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Kommunismus und Islam | APuZ 10/1954 | bpb.de

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APuZ 10/1954 Kommunismus und Islam Deutsche Orientpolitik heute Siegt Atatürk über das Grab hinaus?

Kommunismus und Islam

Bernard Lewis

Ansprache von Professor Bernard Lewis vor dem Chatham House (Royal Institute of International Affairs). Mit Genehmigung des Verlages der englischen Zeitschrift „INTERNATIONAL AFFAIRS“ (Heft 1, Januar 1954) entnommen.

In diesem Artikel möchte ich untersuchen, in welchem Ausmaß Islam und Kommunismus vereinbar sind — d. h. in welchem Ausmaße diejenigen, die im Islam erzogen sind, innerlich bereit sind, die kommunistische Lehre anzunehmen oder sie zu verwerfen. Ich werde nicht den Versuch machen, Infiltration und Propaganda des Kommunismus in mohammedanischen Ländern oder den Grad seines Erfolges oder Versagens zu untersuchen — das ist ein Unterfangen, das andere Fachkenntnisse und Informationsquellen erfordert als die, die mir zur Verfügung stehen. Es ist vielmehr meine Absicht zu ergründen, welche Eigenschaften oder Neigungen im Islam, in der islamischen Kultur und Gesellschaft vorhanden sind, die das Vordringen des Kommunismus erleichtern oder auch verhindern könnten.

Zweifellos wird sofort der Einwand erhoben werden, daß der Islam eine auf Offenbarung beruhende Religion ist, und islamischer Glauben und marxistische Ideologie selbstverständlich unvereinbar sind. Das ist zweifellos richtig. Dasselbe könnte mit gleichem Recht vom orthodoxen, katholischen oder protestantischen Christentum oder Judentum oder von jeder anderen Religion, die diese Bezeichnung mit Recht trägt, gesagt werden. Nichtsdestoweniger hat die doktrinäre Unvereinbarkeit viele ehemalige Anhänger dieser Religionen doch nicht davon abgehalten, Kommunisten zu werden. Zweifellos wird der eifrige und fromme moslemische Theologe, der den tieferen Sinn des dialektischen Materialismus studiert und verstanden hat, ihn verwerfen, doch ist das Zusammentreffen solcher Umstände weder alltäglich noch von weitreichender Bedeutung. Die Frage sollte vielmehr so lauten: Welche Faktoren oder Eigenschaften setzt bei dem Kampf zwischen den westlichen Demokratien und dem sowjetischen Kommunismus um Einfluß auf die islamische Welt die islamische Tradition ein, und welche sind dem gegenwärtigen Stadium der islamischen Gesellschaft und Geisteshaltung eigen, die die geistig und politisch tätigen Gruppen veranlassen könnten, sich die kommunistischen Grundsätze und Regierungsmethoden zu eigen zu machen, und die übrigen, sie anzunehmen?

Bevor ich fortfahre, glaube ich, daß ein Verfasser, der über ein solches Thema schreibt, dem Leser eine Erklärung über seinen eigenen politischen Standpunkt schuldig ist. Ich gestehe gerade heraus, daß es mir an einer Qualifikation mangelt, die heutzutage für Autorität und Ansehen allgemein als unerläßlich erscheint — ich bin kein Ex-Kommunist. Ich kann jedoch als mildernde Umstände geltend machen, daß ich einer Generation angehöre, die tief von den Geschehnissen in Rußland berührt wurde, und die, ganz allgemein gesagt, fühlte, daß die russische Revolution trotz aller Brutalitäten und Verbrechen für die Menschheit etwas Wertvolles und Wesentliches darstellte — „wie ein Blitz in der Dämmerung““ — daher habe ich vielleicht ein gewisses Verständnis für die Anziehungskraft des kommunistischen Glaubens und für den Widerwillen gegen ihn. Zu meinem eigenen politischen Standpunkt möchte ich sagen, daß ich die parlamentarische Demokratie, wie sie im Westen geübt wird, mit all ihren offensichtlichen Fehlern für die beste und gerechteste Regierungsform halte, die je von Menschen erdacht wurde. Aber gleichzeitig halte ich ihr Funktionieren für außerordentlich schwierig, da sie gewisse Voraussetzungen an geistiger Verfassung und gesellschaftlicher Ordnung und Tradition, vielleicht sogar in der Frage des Klimas für eine wirkungsvolle Arbeit erfordert. Sie hat feste Wurzeln nur bei den Völkern am nördlichen und nordwestlichen Rande Europas und in den Überseegebieten geschlagen, die von Menschen europäischer Herkunft kolonisiert wurden. In einigen anderen Ländern führte oder führt sie immer noch ein recht unsicheres Dasein und in wieder anderen ist sie in einem zwar vielversprechenden, aber noch unentwickelten Wachstum begriffen — aber im übrigen ist sie dem Rest der Menschheit im größten Teil der Welt und während des größten Teils der Geschichte unbekannt.

