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Die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als unsere Aufgabe | APuZ 23/1954 | bpb.de

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APuZ 23/1954 Die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als unsere Aufgabe Der theologische Standort für eine evangelische Stellungnahme zum Europaproblem

Die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als unsere Aufgabe

Helmut Gollwitzer

Die Kenntnis des Ostens, auch des sowjetischen Ostens, ist sicher vielen von Ihnen mit mir gemeinsam. Viele werden mich — mindestens in der Kenntnis von Land und Volk — noch bei weitem übertreffen, und ich werde Ihnen dazu wenig sagen können. Die Auseinandersetzungen mit der dort herrschenden offiziellen Weltanschauung ist von mir aber aus Gründen meines Berufes in den Jahren, die ich dort zubringen mußte, intensiver betrieben worden, als manche von Ihnen das vielleicht damals getan haben. Das ist wohl auch der Grund, weswegen ich gebeten wurde, hier über die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als Teilaufgabe innerhalb der Verteidigung des Westens zu sprechen. Es wird Ihnen klar sein, daß für ein so beunruhigendes, aber auch bedeutendes Phänomen, wie es der Kommunismus ist, die eine Stunde, die ich jetzt zur Verfügung habe, nicht genügt, um in die Theorie des Kommunismus einigermaßen einzuführen.

Abbildung 1

Meine Achtung vor der geistigen Leistung, die diese Theorie nach meiner Meinung tatsächlich darstellt, kann ich jetzt nicht anders ausdrücken, als ich den Versuch, einen groben Katechismus dieser Theorie Ihnen zu liefern, nicht mache. Einiges, was über die Theorie des Kommunismus zu sagen ist, wird wenigstens teilweise erscheinen, wenn ich Ihnen begründe, warum überhaupt eine Auseinandersetzung mit diesem Phänomen, und zwar auch hinsichtlich seiner theoretischen und geistigen Seite, für diejenigen unerläßlich ist, die in verantwortlicher Weise an der Verteidigung des gesamten Westens, d. h.der noch nicht diesem System unterworfenen Welt, beteiligt sind.

Auseinandersetzung heißt Kenntnis, Prüfung und gegebenenfalls begründete Ablehnung Es ist nicht selbstverständlich, es ist vielleicht auch in unserem Kreise hier nicht unbestritten, daß eine solche Auseinandersetzung, die also umfaßt: Kenntnis und Prüfung und begründete Ablehnung, wirklich geboten ist, daß sie für den Soldaten, zumindestens doch für den führenden Soldaten, also für den Offizier, nützlich und heilsam ist, wenn feststeht, daß die Aufgabe hierbei in der Bewahrung vor diesem System besteht. Es könnte ja sein — ich würde es wohl verstehen — wenn jemand von Ihnen aufstehen und sagen würde: „Ohne eine solche Auseinandersetzung, ohne Kenntnis und Prüfung besonderer Gründe ist der Soldat sehr vjel mehr fit, sehr viel mehr geeignet, seine Sache, für die er hier im Westen steht, zu tun".

Von jenen Freikorpsleuten der Jahre 1918/19, die bei den innerdeutschen Unruhen gegen die Spartakisten in Berlin und im Ruhrgebiet zu Felde gezogen sind, sind vielleicht unter uns einige, die damals dabei waren. Diese Freikorpskämpfer haben sich sicher nicht ausgezeichnet durch eine vorhergegangene intensive Auseinandersetzung mit dem Marxismus, sondern gerade die Härte und Unbedenklichkeit, in der sie in der Lage waren, gegen die Spartakisten zuzuschlagen, hing damit zusammen, daß sie diese Spartakisten weithin für Untermenschen hielten, für Leute, die unsere Kultur zerstören wollten, und daß sie keine Ahnung hatten, was hinter dem Spartakismus als der damaligen radikalen Form des Marxismus immerhin schon an geistiger Arbeit und an ausgebauter Theorie steckte, ja, daß ein großer Teil jener spartakistischen Arbeiter — ich glaube, ich weiß was ich sage — viele jener Freikorpsleute einschließlich der Offiziere an wirklich politischer Bildung, an Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge dank ihrer marxistischen Schulung damals erheblich übertraf.

Ich hoffe, ich sage damit nicht etwas Anstößiges. Wir denken inzwischen über diese Dinge sehr viel unbefangener und wissen, daß der deutsche Arbeiter durch die Gewerkschaften wahrhaftig eine außeroi deutliche Schulung für die Erkenntnis politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge empfangen hat. — Jene Leute, die damals Karl Lieb-knecht und Rosa Luxemburg während jener Wirren in Berlin ermordeten, hatten ganz sicher keine Ahnung, daß sie etwa in Rosa Luxemburg eine der klügsten und edelsten Frauen der damaligen Zeit erschlagen haben. Diese Ignoranz des Bürgertums, des Militärs und der Kirche gegenüber dem Kommunismus hat diejenigen, die beauftragt waren, die spartakistischen Aufstände niederzuschlagen, sicher sehr viel ruhiger, härter und unbedenklicher in jenen Kämpfen gemacht. Die Problematik dieses Mangels an Auseinandersetzung wird aber schon deutlich, wenn ich Sie an die Gestalt des Hauptmanns Röhm erinnere, der uns allen noch mit seinem Ende am 30. Juni 1934 im Gedächtnis ist. Er wurde vom Richter beim Hitler-Prozeß im April 1924 nach dem Hitlerputsch gefragt, wogegen sich eigentlich sein Kampf gerichtete habe. Darauf antwortete er: „Gegen die Weimarer Verfassung". Als der Richter ihn fragte, ob er sie jemals gelesen habe, antwortete er: „Nein, nie; aber man hat mir gesagt, daß sie ein jüdisches Machwerk sei". Wenn Sie die Erinnerungen des bekannten Kampffliegers Assi Hahn aus seiner Gefangenschaft lesen, dann begegnen Sie gleich im Vorwort dem Satz: „Die Angehörigen des sogenannten . Nationalkomitees Freies Deutschland'sehe ich mit den Augen des Gegners“. Und das ganze Buch selbst — unter dem Titel „Ich sage die Wahrheit“ — ist ebenso ein Beweis, daß Hahn niemals auch nur im leisesten angefochten gewesen ist von dem Gedanken, es. könnte da auf der Seite seiner Gegner, des Nationalkomitees Freies Deutschland oder gar auf Seiten der Kommunisten irgend etwas sein, womit man sich auseinandersetzen müßte, was zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen sich überhaupt lohnen würde.

