den Willen einer politischen Macht geschaffen, und die Verwendung des Begriffes „Abendland“ im politischen Zusammenhang findet an dieser Tatsache ihre unverrückbare Schranke. Das Abendland wird gebildet zunächst durch die faktische Teilhabe der Völker an seiner Tradition und sodann durch das politische Selbstverständnis der Menschen, das sie zu dieser Tradition sich bekennen läßt. Wie im Mittelalter — keine romantische Verklärung darf uns darüber hinwegtäuschen — wird auch heute und sogar stärker als je zuvor eine zum Universalismus drängende Idee immer nur in schmerzlicher Spannung mit den Realien des politischen Lebens stehen können. Diese Spannung ist kein Unglück; sie verbürgt geistigen Reichtum und gewährt der Geschichte überhaupt erst die Dimension, die uns aus dem Vordergrund des diplomatischen Getriebes in tiefere Schichten blicken läßt. Geistige Größen bestehen nur dadurch, daß sich nicht allein Liebhaber sondern auch Bekenner für sie finden. Hier wartet die Aufgabe, die wir als uns gestellt erkennen, wenn wir am Ende unseres philologisch-begriffsgeschichtlichen Weges angelangt sind. Sie unterliegt nicht mehr der wissenschaftlichen Betrachtung, sondern ist als Forderung des Tages ein Gegenstand aktiven Handelns und persönlicher Entscheidung. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Clement R. Attlee „England und Amerika: Gemeinsame Ziele, verschiedene Wege"

Bernhard Brodie „Atomwaffen: Strategie oder Taktik?"

General Francisco Franco „Spanien und USA"

Sturm Kegel „Die Sonderheiten des rheinisch-westfälischen Industriegebietes"

Kurt Georg Kiesinger „Haben wir noch den Bürger? Die Problematik des Parteienstaates".

Bernard Lewis „Kommunismus und Islam"

Dr. Gerhard Lütkens „Die geistige und soziale Entfremdung zwischen Ost und West"

P .... „Zwischen Amerika und Rußland — aus indischer Sicht"

Prof.

Dr. Gerhard Ritter „Das Problem des Militarismus in Deutschland"

Dr.

von Thadden-Trieglaff „Der politische Auftrag der Protestanten in Europa"

Bertram D. Wolfe „Der Kampf um die Nachfolge in der Sowjetunion"

Eine Zusammenstellung der aktuellen politischen Literatur „Im Brennpunkt Zeitgeschichte"

Fussnoten

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