Da ich mir also bewußt bin, daß die parlamentarische Demokratie weit davon entfernt ist, zur allgemeinen Lebenserfahrung der Menschheit zu gehören, so bin ich leider keineswegs sicher, daß sie den Menschen gewöhnlich bestimmt ist. Daher werde ich die so oft geübte Praxis zu vermeiden trachten, die zugleich ungenau und nicht ratsam ist, nämlich das Dilemma der Welt als eine einfache Wahl zwischen Kommunismus und parlamentarischer Demokratie darzustellen; und daher das Vorhandensein einer parlamentarischen Regierung zum allgemeinen Test politischer und selbst moralischer Tugenden zu machen — mit anderen Worten, unseren eigenen gegenwärtigen Lebensstil zum alleingültigen Vorbild zu erheben, und alle Abweichungen für zwangsläufig schlecht zu halten und alle Alternativen unterschiedslos als etwas Böses zu empfinden. Dieser allerdings nicht immer angewandte Grundsatz führt zu solch logi-scher und politischer Absurdität wie dem Buhlen um die Gunst von Sklaven besitzenden und polygam lebenden Autokraten auf einem anderen Kontinent, während gleichzeitig die Regierung Spaniens schroff abgelehnt wird — weil sie die bürgerliche Freiheit mißachtete. Unglücklicherweise aber bilden wir in der Geschichte und Geographie die Ausnahme, und nicht die Volksvertretung sondern die autoritäre Regierung entspricht am ehesten der allgemeinen Lebenserfahrung der Menschheit. Im größten Teil der Welt ist die Autokratie wenn auch weniger anziehend so doch vertrauter und verständlicher als die Demokratie, und selbst die willkürliche und unberechenbare Diktatur Moskaus ist für viele Menschen in Asien und Afrika — und selbst auch für viele in Europa — weder so fremd noch so abstoßend wie für uns. Sicherlich sollten wir alles daran setzen, die Entwicklung freier Institutionen zu ermutigen, wo immer dies möglich ist; aber gleichzeitig tun wir gut daran, uns zu erinnern, daß die parlamentarische Demokratie einem großen Teil der Menschheit vage, fremd und unverständlich bleibt, ein Gegenstand der Verwunderung, selbst sogar des Neides, öfter jedoch leider des Mißtrauens und Hasses, der, wie wir gestehen müssen, nicht ganz ungerechtfertigt ist, wenn wir an die Beispiele von Demokratie denken, nach denen allein sie sich ihr Urteil bilden können. Wenn dje islamischen Völker gezwungen werden, sich klar zu entscheiden, ob sie ihre eigene Tradition entweder zu Gunsten des Kommunismus oder des Parlamentarismus verlassen wollen, dann befinden wir uns in einem großen Nachteil.

Glücklicherweise für den Islam und für die westliche Welt ist die Wahl nicht nur auf diese beiden einfachen Alternativen beschränkt, denn den islamischen Völkern bleibt immer noch die Möglichkeit, ihre eigene Tradition in vielleicht abgewandelter Form wieder aufzubauen und eine Regierungsform zu entwickeln, die, wenn auch autoritär und vielleicht sogar autokratisch, doch weit entfernt ist von der zynischen Tyrannei der Diktaturen im europäischen Stil. Ich möchte nicht mißverstanden werden — ich würde es viel lieber sehen, wenn alle islamischen Völker in den vollen Genuß einer konstitutionellen Regierung, demokratischer Freiheiten und der freien Entwicklung der Einzelpersönlichkeit gelangen würden, und ich schließe keineswegs die Möglichkeit dieses wünschenswerten Zieles aus, das in einigen begünstigten Ländern schon in Sicht ist. Aber ich möchte meinen Standpunkt klarlegen, daß in einem weiten Teil der islamischen Welt keine Aussicht auf dieses Ziel besteht, und daß außerdem die gegenwärtigen Umstände und tatsächlich auch die alte Tradition des Islams unseren Bemühungen nicht sehr günstig sind. Sie enthalten ganz im Gegenteil viele Elemente, die die moslemische Einzel-persönlichkeit, die moslemischen Klassen oder Nationen, die bereit sind, die traditionellen Werte und Überzeugungen zu verlassen, veranlassen könnten, eher der kommunistischen als der demokratischen Alternative zu folgen.

Das anti-westliche Motiv

Inhalt

Ich schlage vor, einige der mir am wichtigsten erscheinenden Elemente auszuwählen und zu diskutieren, die den Erfolg des Kommunismus in der islamischen Welt begünstigten, und sich mit ihnen nach zwei Gesichtspunkten auseinanderzusetzen: zuerst mit den nebensächlichen Elementen, d. h. mit denjenigen, die Teil der gegenwärtigen geschichtlichen Situation sind, und dann mit den wesentlichen Elementen, d. h. mit denjenigen, die den islamischen Institutionen und Überzeugungen angeboren sind oder ihnen innewohnen.

Das erste und wichtigste nebensächliche Element ist das anti-westliche Motiv. Die Kommunisten sind gegen den Westen und können aus diesem Grunde sofort mit wesentlicher Unterstützung in der islamischen Welt rechnen, gerade so wie es die Nazis in ihrer Zeit taten — es handelte sich dabei weitgehend um das gleiche Motiv der Parteinahme und dieselben Gründe. Wie die Nazis sind auch die Kommunisten anti-westlich in doppeltem Sinne — sie sind gegen die Westmächte, und sie sind auch . gegen die westliche Lebensform, gegen die westlichen Institutionen und Ideen. Beide Male finden sie lebhaften Zuspruch. Die gegenwärtige antiwestliche Reaktion in der islamischen Welt ist offensichtlich und gut bekannt. Nach einer Zeit der Bewunderung und Nachahmung im neunzehnten und im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts macht sich jetzt eine allgemeine und wachsende Abneigung bemerkbar. Die allgemeine Aufmerksamkeit wurde in der Hauptsache auf eine ganze Reihe von spezifischen Anklagepunkten der islamischen Welt gegen den Westen konzentriert — Marokko und Tunis, Suez und der Sudan, Palästina, Abadan und die übrigen, von denen bcId der eine oder andere Punkt als Hauptursache für die anti-westliche Einstellung angeführt wurde. Im Westen gibt es immer Leute, die eigennützige Zwecke verfolgen oder ein Vorurteil schaffen wollen und daher den ganzen Verdruß den Untaten ihrer bevorzugten Sündenböcke zuschreiben — den Franzosen oder den Juden, den Amerikanern oder den Engländern — und immer wird ihnen irgendjemand im Orient zustimmen. Die Moslems betonen die Bedeutung einer besonderen Angelegenheit dem Grad ihrer eigenen Beteiligung entsprechend — der Maßstab der westlichen Welt hingegen richtet sich nach dem Grad ihrer Fähigkeit, sich aus den Angelegenheiten herauszuhalten. In Wirklichkeit sind dies alles nur Symptome oder Erscheinungen einer grundsätzlichen und allgemeinen Abkehr von allem, was westlich ist, und selbst die Beseitigung des einen oder anderen Mißstandes reicht, wie wir in letzter Zeit sahen, nur zu einer örtlichen und vorübergehenden Entspannung. Diese Bewegung setzt sich aus verschiedenen Einzelzügen zusammen, von denen ich die Reaktion gegen den Kolonialismus erwähnen möchte, die schneller anschwillt als der Kolonialgedanke stirbt; Reaktion gegen westliche Privilegien und Arroganz auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet; gegen die Verwirrungen und Umwälzungen, die eine Folge des Zusammenstoßes mit dem Westen sind, gegen die durch westlichen Einfluß und Aktivität verursachten Veränderungen, die keineswegs alle — wie wir uns gerne schmeicheln — segensreich sind.