Ich führe diese drei Beispiele: die Freikorps 1919, Röhm und Hahn an zunächst einmal, um gerade zuzugeben: Jawohl, es geht auch ohne Auseinandersetzung! Und die Kampfkraft einer Truppe bis zum höheren Offizier hinauf muß dadurch nicht geschwächt werden. Im Gegenteil, sie kann sogar gestärkt werden, wenn der Soldat von denen, die ihm gegenüberstehen, nicht anderes weiß, als daß dies irgend welche andersartigen menschenähnlichen Untermenschen sind, auf die man nur schießen kann.

Warum aber ist diese Einstellung zwar möglich, aber verhängnisvoll?

Als erstes ein menschlicher Grund. So in der Sprache des Leutnants im Kasino zu sagen: „ ...setze ich mich gar nicht auseinander, ich sehe sie mit den Augen des Gegners", ist in der Maske der Stärke eine Äußerung der Feigheit. Wer so spricht, kann es nicht riskieren, sich in eine andere Auseinandersetzung überhaupt einzulassen. Es ist ganz sicher ein Ausdruck der Feigheit, auch der Borniertheit. Denn es konnte vielleicht noch der Freikorpsmann, der Freikorpsführer des Jahres 1919, als man es mit den Revolten einer radikalisierten und verelendeten Arbeiterschaft zu tun hatte, so unbedenklich in den Barrikadenkampf gehen, heute aber haben wir es nicht mit ein paar wildgewordenen Arbeiterhorden zu tun, sondern wir stehen in einer weltweiten Auseinandersetzung, in einem weltweiten Kampf, von dem wahrhaftig noch nicht entschieden ist, wie er ausgeht.

Der Kampf gegen den Kommunismus gleicht einem Religionskampf Ich bin oft von Kennern angegriffen worden, wenn ich den Finger darauf gelegt habe, daß der Bolschewismus nur als Religion ganz zu erfassen ist. Wenn man gegen diese These spricht, so hängt es natürlich davon ab, was man unterReligion versteht. Ganz sicher ist aber, daß in dem weiten Gebiet von der Elbe, von EisenachbisnachWladiwostockundnachSchanghai, jetzt die Weltanschauung des dialektischen Materialismus genau an der Stelle steht, an der früher die offiziellen Religionen in diesem Raum standen. Es ist auffallend und bezeichnend, daß wir oft in unserem geistigen Erfassen den lebendigen Entwicklungen nicht nachkommen. An den Universitäten bekommt der Studierende heute noch genaue Kenntnis über die asiatischen Hochreligionen Islam, Konfuzionismus und Buddhismus, während er nur ganz unzulänglich unterrichtet wird über die neue Religion, die dieses Gebiet beherrscht und der gegenüber die traditionellen Religionen, das Christentum ebenso wie die asiatischen Hochreligionen, auf alle Fälle in eine Krise gekommen sind; eine Krise, von der wir Christen zuversichtlich wissen, daß die christliche Gemeinde in ihr nicht untergehen wird; aber eine Krise, in der es sich erst noch herausstellen muß — die Ostasienkenner beobachten das gespannt — ob die traditionellen Hochreligionen sich in ihr noch behaupten können.

Es ist ganz sicher, daß die Offiziere und Unteroffiziere, so wie man sie sich jetzt — soviel ich weiß — auch in der Dienststelle Blank vorstellt, auf alle Fälle keine ungeistigen Wesen sein dürfen, sondern an der geistigen Entwicklung verantwortlich beteiligte Menschen, denen dieser ungeheure Kampf, dessen Zeugen, Mitakteure und Opfer wir sind, auf keinen Fall gleichgültig sein kann. Sie werden ihn geistig mit vollziehen müssen. Es ist ja keiner von uns davor gesichert, daß er immer auf dieser Seite der Front stehen bleiben wird, auf der er es sich leisten kann, sich der Auseinandersetzung zu entziehen. Es kann jedem von uns geschehen, wie es vielen von uns schon geschehen war, auch eines Tages wieder in den Machtbereich der neuen Religion hineinzugeraten und dadurch zur Auseinandersetzung mit ihr gezwungen zu werden, weil sie von allen Seiten uns umgibt. Wer dann ungerüstet ist, der gerade steht in Gefahr, ihr zum Opfer zu fallen. Gerüstet ist nur der, der die Auseinandersetzung schon vollzogen hat. Es ist interessant, wie man aus dürftigen Zeitungsmeldungen entnehmen kann, wie bei den Amerikanern sich das gleiche Problem jetzt mit der Rückkehr ihrer Kriegsgefangenen einstellt, unter denen — wie eine kürzliche Meldung besagte — eine beträchtliche Anzahl offenbar der kommunistischen Propaganda und Aufklärung, die in den nordkorea-nischen Kriegsgefangenenlagern betrieben wurde, zum Opfer gefallen ist. Unter den Briefen, die jetzt ausgeliefert wurden, sei kaum einer, heißt es, der nicht irgend welche Spuren dieser Propaganda an sich trägt. Wir wissen, in welch ungefestigtem geistigen Zustand die ameraknischen Truppen weithin in den Kampf gegangen sind. Das Ergebnis ist, daß sie dort drüben erst einmal geschickt gesagt bekommen — aber von der anderen Seite her —, worum der Kampf eigentlich geht.