Der Mann im Schiff

Die liberalen und konstitutionellen Bewegungen in den islamischen Ländern, die im neunzehnten Jahrhundert mit so großen Hoffnungen ins Leben gerufen wurden, erlitten mit wenigen Ausnahmen Schiffbruch, endeten in Enttäuschung und in Mißerfolgen. Die örtlichen Führer verfielen nur allzu oft einem Zynismus und Opportunismus, die das moralische Gefühl jener beleidigten, zu deren Führung sie sich berufen fühlten. Andere wieder suchten Trost in einem wilden fanatischen Fremdenhaß und verdammten unterschiedslos alles und jedes, was aus dem Westen kam. Sie waren der Ausdruck für den blinden Haß der Massen gegen die fremden und mächtigen Kräfte, die Verwirrung in ihre traditionellen Lebensgewohnheiten gebracht, ihr traditionelles soziales Gleichgewicht zerstört und neue Probleme gestellt hatten, auf die sie jedoch keine wirkungsvolle Antwort zu bieten hatten. Zweifellos ist es von den Moslems ungerecht, den Westen für die übermäßige und planlose Hast ihrer eigenen Reformer und für die Unzulänglichkeit und Selbstüberheblichkeit ihrer eigenen Parlamentarier zu tadeln. Aber wir müssen zugeben, dab die bisherigen Beziehungen des Westens zu der islamischen Weh und seiner internen Politik kein Material zu einer überzeugenden Widerlegung beisteuern.

Kommunistische Propaganda gegen den Westen wird daher immer williges Gehör finden, besonders wenn sie auf die anti-imperialistische Pauke schlägt. Uns dürfte es merkwürdig vorkommen, daß das Reich der Sowjets, das halb Europa noch nicht ganz verdaut hat, in der Lage sein sollte, erfolgreich als Beschützer der Rechte unterdrückter Völker gegen die Imperialisten aufzutreten — daß der Staat, der mit schwerer Hand über so viele moslemische Völker regiert, trotzdem fähig sein sollte, diese Stellung bei anderen moslemischen Völkern aufrecht zu erhalten. Aber es ist so. Für die meisten islamischen Völker ist die Bezeichnung „Imperialist“ — ich spreche hier natürlich von der volkstümlichen Vorstellung — festumrissen und in überraschender Weise festgelegt. Der Imperialist ist immer westlich — tatsächlich ist der Ausdruck „westlicher Imperialist eine ganz gewöhnliche und normale Wortfolge, wie German measles (Röteln) oder Spanish flu (Influenza). Der Araber, der gegen den Imperialismus Stellung nimmt, denkt keinen Augenblick daran, daß seine eigenen mutmaßlichen Ahnen, die ein Reich von den Pyrenäen bis zum Oxus eroberten, auch Imperialisten waren, noch denken die Perser daran, daß die gepriesenen Ruhmestaten von Cyrus und Darius nicht weniger imperialistisch waren. Selbst die modernen Japaner werden mit Ausnahme natürlich von ihren unmittelbaren Opfern als etwas anderes angesehen und . als grundsätzlich nicht zu den Böcken sondern als zu den Schafen gehörig betrachtet, als schwarze Schafe vielleicht, aber immer noch als Schafe. Der volkstümliche Prototyp des Imperialisten, das Vorbild für die zeitgenössische, politische Dämonenlehre im Orient, ist westlich und ist außerdem immer ein Seefahrer und Händler. Der Imperialist ist ein Mann in einem Schiff, der übers Meer kommt, an der Küste landet, kauft und verkauft, der seinen Weg ins Inland bahnt und der schließlich durch verschiedene, meist unehrliche Kunstgriffe sein Regiment aufrichtet.

Das ist natürlich nur ein Extrakt und in gewisser Weise eine Verzerrung der Verhältnisse während der Ausbreitung Portugals und der Niederlande, Frankreichs und Englands im sechszehnten Jahrhundert. Tatsächlich ist es die einzige direkte Erfahrung, die die meisten dieser Länder in den letzten Jahrhunderten mit dem Phänomen des Imperialismus gemacht haben. Für die andere Art, für die militärische auf dem Land-wege erfolgende Ausbreitung fehlt das richtige Verständnis mit Ausnahme wieder bei denjenigen, die damit direkt zu tun hatten. Die Türkei zum Beispiel kämpfte jahrhundertelang defensiv gegen das russische Vordringen zu Lande, zuerst über das Schwarze Meer, dann durch den Balkan und den Kaukasus. Die Türkei hat außerdem durch Sprache und Usprung Bindungen an die tartarischen Völker, die jetzt unter sowjetischem Joch leben. Daher wissen die Türken so gut über die Natur des sowjetischen Imperialismus Bescheid, und daher hat die Türkei zu den gegenwärtigen Weltproblemen eine so vollkommen anders geartete Haltung eingenommen. Nur einige Kreise im Rest der islamischen Welt dürften vielleicht den sowjetischen Imperialismus geistig fürchten, aber er ruft in ihnen keine wirkliche gefühlsmäßige Reaktion hervor. Es ist bemerkenswert, daß im allgemeinen die islamische Welt den alten moslemischen Zentren wie Bukhara und Samarkand nicht einmal ein Hundertstel des Interesses und der Aufmerksamkeit gönnt, die sie zum Beispiel für Casablanca, Ismailia und Abadan hat. Selbst die Moslems, die anti-kommunistisch sind, werden oft sagen — und viele von uns müssen es gehört haben — „Zumindest sind die Russen keine Imperialisten“ — und sie glauben wirklich, daß das sowjetische Regieme trotz anderer Fehler doch von dem besonderen Stigma frei ist, das die Westmächte ihnen so anrüchig macht.

Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß das westliche Rassenvorurteil den Russen sehr zu Hilfe kommt, da sie davon frei zu sein scheinen. Das ist für sie in Asien und Afrika von ungeheurem Wert, der ihnen mutwillig in die Hände gespielt wurde.

Die Kluft zwischen Reich und Arm

Das zweite nebensächliche Element, mit dem ich mich befassen möchte, ist die gegenwärtige Unzufriedenheit in der islamischen Welt, und im besonderen die Unzufriedenheit auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet. Das außerordentliche Elend der Massen und die gefühllose Verantwortungslosigkeit der besitzenden Klassen werden als Quellen möglicher Gefahren genannt. Es ist natürlich zwecklos, diejenigen vor Freiheit und Besitz zu warnen, die beides nicht besitzen; im Gegenteil werden kommunistisches Gedankengut und kommunistische Versprechungen eine große Anziehungskraft auf wesentliche Teile einer Gesellschaft ausüben, die, wie schon oft betont wurde, in vielem der russischen vor Ausbruch der Revolution ähnelt.

Dieser Punkt ist klar und wurde oft erörtert, und es ist daher nicht notwendig, daß ich bei ihm verweile. Drei Tatsachen möchte ich jedoch erwähnen, an die wir uns erinnern sollten, wenn wir von der seit jeher bestehenden Armut und der Verantwortungslosigkeit der Orients sprechen. Die erste Tatsache ist die, daß die Armut, wenigstens in ihrer gegenwärtigen Form, tatsächlich nicht seit jeher vorhanden war. Die Kluft zwischen arm und reich war sicherlich immer vorhanden, aber soweit wir es ermitteln können, war sie in früheren Zeiten nicht so groß und unüberbrückbar wie jetzt.

Die Kluft in ihrer gegenwärtigen Form ist das Ergebnis des Zusammenpralls mit der westlichen Welt. Die Reichen wurden dadurch noch reicher und die Armen noch ärmer, als sie zuvor waren. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Verwestlichung und der Berührung mit dem Westen sind ein komplexes Problem; ich möchte hier nur zwei seiner Seiten erwähnen. Die eine ist die größere Möglichkeit, dank westlicher industrieller, kommerzieller und finanzieller Methoden Güter anzuhäufen und das ständige Anwachsen von Vermögen in einer Größenordnung, die in älteren und einfachen Wirtschaftsformen unbekannt waren; die andere ist die durch westliche Hygiene und soziale Sicherheit geförderte schnelle Vermehrung der Bevölkerung, der aber kein entsprechender Nahrungsmittelzuwachs gegenübersteht.

Außerdem ist die Kluft zwischen reich und arm nicht nur größer als je zuvor sondern, was vielleicht noch mehr ins Gewicht fällt, auch sichtbarer dank der Einführung westlicher Annehmlichkeiten und dem Zustrom westlicher Konsumgüter, die viel mehr Gelegenheit für öffentlichen Prunk und Genuß bieten. An diesen Veränderungen ist nicht die böse Absicht, noch in größerem Maße die direkte Einmischung der westlichen Bewohner schuld; sie sind vielmehr die Auswirkungen der Berührung mit dem Westen, des westlichen Einflusses und der Verwestlichung ganz allgemein. Der Westen ist jetzt dabei, dem abzuhelfen, und er könnte noch viel mehr in dieser Richtung tun.

Die Rolle der Reformer

Ich sagte, daß weder die Armut des Orients in ihrer gegenwärtigen Form von jeher bestand noch etwa die Verantwortungslosigkeit der führenden Schichten. Vor dem Zusammenprall mit der westlichen Zivilisation von, sagen wir, Ende des achtzehnten Jahrhunderts an aufwärts, war die korporative, wenn auch veraltete Struktur der traditionellen islamischen Gesellschaft noch vorhanden, und das damit verbundene vielschichtige System sozialer und moralischer Pflichten war noch in voller Wirksamkeit. Die alte Gesellschaftsordnung wurde zerschlagen und zwar nicht durch mutwillige Imperialisten, sondern durch eingeborene Reformer, von Männern vom Schlage Mahmud II. in der Türkei und Muhammad Ali's in Ägypten, die mehr zerstörten als sie aufbauten. Was danach kam, ersetzte nicht die alten Bindungen. Dies ist die Ursache für die soziale und politische Formlosigkeit, die so vielen Betrachtungen der modernen islamischen gesellschaftlichen Schichtung ins Auge fiel, für das Fehlen jeglicher Bindungen, abgesehen von den rein persönlichen und familiären; denn die Familie ist die einzige noch lebendige soziale Einheit von tatsächlicher Bedeutung. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Nepotismus, den wir als unerfreuliche Last verdammen, für die Betroffenen eine Tugend ist, nämlich die Bindung an die Familie. Das Dahinschwinden des alten sozialen Ethos und der Zusammenbruch der alten sozialen Bindungen hinterließen ein gefährliches Vakuum, das die sozialen Ideale und Institutionen des Westens nicht zu füllen vermochte.

Drittens behaupte ich, daß nicht die hungernde Bauernschaft, wie oft behauptet wurde, der Gefahrenherd ist, sondern die fordernden Industriearbeiter, die dem Kommunismus die meisten Anwärter stellen. Die Bauern leben zum größten Teil noch innerhalb ihrer traditionellen Verbände und werden durch die Bindung an die Familie und durch ihren Zusammenhalt und die Dorfgemeinschaft getragen. Es sind die halb-gelernten oder ungelernten Arbeiter, die ihrer Stammes-oder Dorfgemeinschaft entrissen, der Unterstützung durch das gewohnte System sozialer Beziehungen und gegenseitiger Hilfe beraubt und in eine fremde und bindungslose Umwelt gestellt sind. Der verpflanzte Proletarier oder Arbeiter hofft in der kommunistischen Zelle nicht nur einen Ersatz für das verlorene soziale Rüstzeug zu finden sondern auch in seinen ehrgeizigen Wünschen und seinen Ressentiments bestärkt zu werden, die beide in ihm mit zunehmender beruflicher Geschicklichkeit wachsen.

Der autoritäre Zug in der politischen Tradition des Islam

Ich wende mich jetzt von den nebensächlichen zu den wichtigen Faktoren, die ihren Ursprung in islamischer Gesellschaft und Tradition und im islamischen Denken haben. Der erste Faktor ist der autoritäre, ja wir könnten vielleicht sogar sagen totalitäre Zug in der islamischen politischen Tradition. Heute ist es völlig klar, daß jede totalitäre Regierung den Ansatzpunkt für einen schnellen und leichten Übergang zu einer kommunistischen Diktatur in sich trägt, so anti-kommunistisch ihr Dogma auch gewesen sein mag. Die isolierten und von Gnaden Rußlands lebenden demokratischen Finnen haben es dennoch fertig gebracht, ihre demokratischen Freiheiten während langer und schwerer Jahre zu bewahren. Die mehr oder weniger faschistischen Regierungen Ost-und Zentraleuropas wurden schnell mittels einiger einfacher Berichtigungen in kommunistische Staaten umgeformt, wofür Apparat und Personal zur Unterdrückung zur Hand und die Menschen gewohnt waren, sich in ihr Schicksal zu ergeben. Politik und Tradition des Islams enthalten trotz ihrer Verschiedenheit von denen Osteuropas Elemente, die unter gewissen Umständen dem Kommunismus den Weg bereiten könnten.

Viele Versuche wurden gemacht, um zu beweisen, daß Islam und Demokratie identisch sind — die Versuche basierten gewöhnlich auf einem Mißverständnis des Islams oder der Demokratie oder beider. Diese Art Argumente befriedigt nur ein Bedürfnis entwurzelter, moslemischer Intellektueller, die kein Verständnis für die traditionellen islamischen Werte mehr haben oder die dazu nicht mehr fähig sind, und die nun versuchen, ihren ererbten Glauben in Form moderner Ideologie zu rechtfertigen oder vielmehr noch einmal klarzulegen. Es ist ein Beispiel für die romantische und apologetische Darstellung des Islams, eine bekannte Phase innerhalb der Reaktion moslemischen Denkens auf den Zusammenprall mit dem Westen. Natürlich gibt es im Islam Elemente, sogar wichtige Elemente, besonders in der frühen Periode, die wir mit einigem Recht demokratisch nennen könnten, doch ist ihre Tendenz, die gewöhnlich zur Unterstützung dieser These herangezogen wird, im ganzen gesehen eher nivellierend als demokratisch; das ist etwas ganz anderes und kann mindestens ebenso gut mit autoritären wie mit demokratischen Institutionen in Verbindung gebracht werden. Tatsächlich enthüllt die politische Geschichte des Islams, mit Ausnahme der ersten Kalifate, als der anarchistische Individualismus der arabischen Stämme noch wirksam war, eine fast ungeschwächte Autokratie. Ich sage Autokratie und nicht Despotismus, da der Souverän durch das Heilige Recht gebunden und ihm unterworfen war und vom Volke als rechtmäßiger Herrscher anerkannt wurde. Er schützte das Heilige Recht und wurde von ihm geschützt. Aber trotzdem war er autoritär, oft sogar willkürlich, manchmal tyrannisch. In der Geschichte des Islams gibt es keine Parlamente und Versammlungen von Volksvertretern, keine Räte oder Gemeinden, keine Kammer der Nobilität oder der Stände und keine Stadtverwaltungen; nichts wie die herrscherliche Macht, der der Untertan vollständigen und unerschütterlichen Gehorsam schuldete als einer vom Heiligen Recht auferlegten religiösen Pflicht. In der großen Zeit des klassischen Islams bestand diese Pflicht nur gegenüber dem rechtmäßig ernannten Kalifen als Gottes Stellvertreter auf Erden und als Haupt der theokratischen Gemeinschaft und dann auch nur so lange, wie er das Recht achtete; aber in den Zeiten des Niedergangs des Kalifats und der Entstehung militärischer Diktaturen glichen die moslemischen Rechtsgelehrten und Theologen ihre Lehre der veränderten Lage an und dehnten die religiöse Gehorsamspflicht auf jede bestehende Obrigkeit aus, gleichgültig wie frevlerisch oder barbarisch sie auch sei. Während der letzten tausend Jahre wurde das politische Denken von Maximen wie „Tyrannei ist besser als Anarchie" und „Dem Machthabenden ist Gehorsam zu leisten" beherrscht. Die klassische Formulierung für islamischen politischen Quietismus ist eine oft zitierte Stelle aus den Schriften des syrischen Rechtsgelehrten Ibn Jam’a, der oberster Kadi von Kairo wurde und im Jahre 1333 starb: /„Erzwungene Huldigung: Diese ist zu leisten, wenn ein Führer die Macht in einer Zeit innerer Unruhen an sich reißt, und es ist notwendig, ihn anzuerkennen, um weitere Unruhen zu vermeiden. Es ist ohne Belang, ob er herrscherliche Eigenschaften hat, ob er ungebildet, ungerecht oder lasterhaft, ob er selbst ein Sklave oder eine Frau ist. Er ist de facto ein Herrscher bis zu dem Zeitpunkt, wo ein anderer, stärkerer ihn vom Thron stößt und die Macht ergreift. Dieser wird nun mit gleichem Rechtsanspruch der Herrscher sein und sollte anerkannt werden, um den Hader nicht zu vergrößern. Wer die tatsächliche Macht in den Händen hält, hat Anspruch auf Gehorsam, denn selbst die schlechteste Regierung ist besser als Anarchie, und von zwei Übeln sollte man immer das geringere wählen."