Diejenigen von Ihnen, die in Rußland gefangen waren, die vielleicht dort in ihrem Lager in einem heftigen Kampf mit den Antifa-Anhängern standen, werden mir vielleicht doch zugeben, daß auch unter diesen Antifaschisten einige junge Menschen gewesen sind, für die der Kommunismus, den sie dort kennen lernten, die Befreiung aus einem völligen Nihilismus gewesen ist, die also eine wirklich ehrliche Bekehrung zum Kommunismus erfahren haben. Ich habe es bei einigen erlebt, denen dort, wo ihnen die gesellschaftlichen Zusammenhänge etwa für ein solches Phänomen, wie es der Nationalsozialismus war, aufgezeigt wurden, die Schuppen von den Augen fielen. Sie glaubten, nun zum ersten Male die Welt so zu sehen, wie sie ist, und zugleich einen Weg zu gehen, der sich lohnt, ein Ziel, für das zu kämpfen und zu opfern sich lohnt.

Das ist der zweite Grund, weswegen ich die Auseinandersetzung für so dringlich halte, nämlich daß nur durch sie die faszinierende Kraft des Kommunismus gebrochen werden kann. Der Kommunismus hat seine Faszinationskraft bei uns in Westdeutschland zum Glück weithin verloren. Er besitzt sie in den anderen Ländern noch, man denke nur an Frankreich und Italien. Die Kraft ist ihm aber noch so immanent, daß auch wir in Westdeutschland nicht davor geschützt sind, daß sie eines Tages bei uns wieder trotz der abschreckenden sowjetischen Wirklichkeit wirksam wird. Ich habe es gerade drüben bei allen jüngeren, ehrlich ringenden und suchenden Menschen erlebt, wie der Hinweis auf die eiende Lage des russischen Arbeiters, der Verweis auf die Bauemkaten, ja, auf die ganzen Zustände in Rußland, die wir kennen, keineswegs so abschreckend gewirkt hat, wie wir es für unausbleiblich gehalten haben. Warum? Ich glaube, das kommt daher, daß der Kommunismus eine rationale Theorie ist, die zugleich dank ihrer Zukunftgerichtetheit und ihrer Dynamik die Glaubensbedürfnisse des Menschen befriedigen kann. Das ist das Erstaunliche bei einer rationalen Theorie, die nur den Verstand zu befriedigen scheint. Der Nationalsozialismus hat dagegen eine irrationale Theorie gesetzt, die den Verstand in keiner Weise befriedigen konnte, die darum nicht in der Lage war, wie wir das in den Jahren vor 1945 schon erleben und beobachten konnten, in der jungen Generation die Begabtesten wirklich zu fesseln. Der Kommunismus ist eine rationale Theorie, die aber nicht nur den Verstand befriedigt, sondern zugleich auch dem Bedürfnis, sich opfern zu dürfen, und dem Bedürfnis des Glaubens ebenso Nahrung gibt wie dem Bedürfnis des Verstandes. „Line definition", sagt der bedeutende-französische kommunistische Schriftsteller J. R. Bloch, „capale de m'eclairer, de m'apaiser, de me contenter de moi meme“, d. h.der Kommunimus erklärt mir mich selbst, meine Stellung in dieser Zeit, in dieser Gesellschaft, meinen Sinn, meine Aufgabe; er gibt mir eine Definition von mir selbst, die geeignet ist, mich aufzuklären, mich zu beruhigen und mich zuversichtlich zu machen.

Einer der überzeugtesten Anhänger der kommunistischen Theorien in einem meiner Lager, der der revolutionären Gewerkschaftsorganisation vor 193 3 angehörte, sagte einmal in meiner Gegenwart zu einem jungen Antifa-Mitglied: „Das mußt Du Dir merken, der Mensch braucht eine Weltanschauung, auf der er absolut fußen kann, die ihm alles erklärt, die ihm Aufgaben stellt und die ihm innerlich völlige Ruhe gibt". — Er sagte hiermit dasselbe wie Bloch.

Inwiefern diese Theorie, die den Verstand so zu befriedigen scheint, die dem fragenden heutigen Menschen die Zusammenhänge so begreiflich macht, die ihm alles so zu erklären in der Lage ist und die über die Politik hinaus auch die Natur und die Weltgeschichte erschöpfend zu erklären in der Lage zu sein scheint, inwiefern diese Theorie ihren Haken hat, inwiefern sie „une terrible simplification“, eine schreckliche Vereinfachung, ist, und inwiefern diese Theorie einfach nicht stimmt und deswegen immer wieder modifiziert werden muß, um dem andersartigen Gang der Ereignisse angepaßt zu werden, das sieht man erst wirklich, wenn man sich mit ihr auseinandersetzt.