Es ist klar, daß dies nicht die Worte eines Heuchlers oder Schmeichlers sind, der versucht, Karriere an einem autokratischen Hof zu machen. Es sind die Worte eines frommen und ergebenen Gläubigen, der eine unangenehme Wahrheit, wie er sie sieht, offen und traurig ausspricht. Man muß sich hierbei klar machen, daß der Verfasser ein Doktor des Heiligen Rechts ist und in der Form des Heiligen Rechts spricht. Wenn er Anerkennung und Gehorsam vorschreibt, so legt er damit die Pflicht eines Gläubigen nach dem Heiligen Recht fest, das heißt, er stellte eine Regel auf, deren Verletzung nach unseren Begriffen ebenso eine Sünde wie ein Verbrechen ist und Höllenstrafe oder Züchtigung nach sich zieht in einem Maße, wie sie der Herrscher in dieser Welt für angebracht hält. „Selbst ein Sklave oder eine Frau“ sagt Ibn Jam’a; nur etwas könnte noch schlimmer sein — ein Ungläubiger, und auch dieser Fall trat ein, als die Normannen das von den Moslems besetzte Sizilien eroberten. Ein moslemischer Rechtsgelehrter aus Mazara legte fest, daß selbst einem christlichen Herrscher Anerkennung und Gehorsam zu zollen seien unter der Voraussetzung, daß er gegenüber den Moslems religiöse Toleranz übt. Eine Gemeinschaft, die unter solchen Doktrinen lebt, wird sich nicht an der kommunistischen Mißachtung der politischen Freiheiten und der Menschenrechte stoßen; es könnte sogar sein, daß sie sich von einem Regime angezogen fühlt, das im Dienste der Sache grausame Macht und Tüchtigkeit — anstelle von Unfähigkeit, Bestechlichkeit und Zynismus — übt, die ihrer Meinung nach, man könnte auch sagen auf Grund ihrer Erfahrungen, untrennbar mit einer parlamentarischen Regierung verbunden sind.

Die „Stromgesellschaft"

Auch die kommunistische Lehre, daß der Staat das wirtschaftliche Leben lenken muß, ist dem Moslem nicht so fremd, wie man denkt — er ist vielmehr daran gewöhnt, vom Staat Leitung und Kontrolle gewisser zentraler Äußerungen des wirtschaftlichen Lebens zu erwarten. Die klassische islamische Gesellschaftsordnung wurde im Irak und in Ägypten entwickelt und zum alten Bilde der „Strom-Gesellschaft“ geformt. In den Ländern mit wenig Regen gab es eine intensive Landwirtschaft auf Grund künstlicher Bewässerungsanlagen, die vom Flusse ausgingen. Dies erforderte eine ganze Armee von Ingenieuren und Beamten, die von einer zentralen Behörde beschäftigt und gelenkt wurden, und deren Aufgabe es war, die ganze Anlage der Deiche, Dämme, Kanäle und anderer Bewässerungsarbeiten zu erhalten, deren Bestand allein das Wirtschaftsleben des Landes garantierten. Für dieses System war eine strenge zentrale Behörde eine unbedingte Notwendigkeit, und es gibt genug Beispiele für Verfall und Verarmung nach dem Zusammenbruch der zentralen Behörde in Zeiten politischer Schwäche und ständiger Vernachlässigung der Bewässerungsarbeiten. In Gegenden mit regelmäßigen und ausreichenden Regenfällen kann der Farmer wegen des Regens auf Gott vertrauen und sich sonst einer gewissen Unabhängigkeit erfreuen. Im Strom-Gesellschaftsverband muß er sich nach der zentralen Behörde richten, das Bewässerungssystem aufrechterhalten und sich um den Leben spendenden Strom kümmern, von dem er abhängt. In solchen Gemeinschaften finden wir jenen Typus einer Gesellschaftsordnung, den Wittfogel „die hydraulische Gesellschaftsordnung" nannte, wo Regierung und regierende Schichten in engster Beziehung zur Wasserversorgung für die Bewässerungsanlagen stehen. Ihre spezifischen Eigenschaften sind bekannt: eine fügsame und hilflose Bauernbevölkerung, die abhängig von der zentralisierten und bürokratischen Behörde ist, und eine regierende Klasse aus Beamten und Landbesitzern, die unangefochten und tatsächlich auch unanfechtbar die Kontrolle über die Quellen des wirtschaftlichen Lebens und damit der politischen Macht ausübt. Die gleiche Grundform der Gesellschaftsordnung herrscht in Ägypten und im Irak, in den Strom-tälern Indiens und Chinas und, könnte man vielleicht hinzufügen, in den Stromtälem Rußlands. Doch möchte ich nicht behaupten, daß die geschichtliche russische Gesellschaftsordnung in gleichem Sinne „hydraulisch“ ist; doch finden sich einige auffallende Ähnlichkeiten. Die traditionelle islamische Autokratie ruht auf drei Säulen: Auf der Bürokratie, der Armee und der religiösen Hierarchie — und ich darf hier im Vorübergehen an die kürzlich von Mr. Albert Hourani gemachte interessante Bemerkung erinnern, daß die jüngsten Veränderungen in Ägypten eine Rüdekehr zu dieser Ordnung bedeuten könnten. Innerhalb dieser Ordnung brauchte nur die dritte Säule, die religiöse Hierarchie, verändert werden, um den Weg für einen kommunistischen Staat zu bereiten.

Diese dritte Säule ist jedoch keineswegs unwichtig. Ganz offensichtlich unterscheidet sich das islamische Ulama wesentlich von der kommunistischen Partei. Doch finden wir bei näherer Prüfung einige unerfreuliche Ähnlichkeiten. Beide Gruppen lehren eine totalitäre Doktrin, die alle Fragen auf Himmel und Erden vollständig und endgültig beantwortet.

Die Antworten sind in jeder Beziehung verschieden, ähnlich sind sie sich nur in ihrer Endgültigkeit und Vollständigkeit und in der Gegensätzlich-keit zu den ewigen Fragen westlicher Menschen. Beide Gruppen vermitteln ihren Mitgliedern und Anhängern das angenehme Gefühl, einer Gemeinschaft von Gläubigen anzugehören, die immer recht haben im Gegensatz zu der außerhalb liegenden Welt der Ungläubigen, die immer Unrecht haben. Beide vermitteln das erhebende Gefühl, eine Mission, eine Idee zu erfüllen, einem Kollektivvorhaben anzugehören, um den historisch gar nicht aufzuhaltenden Sieg des wahren Glaubens über die ungläubigen Übeltäter zu beschleunigen. Zu der traditionellen islamischen Teilung der Welt in das . Haus des Islams" und das „Haus des Krieges", zwei sich zwangsläufig feindlich gegenüberstehende Gruppen, von denen die erste die Kollektivverpflichtung des fortgesetzten Kampfes gegen die zweite hat, gibt es in der kommunistischen Weltanschauung offensichtlich Parallelen. Auch hier ist der Glaubensinhalt verschieden, aber der aggressive Fanatismus ist dergleiche. Der Humorist, der den kommunistischen Glauben mit folgenden Worten charakterisierte: „Es gibt keinen Gott und Karl Marx ist sein Prophet" traf damit genau eine tatsächlich vorhandene Gemeinsamkeit. Der Ruf nach einem kommunistischen Jihad, einem Heiligen Glaubenskrieg — ein neuer Glauben, aber gegen den alten westlichen Feind — könnte wohl Widerhall finden.

Kollektivistische Tendenzen

Ich habe von den Kollektivverpflichtungen gesprochen. Auch hier liegt ein wichtiger Berührungspunkt zwischen Kommunismus und Islam, dessen kollektivistische Tendenzen vielen Beobachtern aufgefallen sind. Es ist viel über die unzähligen religiös-kommunistischen Sekten und Bewegungen geschrieben worden, die im ganzen Gebiet des Islams seit seinen Anfängen entstanden sind. Ich möchte hier eine Stelle aus einer fast zeitgenössischen arabischen Chronik zitieren, in der die Tätigkeit eines Predigers aus einer solchen Sekte im Irak in der Nachbarschaft von Kufa um die Mitte des neunten Jahrhunderts beschrieben wird. Wir hören, daß der Prediger, der die Bewohner einiger Dörfer zu seiner Lehre bekehrt hatte, ihnen ständig wachsende Steuern und Lasten und schließlich die Pflicht zur „Ulfa“ auferlegte: Diese bestand darin, daß sie alle ihre Güter an einer Stelle zusammentragen und sie gemeinsam genießen sollten, ohne daß jemand irgendwelches persönliches Eigentum, das ihm vor den anderen einen Vorteil verschafft hätte, behielt. Er versicherte ihnen, daß sie kein Eigentum brauchten, weil alles Land ihnen und niemand anderem gehörte. Er erzählte ihnen, daß dieses die Prüfung für jedermann sei, „so daß wir wissen, wie ihr euch verhalten werdet". Er forderte sie auf, Waffen zu kaufen und herzustellen. Der Prediger wählte aus jedem Dorf einen vertrauenswürdigen Mann aus, um das ganze Eigentum der Dorfbewohner wie Rinder, Schafe, Schmucksachen, Vorräte usw. zu sammeln. Fr bekleidete die Nackten und sorgte für ihre Bedürfnisse, so daß es keine Armen mehr gab noch Bedürftige oder Kranke. Jeder arbeitete mit Sorgfalt und Eifer an seiner Aufgabe, um sich durch den Erlös, den er beisteuerte, eine hohe Rangstufe zu verdienen. Die Frau brachte, was sie bei der Ernte verdiente, das Kind brachte den Lohn, den es für das Verscheuchen von Vögeln erhielt. Keiner nannte irgendetwas sein Eigen außer seinem Schwert und seinen Waffen.