Zunächst hat sie etwas so Bestechendes, weil eben so Erklärendes, wie ich es von keiner der mit ihr konkurrierenden Theorien sagen könnte, und gegenüber dem Nationalsozialismus eben darin die Stärke, daß sie auch dem Verstand entspricht und ihn befriedigt, die der Nationalsozialismus mit seinem Mystizismus nicht hatte. An ihrem Anfang stehen Marx und Engels. Mindestens von Marx würde ich sagen: Einer der großen Denker des 19. Jahrhunderts; ein Mann, der — um sein Ziel und seine Aktfon zu begründen — selbst eine erhebliche wissenschaftliche Leistung vollbracht hat, die heute von der weitergehenden wissenschaft-liehen Forschung an vielen Stellen durchlöchert und widerlegt wird, die aber doch ungeheure Anregung nach allen Seiten gegeben hat. Deshalb steht — das ist ein wichtiger Unterschied zum Nationalsozialismus — am Anfang des Kommunismus mit dieser großen geistigen Leistung von Marx auch eine ganz andere Achtung vor dem Geist, als sie dem Nationalsozialismus eigen war. Dort die Verachtung der „Intelligenzbestien''usw., während im Marxismus von Marx an der Intellektuelle immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Für den, der sich von uns noch daran erinnern kann, war es wichtig zu sehen, wie dieser Marxismus das Bildungsstreben des deutschen Arbeiters jahrzehntelang angesprochen und auch befriedigt hat. Ich war während unsererDiskussionen vor 1933 in manchen Arbeiter-wohnungen, in denen die drei Bände des „KAPITAL“ von Karl Marx nicht nur im Bücherschrank standen, sondern, wenn man sie aufschlug, sah man an Unterstreichungen und Fremdwörtererklärungen, wie ihre Besitzer sich bemüht hatten, in diese schwierige Materie wirklich einzudringen. Diese Achtung vor dem Geist hält sich im Kommunismus immerhin bis zum heutigen Tag, selbst in seiner stalinistischen, d. h. faschistischen Entartung, sofern man auch von Stalin, der in Wahrheit kein großer Theoretiker war, verlangt hat, er müsse ebenso das große theoretische Schulhaupt des Kommunismus sein, — eine Lage, die für Malenkow peinlich werden kann. Man kann nicht kommunistischer Führer sein ohne zugleich theoretisches Schulhaupt zu sein. Das Durchdenken der Dinge steht also dort an einem ganz anderen Ort als in den faschistischen Bewegungen, weshalb von Marx und Engels an der Kommunismus immer mit großem Selbstbewußtsein für sich in Anspruch genommen hat, er verwalte das Erbe des europäischen Geistes. Das klingt demjenigen grotesk, der im Kommunismus nur eine untermenschliche Aufstandsbewegung gesehen hat. Aber wer sich eben auseinandergesetzt hat mit ihm, der weiß, daß dieser Anspruch zwar nicht zuzugeben ist, daß er wohl aber seine bestimmten Gründe hat.

Der Kommunismus betrachtet sich als Erbe von Kant und Hegel Damit komme ich zu einem dritten Grund, der die Auseinandersetzung dringlich macht. Ich sagte, sie bezeichnen sich als die Verwalter des Erbes des europäischen und des deutschen Geistes. In der sozialistischen Arbeiterbewegung, so konnte Engels sagen, setzt sich die große deutsche idealistische Philosophie fort, die das Bürgertum hat fallen lassen. „Wir sind die Erben von Kant und Hegel!“ Das hat eine gewisse Berechtigung. Es hat natürlich keine Berechtigung, wenn es exklusiv verstanden wird, als seien sie die einzigen oder die einzig legitimen Erben. Aber es hat eine gewisse Berechtigung insofern, als der Versuch der großen deutschen idealistischen Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, die ganze Welt in ein System des Denkens zu fassen und zu erklären, seine Fortsetzung in dem großen Versuch von Marx und Engels mit dem dialektischen Materialismus gefunden hat. Dieses System erklärt uns alles, es hilft uns, die Dinge zu durchschauen, und hilft uns, für uns selbst den Platz zu finden, an dem zu stehen und sich einzusetzen sich lohnt.

Jemand, der in die Geschichte des deutschen Idealismus ebenfalls hineingehört, der Theologe Schleiermacher, hat einmal gesagt: „Die Kraft des Irrtums ist die Wahrheit", ein Satz, .der sich einem bestätigt, wenn man viel in Auseinandersetzungen geistiger Art beschäftigt sein muß. Es gibt auf Erden keinen Irrtum, der nicht irgendeine Wahrheit enthielte. Eine Sache, die ganz falsch ist, die nur Irrtum ist, hat keine Aussicht, Menschen für sich zu gewinnen. Das Moment an Wahrheit, das auch einen großen Irrtum enthält, ist die Lokomotive, die auch eine ganz falsche, böse Bewegung in Gang halten kann. Sie alle haben sich im Laufe ihres Lebens verschiedenen Bewegungen schon geöffnet, von denen Sie dann wieder abgerückt sind. Wenn Sie nachträglich überprüfen, was Sie dort angezogen hat, werden Sie vielleicht sagen: „Ein falsches Denken von mir, eine falsche Einstellung hat mich zu einem Glied dieser Bewegung gemacht“. Aber Sie werden zugleich — ich erinnere an diejenigen, die sich dem Nationalsozialismus angeschlossen hatten — sagen: „es war irgendeine Wahrheit dabei, und die hat mich bestochen".

Auseinandersetzung mit dem Marxismus heißt Kritik im Sinne des griechischen Wortes „krinein", d. h. unterscheiden. Wer sich dieser Auseinandersetzung entzieht, der vermag nicht zu unterscheiden, was hier wahr und was falsch ist. Und deshalb steht er entweder in der Gefahr, irgendwann einmal der Faszinationskraft dieser Sache doch zu erliegen, und zwar dann, wenn sie ihn umgibt. Oder er steht in der Gefahr, da« Kind mit dem Bade auszuschütten. Ein früherer Theologe der Universität Bonn, der vor drei Jahren starb, Hans Emil Weber, hat einmal den ausgezeichneten Satz geprägt:

Rechte Polemik heißt, die Wahrheit im Irrtum des Gegners freizumachen Darum ist die Einstellung von Assi Hahn so beschränkt: „Ich sehe sie mit den Augen des Gegners", weil man den Gegner eigentlich noch gar nicht entkräftet hat, solange man seinem Positivum nur ein Negativum entgegengesetzt hat; weil man den Gegner noch nicht entkräftet bat, solange man einfach „nein“ zu ihm sagt. Man hat dem Gegner aber die Kraft (und das ist die bessere Weise des Kampfes) entzogen, wenn man das Moment an Wahrheit, das auch in seiner Sache war, erkannt und herausgelöst hat, so daß dann nur noch der Irrtum bei ihm übrig bleibt.