Zweifellos ist es eine übertriebene Beschreibung vom Verhalten dieser Gruppen, aber es ist nicht untypisch. Und dies ist nur eine von vielen ähnlichen Bewegungen im Islam und auch in Persien lange vor dem Islam. Alle diese Bewegungen erlitten Schiffbruch und wurden von den Orthodoxen als Häresie verdammt, aber sie enthüllten doch die dem Islam innewohnende Neigung, solche Ideen und Gruppen zu bilden, und sie helfen auch, die sonst unverständlich bleibenden Beziehungen zwischen gewissen extremen, islamischen, religiösen Organisationen und dem Kommunismus zu erklären. Gerade in diesen Organisationen, in den volkstümlichen, halb geheimen, mystischen Bruderschaften von zweifelhafter Orthodoxie, von der regulären „Ulama" mit Mißtrauen betrachtet, entstanden gewöhnlich diese religiös-kommunistischen Tendenzen. Auch ist der Kollektivismus nicht etwa auf das beschränkt, was man das „volkstümliche Substrat“ des Islams nennen könnte. Es weist zu vielem im orthodoxen islamischen Leben und Gedankengut, in der Haltung gegenüber der Gesellschaft und Regierung, was ich schon erwähnte, und selbst zu der Literatur Unterschiede auf. Das klassische arabische Buch wird oft nicht als eine individuelle und persönliche Leistung des Autors sondern als ein Glied in der Kette der Tradition angesehen, wobei der Autor seine eigene Persönlichkeit hinter dem Prestige der Autorität und den Reihen der vorangegangenen Überlieferet verschwinden läßt. Viele der großen Werke arabischer Literatur sind eine ebenso unpersönliche und kollektive Arbeit wie die mittelalterlichen Kathedralen. Der kollektive Gedanke manifestiert sich vielleicht am klarsten in der moslemischen Idee vom „Vollkommenen Menschen" und dem „Vollkommenen Staat" als gegebene, unwandelbare und ewig gültige Vorbilder, denen alle theoretisch nacheifern sollen anstatt wie nach westlichem Ideal von innen her die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln.

Gefährliche Anziehungskraft des Kommunismus

Hier könnte man einwenden, daß all dies für jede andere Religion und nicht nur für den Islam gilt, und es auf nichts anderes hinausläuft, als daß der Kommunismus selbst eine Religion ist. Ich gebe zu, daß einige der von mir gemachten Vergleiche auch auf andere Religionen zutreffen, wenn auch keineswegs alle. Wenn sich diese Religionen die gleiche formende und bestimmende Macht über ihre Anhänger bewahrt haben, wie sie der Islam noch immer hat, so könnte der Einwand nach meiner Ansicht eine gewisse praktische Bedeutung haben. Aber ich kann mich nicht mit der Feststellung einverstanden erklären, daß der Kommunismus eine Religion ist, und nichts illustriert nach meiner Ansicht sinnfälliger den Verfall des Religionsbegriffes in unserer westlichen Welt als die Tatsache, daß solch ein Vergleich überhaupt gezogen wird. Zugegebenermaßen ist die Ähnlichkeit auf den ersten Blick verblüffend. Im Kommunismus finden wir, wie in den meisten Religionen, Ritual und Hierarchie, Offenbarung und Prophetie, Heilige Schrift und Exegese, Orthodoxie und Häresie, Exkommunikation und Verfolgung. Etwas von der tieferen seelischen Kraft des religiösen Glaubens scheint auch dem Kommunisten innezuwohnen. Trotz seiner materialistischen Auffassung kennt er Ziele, die jenseits seiner eigenen Interessen und eigenen Lebensdauer liegen. Er ist von evangelischem Eifer und messianischem Glauben durchdrungen. Gerade diese Eigenschaften verleihen dem Kommunismus seine besondere Stärke — die gefährliche Anziehungskraft, die er in so vielen orientalischen Ländern ausübt. Faschismus und Nazismus mit ihrem nackten Appell an Gier, Haß, Überheblichkeit und Neid kommen sich auf die Dauer nur an die schlechten Instinkte in den Menschen wenden und erfuhren dadurch ihre Begrenzung. Der Kommunismus schöpfte diese Möglichkeiten bis zur Neige aus, machte sich einige der vornehmsten menschlichen Ziele wie Frieden, soziale Gerechtigkeit, Brüderlichkeit der Menschen untereinander — zu Diensten und nutzte sie mit tödlicher W’rkung. Wir können weder den Kommunismus verstehen noch ihm begegnen, wenn wir uns nicht über seine Anziehungskraft auf die besten, wenn auch nicht auf die klügsten und zugleich auf die schlechtesten Geister klar sind.

Obgleich der Kommunismus vieles mit der Religion gemeinsam hat, so fehlen ihm doch die wichtigsten Eigenschaften. Ich möchte hier einen Abschnitt des dänischen Schriftstellers Wilhelm Grönbach zitieren, der sagt;

„Das schlimme ist, daß wir Religiosität mit Religion verwechseln. Gerade weil die Menschen auf eine so persönliche Art fromm sind, sind sie nicht fähig, eine Religion zu begreifen, die die Seele der Gemeinschaft, das Gegenstück zum praktischen Leben, eine lebendige und wirkliche Religion, die praktische Verbindung des Menschen zu Gott, Seele und Ewigkeit ist, die sich in Anbetung äußert und als Leben spendende Kraft im Politischen und Wirtschaftlichen, in der Kunst und im Handel, im Sittlichen und im Recht wirkt. In diesem Sinne hat der moderne Staat keine Religion".

In diesem Sinne könnte man sagen, ist der Kommunismus keine Religion und kann es auch nicht sein, während es der Islam für die große Masse der Gläubigen noch immer ist; und hier liegt auch das eigentliche Zentrum des islamischen Widerstandes gegen die kommunistische Idee. Obgleich ihr Glaube an die Freiheit zu schwach ist, um den kommunistischen Ideen Widerstand zu leisten, so vermag doch ihr Glaube an Gott stark genug zu sein. Die islamischen Völker sind immer noch tief religiös in der einfachsten und tiefsten Bedeutung des Wortes. Der Islam als Religion ist nicht anti-kommunistischer als das Christentum; eher sogar weni-

Fussnoten

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lehrte seit 1938 an der Schule für Orientalische und Afrikanische Studien, London, Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens und wurde 1949 für dieses Fachgebiet auf den Lehrstuhl der Universität London berufen. Er diente in der Armee seit 1940 und war einige Jahre Angehöriger des Auswärtigen Amtes. Sein bekanntestes Buch ist „The Arabs in History'(1950).