In dieser positiv-kritischen Auseinandersetzung mit der Frage: „Was ist denn nun eigentlich Wahres an der ganzen Sache, das kann doch nicht alles falsch sein?“, sind wir nun seit vielen Jahrzehnten. Es läßt sich dabei einiges anführen, was uns heute sozialpolitisch selbstverständlich ist. Es wird keinen Verständigen unter uns geben, der wieder die Gewerkschaften wegwünschen würde, obwohl diese uns Sorgen machen, genau wie die Unternehmerverbände. Wegwünschen kann man sie nicht, weil sie ein wichtiges Moment im Gefüge der heutigen Gesellschaft sind, dessen Wegfall Unordnung schaffen würde. Es gibt keinen unter uns, der Sozialversicherung und Sozialleistungen wieder wegwünschen würde, der den Achtstundentag und die Tarifordnungen wegwünschen könnte. Das alles aber sind Ziele gewesen, die unsere bürgerlichen Vorfahren vor hundert Jahren als Belastung empfunden haben. Es ist im Marxismus in der Erkenntnis der Entwicklungsgesetze des Kapitalismus, in der schonungslosen Diagnose unserer Zeit soviel einzelnes Wahres, es hat sich auch soviel durchgesetzt, daß es nur borniert ist, etwa heute im Zuge der amerikanischen Hexenjagd nun auch einzelne Professoren zu durchleuchten, wieweit sie marxistische Gedanken ausgenommen haben. Ich könnte keinen Historiker, Sozialökonomen, Sozialpolitiker, aber auch keinen Pädagogen ernst nehmen, der nicht in irgendeiner Weise auch marxistische Gedanken in sein Denken ausgenommen hätte.

Darum heißt Auseinandersetzung unterscheiden, was wahr und was falsch an der Sache ist. Das gilt vor allem für Marx, der in der Hierarchie der kommunistischen Kirchenväter am Anfang steht und dessen Bild im Kommunismus freilich immer blasser wird, so daß er dort immer mehr nur „mit Auswahl“ genossen werden darf. In der Ostzone bekommt man Marx's „KAPITAL“ schon nicht mehr im Buchhandel, sondern nur noch über Parteistellen. Er ist auf den Index gesetzt. Aber auch Lenins Schriften sind — das wird man heute wohl sagen müssen — trotz ihrer Schwächen und Fehler unentbehrlich für jeden, der den Sinn der großen Krise des 20. Jahrhunderts verstehen will.

Nun noch einen weiteren Grund, der sehr wichtig ist. Kritik heißt — wer in der Zone gelebt hat, weiß es — auch Selbstkritik. Die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ist aus selbstkritischen Gründen für uns wichtig.

Der Kommunismus ist die Quittung für unser Versäumnis Ein deutliches Beispiel, das die abendländische Welt hat aufschrecken lassen, ist China. Stellen Sie sich die Weltlage vor, wenn wir heute nicht ein kommunistisches China hätten, wieviel leichter wir atmen würden, lind warum haben wir ein kommunistisches China? Wir hätten es wahrhaftig nicht haben müssen. China ist das Ergebnis einer versäumten S o z i a 1 r e f o r m ! Wir sind heute in Westdeutschland in einer auffallenden Weise besser dran, soviel besser, daß in weiten Kreisen, die 1945/46 sehr bereit waren, sich positiv zu einer umfassenden Boden-und Sozialreform zu steilen, heute schon wieder die Meinung sich verbreitet, wir könnten uns das ersparen, wir kämen auch ohne sie aus. Wenn durch eine Entspannung, durch einen Abbau des kalten Krieges, den wir erhoffen, für den allerdings die Anzeichen vorerst noch sehr mager sind, die westliche Welt in eine wirtschaftliche Krise gerät, dann kann unsere gegenwärtige westdeutsche Sozialordnung sehr problematisch werden, weil sie im Zeichen der Konjunktur zwar ganz ordentlich zu funktionieren scheint, aber kaum geeignet ist, Zeiten der Krise aufzufangen. Die Frage also, ob auch wir nicht zur Zeit in einer Periode des Versäumens drinstehen, die sich eines Tages bitter rächen kann, wird sich uns ernsthaft stellen müssen.

Der Kommunismus ist als geistiges Ergebnis eine Frucht der Aufklärung Georg Lukacs, einer der bedeutendsten kommunistischen Schriftsteller, Ungar, einer der wenigen geistig selbständigen Marxisten unserer Tage, konnte einmal in Genf auf einer internationalen Tagung sagen: Der Kommunismus ist das Erbe des europäischen Geistes deshalb, weil er die drei Glaubenssätze der Aufklärung, die das Bürgertum hat fallen lassen, weiter hochhält: erstens den Glauben an die Vernunft, zweitens den Glauben an den Fortschritt und drittens den Glauben an die Wissenschaft. Ich weiß nicht, wieviele von Ihnen diesen Glauben noch haben. Ich bin überzeugt, daß es zur geistigen Aufgabe unserer Zeit gehört, das echte Erbe der Aufklärung zu bewahren und die Dogmen und Illusionen und Glaubenssätze der Aufklärung zu überwinden, also: die wissenschaftliche Redlichkeit zu bewahren, aber nicht mehr an die Wissenschaft zu glauben; nach Fortschritt zu suchen, aber nicht mehr an den Fortschritt zu glauben, wirklich vernünftig zu sein, aber nicht mehr an die Vernunft zu glauben. Es herrscht aber unter uns noch viel von diesen Illusionen der Aufklärung.

Ich erinnere mich an Lagergespräche in Rußland mit einem Arzt. Er wa; ein guter Mediziner, zugleich wie noch viele unserer Mediziner vollkommener Naturalist und Materialist. Er lehnte den Kommunismus schroff ab. Oft genug mußte ich ihn fragen: „Was unterscheidet dich eigentlich wirklich vom Kommunismus? Denn in deiner Auffassung vom Menschen, daß der Mensch nichts ist als ein Stück Materie, daß es keinen Ewigkeitssinn für die menschliche Existenz gibt, stimmst du mit dem Kommunismus überein".

Solange wir diese grundsätzliche gleiche Basis des Naturalismus und des Materialismus, die weit bei uns verbreitet ist, nicht verlassen haben, entsteht daraus immer wieder Nihilismus. Und dieser Nihilismus läßt ein starkes Glaubensbedürfnis entstehen, weil der Mensch nicht lang im Nihilismus existieren kann. Darum wird dieser Weg vom Naturalismus zum Nihilismus in irgendeiner „braunen“ Form oder sonstigen Form immer wieder gegangen werden, solange wir nicht diese gemeinsame Basis, die der Kommunismus mit dem Westen hat, diese drei Glaubens-sätze der Aufklärung, überwunden haben, was m. E. nur durch ein neues Verhältnis zur Botschaft des Christentums möglich ist.

Wer unbefangen den Gang der Entwicklung von Marx und Engels zu Stalin und Malenkow sieht, der wird nicht leugnen können, daß gerade in den Schriften des jungen Marx, die heute wieder viel gelesen werden, eine ganz echte humanistische Empörung sich ausspricht über die Ungerechtigkeit der Verhältnisse, daß es sich also hierbei um einen humanitären Ansatz handelt und um einen Aufbruch zur Befreiung des Menschen. Lind am Ende steht das schlimmste Sklavensystem, das wir in der europäischen Geschichte kennen.

Belehrung daraus für uns (nicht nur etwa über den Kommunismus, sondern über das 20. Jahrhundert!): daß im 20. Jahrhundert keine Idee vor diesem Entartungsgang, den uns der Kommunismus vorexerziert hat, geschützt ist und daß die totalitäre Entartung im 20. Jahrhundert überall droht, — so daß man deswegen ja nicht glauben darf, wenn eine Idee gut sei, dann sei das Ganze schon in Ordnung. Unsere heute oft geführte Unterhaltung, was am Nationalsozialismus gut und was schlecht gewesen sei, ist m. E. — man kann sie führen, kann auch einiges Nützliche daraus gewinnen — gegenstandslos, wenn wir uns darüber nicht klar sind. Der Nationalsozialismus als Idee kann so gut gewesen sein, wie er will. Sofern er antrat als Massenbewegung mit Führerprinzip, mußte er im 20 Jahrhundert so entarten, wie er entartet ist. Der Marxismus könnte in seinen Anfängen so gut gewesen sein, wie er will. Aber sobald er mit Lenin antrat als Elite-Organisation von Berufsrevolutionären, die sich die absolute Führung anmaßten, mußte er den Weg zur Entartung und zur unaufhaltsamen persönlichen Diktatur Stalins gehen. .

Unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts: Masse, Technik und Nihilismus, die ein so ungeheures Glaubensbedürfnis entfachen, muß jede solcher Bewegungen in Totalitarismus enden, so daß es also für die westliche Verteidigung entscheidend wichtig ist, Kontrollen und Hindernisse gegen eine totalitäre Entartung überall einzubauen und sich darüber klar zu sein, daß der Totalitarismus uns nicht mehr nur von Ruß-land droht, sondern daß er begründet ist in allen gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen des 20. Jahrhunderts, daß er darum überall entstehen und ausbrechen kann.

Einer meiner besten Freunde aus der Gefangenschaft, der noch in Rußland ist, sagte zu mir, wenn er mich mit einem Lenin-Band auf der Pr‘ sehe liegen sah: „Das ist typisch deutsch. Sie setzen sich mit der Theorie auseinander, — hat doch gar keinen Zweck. Die Theorie ist doch lediglich Fassade. Die, die droben sitzen, sind reine Zyniker. Sie modeln die Theorie, je nachdem, wie sie es für den Selbstzweck ihrer Macht gerade brauchen. Diese theoretische Auseinandersetzung ist eine Gefahr, wir müssen uns rein politisch auseinandersetzen''.

Ich konnte ihn am Schluß doch überzeugen, daß die theoretische Auseinandersetzung nicht unterlassen werden dürfe. Als Beispiel diene Roosevelt. Hätte Roosevelt — ich wage diese These — sich die Lektüre von Lenins und Stalins Schriften nicht erspart, sondern sie wirklich gelesen, so hätte er nie auf den Gedanken kommen können, daß der „good old Joe" — im Gegensatz zu all denen, mit denen man sich auf der Basis von Menschenliebe und Vernunft finden kann — von seinen Theorien abrücken würde; sondern er hätte gewußt, welche Zielsetzung und welche Theorie ihm hier in der Gestalt Stalins gegenübersaß; es wäre dann vieles nicht geschehen, worunter wir heute leiden. Man kann natürlich fragen, ob die Herren im Kreml wirklich an ihre Ideen glauben, wieviel sie selbst von dieser offiziellen Religion glauben, die sie jedem Angehörigen ihrer Völker vom Kindergarten an eintrichtern lassen. Aber einmal schon hat die nationalsozialistische Epoche uns gezeigt, daß in diesen totalitären Systemen die führenden Leute doch in viel größerem Maße glauben, was sie sagen, als wir es für möglich gehalten hätten. Mir jedenfalls war gerade das an Görings und Göbbels Aufzeichnungen, soweit diese bekannt sind, erstaunlich zu sehen, daß viele Sätze, von denen ich während des Krieges geschworen hätte, daß man so etwas nur Dummen erzählte, von ihnen tatsächlich geglaubt wurden.

Das alles könnte Ihnen vielleicht noch nicht Argument genug sein. Aber, was wichtiger ist, es besteht ein wirklicher Unterschied zwischen den rein faschistischen Bewegungen und der kommunistischen Bewegung, von der ich zwar sagte, daß sie unter Stalin faschistisch geworden ist, aber in der sich die Bedeutung der Theorie doch immer noch hält. Dieser Unterschied liegt z. T. darin, daß die Männer die dazu stehen, gebunden sind durch die Überzeugungskraft der Theorie. Ich habe gerade vor einigen Tagen eine Biographie des Meisterspions Sorge gelesen, der Ihnen wahrscheinlich ein Begriff ist, und der eine weltgeschichtliche Rolle in diesem Krieg gespielt hat. Er ist eben nicht durch irgendwelche Rausch-zustände, wie NS-Versammlungen sie hervorrufen konnten, sondern er ist alr junger suchender Student durch eifrige Lektüre der marxistischen Literatur zu seiner Überzeugung gekommen, ebenso wie etwa Z a i s s e r , der einer der fähigsten Kommunisten in der Ostzone war. Sie alle sind durch geistiges Suchen zu ihren Überzeugungen gekommen, und diese Überzeugungen waren ihnen dann die feste Basis, die sie ihr Leben lang nicht verlassen haben. — Ich glaube, daß wird man immer im Auge behalten müssen bei der Frage, ob die Führenden wohl an das glauben, was sie sagen. Die Theorie kann manche Abwandlungen erfahren. Es kann viel geschehen, was der Theorie widerspricht. Gerade Stalin hat sich darin viel geleistet; aber Zielsetzung und Weltbild der Theorie werden festgehalten und beherrschen auch die Führung. Bei der Frage, ob die Führer des Weltkommunismus wirklich an ihre Ideen glauben, wird leicht verkannt, daß es ein Unterschied ist, an Ideale oder an Ideologien zu glauben. Man hat nicht den Eindruck, daß jene Männer Philanthropen sind, deren Handeln dem Ideal der Gerechtigkeit, der Liebe zu den Menschen entspringt. Warum sind sie denn so fanatische Kämpfer für ihre Ideologie? Ein gescheiter Kamerad, der in der Gefangenschaft zum Kommunisten geworden war und jetzt am Ostberliner Sender tätig ist, antwortete mir einmal auf die Frage, warum er eigentlich Kommunist sei, da es für ihn doch keine ewigen sittlichen Werte gebe und da er, wie sein Handeln zeigte, für die wirklichen Menschen um ihn her nicht viel übrig habe: „Ich bin Kommunist, weil dies die einzige Richtung ist, in der ich richtig liege, d. h. in der ich auf der Seite der Zukunft stehe und die Zukunft für mich habe“. „Eine bessere Zukunft?" fragte ich ihn. Er antwortete: „Sicher! Die Zukunft ist immer besser als die Vergangenheit; aber, selbst wenn sie es nicht wäre, wollte ich nirgends anders stehen; ich will nicht für eine vergangene und hoffnungslose Sache kämpfen!“

Das also muß klar sein: Wir werden den Kommunismus dann erfolgreich abwehren können, wenn wir entschlossen wollen, daß die Zukunft nicht so aussieht, wie er sie gestalten will, und wenn wir fest überzeugt sind, daß die Zukunft nicht zwangsläufig so aussehen muß, wie der Kommunismus sie sieht. Was der Kommunismus für einen Zukunftsweg hält, ist in Wirklichkeit ein Weg in die Barbarei. So wahrGott derHerr der Welt und der Weltgeschichte ist und die Zukunft in seinen Händen liegt, so wahr ist die Barbarei nicht das unvermeidliche Schicksal der Menschheit. Man muß sich aber mit der Zukunftsvorstellung und dem Weltbild des Kommunismus vertraut machen, um sich einigermaßen vorstellen zu können, von welchen Leitgedanken das Handeln der kommunistischen Führer beherrscht wird. Sie teilen nicht mehr den Humanismus des jungen Marx. Sie glauben nicht an Ideale, aber an ein vom Kommunismus entworfenes Welt-und Zukunftsbild, von dem ihre Handlungen getragen sind:

Das Weltbild des Kommunismus 1. Der Kapitalismus ist das Absterbende und der Kommunismus beherrscht die Zukunft.

2. Zwischen kapitalistischer und kommunistischer Welt kann es keine wirkliche Versöhnung geben.

?. Der Weg zum Endsieg des Kommunismus ist spannungsreich und ein Weg auf Umwegen, durchzogen von großen sogenannten revolutionären Intervallen, während derer revolutionäre Aktionen unterlassen werden müssen.

Hätte Roosevelt sich diese Dinge vor Augen gehalten, er hätte mit dem „good old Joe“ vorsichtiger verkehrt. Das bedeutet negativ, daß man sich allen Annäherungsversuchen und Friedensgesten des Kreml gegenüber keinen Illusionen hingeben darf. Sie sind von dessen Weltbild beherrscht. Das bedeutet aber auch positiv, daß der Satz von der Unversöhnlichkeit nicht bedeuten muß, daß zwischen dem Kreml und der westlichen Welt nicht Geschäfte und lange Friedensperioden möglich sind. Man wird die Theorie studieren müssen, um ermessen zu können, was jeweils den Handelnden im Kreml von ihrer Theorie her erlaubt und geboten und geraten ist.

Schließlich bietet ein letztes Argument der Blick auf Mitteldeutschland, auf das Gebiet der Sowjetzone, die sogenannte Deutsche Demokratische Republik. Ich weiß nicht, ob Sie soviel Gelegenheit hatten wie ich, in den letzten Jahren immer wieder mit einer großen Menge von Menschen aus der Ostzone, gerade auch mit jungen Menschen, zusammen zu sein. Wenn ja, dann werden Sie mir die folgende Beobachtung bestätigen: Der größte Teil der dortigen Bevölkerung und auch ein großer Teil der dortigen Jugend steht konsequent ablehnend zum SED-Regime; trotzdem kann das nicht verhindern, daß die ständige Propaganda, unter der die Bevölkerung steht, allmählich auch das Denken derjenigen, die das Regime ablehnen, formt. Man sieht das schon an der Terminologie, in der sie sprechen. In ihrer Sprache finden sich ganz andere Begriffe als in unserer

Sprache, eben Begriffe, die jedem bekannt sind, der seit Jahren die Welt des Kommunismus einigermaßen kennt. Aber der Zusammenhang von Denken und Sprache kann nicht eng genug von uns gesehen werden. „Sage mir, wie Du sprichst, und ich sage Dir, wie Du denkst". Gerade wer unbewußt bestimmte Begriffe in sein Denken aufnimmt, dem prägen diese Begriffe dann auch sein Denken. Wir werden die großen Aufgaben, die der Tag X, der Tag der Wiedervereinigung — auf den zu hoffen und auf den hinzuarbeiten doch keiner von uns unterlassen kann — uns stellt, und zwar die geistigen, sozialpolitischen, gesellschaftlichen, wirtschaftspolitischen und pädagogischen Aufgaben nur bewältigen können, wenn wir wenigstens durch unsere eigene Auseinandersetzung diejenige, in der die da drüben ständig stehen, über den Eisernen Vorhang hinweg mit vollziehen. Wenn uns das bekannt bleibt, womit die drüben es täglich zu tun haben, dann tragen wir zu unserem Teil bei, die schreckliche Entfremdung des Auseinanderlebens unserer beiden Volksteile zu verhindern, damit wir nach dem Tag X überhaupt die Sprache, in der drüben gesprochen wird, noch verstehen und dann das Notwendige tun können, sic allmählich wieder hereinzubekommen, zu assimilieren; ja, nicht nur zu assimilieren, sondern auch von ihren Erfahrungen zu lernen.

Erlauben Sie mir, dafür drei Momente zu nennen, die ich immer wieder in den Gesprächen mit meinen Freunden in der Zone drüben durch-spüre, wenn wir uns irgendwo sehen können und über die Fragen sprechen, die am Tage X auf uns zukommen werden. Meine Freunde drüben geben mir auf meine Frage „Was werdet Ihr mitbringen? Werdet Ihr nur die Immunität gegen den Kommunismus mitbringen als die gebrannten Kinder, die Ihr seid, und die wissen, daß sie diesem System auf den Grund geschaut haben?“ ein Jawohl zur Antwort: das brächten sie allerdings mit. Sie werden die große Ernüchterung der mitteldeutschen Arbeiterschaft mitbringen. Aber sie sagen weiter, sie werden auch noch einiges andere mitbringen. Sie haben einmal vom Kommunismus etwas gelernt, was für uns Deutsche sehr wichtig ist zu lernen, nämlich eine nüchterne Betrachtung der geschichtlichen Wirklichkeiten und Entwicklungen. In wessen Brust jemals das Wort vom Reich und vom Führer ein Feuer der Begeisterung entzündet hatte, der weiß, was ich meine, wenn ich sage, daß uns Deutschen eine Mystifikation, mit der wir uns die nüchterne Analyse der wirklichen Interessen und Kräfte, um die es gerade geht, erspart haben, immer wieder zum Verhängnis zu werden droht.

Der „HISTORISCHE MATERIALISMUS“ von Karl Marx, wenn man ihn nicht als ein Dogma nimmt wie die Kommunisten, ist eine gute Anleitung, hinter all dem Schwall und Nebel von Idealen nüchtern einmal zu fragen, „wer hat ein Interesse daran, um welche realen Kräfte und Interessen geht es?“ Die Ernüchterung des politischen Denkens also werden sie mitbringen.

Zweitens, so sagen sie, werden wir ein Ethos der Gemeinschaft mitbringen. Der Stalinismus ist ein Verrat am Kommunismus, sofern als er gerade an die egoistischen Kräfte im Menschen apelliert. Und trotzdem, das ist immer doppelgesichtig im Kommunismus, bleibt noch ein Rest von der alten kommunistischen Idee, die Form der Brigade bei der Arbeit, das Team in der wissenschaftlichen und Universitätsarbeit, die Frage, die sich an jeden einzelnen richtet: „Verstehst du dich als ein nützliches Glied der Gemeinschaft, oder geht es dir nur um dich?“ Das alles ist — wenigstens in der Propaganda — da drüben noch auffallend lebendig, während wir bei uns doch mit größter Sorge sehen, wie der Zusammenbruch Deutschlands auch den letzten Rest von Staatsbewußtsein zunächst hat verschwinden lassen und in unserer Jugend der Gedanke, daß man nicht nur für sich, sondern auch für die Gemeinschaft da sein soll, nur sehr schwer Verständnis findet, weil sie zur Zeit kein Ganzes sieht, für das sie eigentlich da sein soll. Das ist die schwere Aufgabe, vor derSie gerade jetzt stehen .'Sie werden also weiter mitbringen die dringliche Frage an den einzelnen Menschen, ob er sich als Glied der Gemeinschaft oder nur als Knecht seiner privaten Interessen versteht.

Und drittens: Wir bringen — sagen sie — die Erkenntnis der Dringlichkeit der sozialen Frage mit und die Erkenntnis, daß für deren Lösung nicht nur „human relations", nicht nur eine gewisse Besserung des menschlichen Klimas genügt; also, daß die soziale Frage nicht nur durch menschliche persönliche Anstrengungen geregelt werden kann, sondern daß durchgreifende allgemeine Maßnahmen, die vielleicht tief in die

Fussnoten

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